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Wer noch kein Grau gedacht hat. (eBook)

Eine Farbenlehre
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
286 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77237-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wer noch kein Grau gedacht hat. -  Peter Sloterdijk
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Solange man kein Grau gemalt habe, sagte Paul Cézanne einmal, sei man kein Maler. Wenn Peter Sloterdijk diesen Satz auf die Philosophie überträgt, mag dies wie eine maßlose Provokation klingen. Warum sollten Philosophen eine einzelne Farbe denken, anstatt sich mit Ethik, Metaphysik oder Logik zu beschäftigen?

»Ist Lebenskunst nicht mehr als ein leicht gesagtes Wort für die schwer zu erwerbende Disziplin der Grauzonenkunde?«, fragt Peter Sloterdijk und folgt dem grauen Faden durch die Philosophie-, Kunst- und Mentalitätsgeschichte. Er befasst sich mit der Rotvergrauung der Deutschen Demokratischen Republik, mit Graustufenphotographie und lebensfeindlichen Landschaften in der Literatur. Indem er das Grau als Metapher, als Stimmungsindikator und als Anzeige politisch-moralischer Zweideutigkeit erkundet, liefert er eine Vielzahl bestechender Belege für die titelgebende These.



<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel <em>Strukturalismus als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel <em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</em>. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch <em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman <em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>

1. Das Ge-gräu: Platons Höhlenlicht, Hegels Dämmerung, Heideggers Nebel


»Solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph.« Naturgemäß bedeutet es einen Unterschied, ob man dergleichen bei einer metropolitanen Vernissage äußert oder im Eröffnungsvortrag eines Philosophenkongresses in Cambridge. Im ersten Fall darf man das zustimmende Lächeln der Nicht-Betroffenen in Rechnung stellen. Mit Genugtuung nähmen die amüsierten Galeriebesucher wahr, wie andere Leute hier an Maßstäben gemessen werden, denen diese wohl nicht genügen. Tant pis pour eux. Die Anwesenden verstehen mit einem Mal, das Glas Prosecco in der Hand, warum ihnen die Lehren der meisten sogenannten Philosophen, tot oder am Leben, seit je wenig bedeuten wollten. Beim Anblick der Rücken ihrer Bücher braucht niemand mehr ein schlechtes Gewissen zu haben. Grau ist der sie bedeckende Staub, der ihnen inneren Wert und Aktualität abspricht, und dies, wie man erfährt, zu Recht, da die Verfasser das Grau nicht gedacht haben.

Die Anwesenden räumen ein, daß einige Plein-Air-Denker unter den Philosophen die Ausnahmen bildeten. Nietzsche wußte, worum es ging, als er vor den Gedanken warnte, die nicht beim Gehen im Freien konzipiert wurden. Wenn Merleau-Ponty die »glückselige Welt der Dinge und ihren Gott, die Sonne«,[15]  beschwor, war auch er wohl auf einem guten Weg. Ebenso Rilke, als er sich vor dem archaischen Torso Apolls unter den Antiken des Louvre von einer Stimme aus altgrauem Stein angerufen fühlte: »Du mußt dein Leben ändern«; Rilke freilich, wurde er auch von einem Denker wie Heidegger respektvoll zitiert, war weniger Philosoph als ein Sänger unaussprechlicher Schwingungen.

Immerhin, auch leicht dahingesprochene Worte bewirken gelegentlich folgenreiche Dinge. Aus dem herablassenden Lächeln entsteht für diesmal die Kontur einer Einsicht: Die Bewerber zur philosophischen Fakultät hätten, um zu werden, wie ihr Metier von ihnen fordert, sich – um auf Cézanne zu hören – vor dem Mont Sainte-Victoire niederlassen sollen, um dem Vortrag des Bergs über das Flimmern des provenzalischen Lichts, die Nuancen farbigen Graus und das massive Dastehen des felsigen An-sich in hellichter Entzogenheit zu folgen.

Auf einem Philosophenkongreß vorgebracht, dürfte die These, erst der Grau-Gedanke mache den Philosophen, wirken wie die Axt, die das Eis des Konsensus spaltet. Als unerläutertes Behauptungsereignis hingestellt, ist sie, bevor Rechtfertigungen ihr zu Hilfe kommen, von unmittelbarer Absurdität – gehörlähmend und wie von allen vernünftigen Verbindungen abgeschnitten. Die Einigkeit, im Wesentlichen uneinig zu sein, ohne welche solche Synoden nicht zustande kämen, müßte nach dem Ertönen der These binnen weniger Sekunden zerfallen. Einige würden meinen, eine ausgeklügelte Provokation gehört zu haben, und quasi souverän in sich hineinlachen; andere, heftiger irritiert, rollten das Programmheft zur Tagung so nervös zusammen, daß Anhänger von Konrad Lorenz Gelegenheit erhielten, die Theorie der Übersprunghandlungen an einer nicht-alltäglichen Personengruppe zu überprüfen. Beobachter neo-pawlowscher Schule fänden ihre Vermutung bestätigt, bei Angehörigen von Reflexionsberufen seien die bedingten Reflexe besonders robust ausgeprägt, ja bis zur Vorhersagbarkeit eingeschliffen.

Angesichts der Exzessivität des Satzes über das Grau als wesentliche Denkaufgabe für Philosophen sortiert sich das Publikum spontan entlang einer Unterscheidung, die sich wie eine selbstwahrmachende Anwendung von Fichtes Lehrsatz bewährt, wonach, was für eine Philosophie man wähle, davon abhänge, was für ein Mensch man sei. Fichtes Unterscheidung zwischen den Liebhabern der Freiheit und den Deterministen, die sich in allem auf die äußeren Umstände hinausreden, kleidet sich für diesmal in den Gegensatz zwischen Leuten, die eher frontal zu reagieren gewohnt sind, und denen, die sich im lateralen Denken üben. Die Gruppe der Frontalisten setzt sich zusammen aus Hörern, die sich in allen diskutablen Fragen zum sic et non bekennen. Sie sehen in der intentio recta den jederzeit gebotenen Stil redlichen Argumentierens. Im aktuellen Fall äußerte sich dies dadurch, daß sie, minimal höflich, wie britisch geschulte Debattierer zu sein pflegen, zu dem Urteil kommen, sie hätten Nonsense vernommen, zudem solchen, von dem sich beim besten Willen nicht sagen lasse, er sei elegant. Ihre Diskursethik schreibt vor, dem Unsinn keine Chance zu geben. Die vorgebrachte These sei so abwegig, daß auf sie das Prädikat not even wrong anzuwenden sei.

Die Gruppe der Lateralisten umfaßt die historisch und psychologisch geschulten Gelehrten, für die es bezeichnend ist, in gedanklichen wie in praktischen Dingen der intentio obliqua den Vorzug einzuräumen. Ihnen erscheint es weniger wichtig zu untersuchen, ob etwas Gesagtes richtig ist, als vielmehr wie ein Sprecher dazu komme, es zu sagen. Erfahrung bestätigt ihnen, keine Irrlehre sei je vom Himmel gefallen und jedes noch so erratische Satzereignis sei irgendwie interdiskursiv und subsymbolisch vernetzt. Seit Vernetzungen den Begründungen den Rang ablaufen, ist es ratsam, in der Abwegigkeit eine Anderswegigkeit zu vermuten. Dank lateraler Logik kann jedes noch so verirrte Schaf mit der sinnträchtigen Herde vermittelt werden. Kein Irrtum muß ungeheilt und einsam bleiben. Für die der Obliquität Verpflichteten scheint es naheliegend, in der Vita des Referenten nachzuschauen, ob er vielleicht in jüngerer Zeit zum Dadaismus oder über Synästhesien publiziert hat. Verdient der Unsinn auch keine Unterstützung, hat er doch Umfeld und vielleicht Methode.

Der Redner selbst, wie wird er sich aus der Affäre ziehen? »Solange man das Grau noch nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph.« Wer eine solche These im Angesicht einer Versammlung von Leuten ausspricht, die auf den Vorwurf, sie hätten das Grau im Denken versäumt, unmöglich gefaßt sein konnten, löst fürs erste seine jähe Vereinsamung aus. Du hast das Nichtwissen, das Nichtkönnen und das Nichtwollen in diversen Fronten des Unbehagens dir gegenüber. Während die eine Fraktion im Saal dir ihre Verachtung offeriert, hat die andere ein Therapieangebot für dich in petto, eine dritte denkt, du solltest das Fach wechseln. Vielleicht fällt dir rechtzeitig jene Figur in Christian Friedrich Grabbes Stück Herzog Theodor von Gothland (1822) ein, die in aussichtsloser Situation den Ausspruch tut: »und nichts als nur die Verzweiflung kann uns retten«.

Angesichts der manifesten Verlegenheit läßt sich die Insistenz auf der Behauptung, es sei das gedachte Grau, das den Philosophen mache, nur aufrechterhalten, indem man eine überbrückende Alternative aufstellt: Entweder hat man sich in den Philosophen, bei denen sich zum Grau nichts findet, getäuscht und sie mit halber Arbeit davonkommen lassen; oder sie müssen sich, weil sie und insofern sie Philosophen waren, zum Grau geäußert haben – wobei man einzuräumen hätte, dies könne bei ihnen zunächst nur indirekt und implizit geschehen sein. Von der Forderung, der Grau-Gedanke müsse in ihren Denkspielen schon mitgewirkt haben, darf man nicht abrücken, wenn auch der ausgesprochene Begriff bei den Betroffenen fehlte. Diese Konzession schließt die Forderung ein, es müsse manchen Problemgebieten und Sachgehalten relevanter Konzepte von heute ein virtuelles Vorleben, ein Verharren im Sinnschatten älterer Wörter zugesprochen werden, wenn auch die Klarbegriffe oft erst später zum Dasein erwachten.

Um eines der eminentesten Exempel aufzugreifen: Es kann ja nicht sein, daß die im modernen Schlüsselthema »Subjektivität« verhandelten Sachverhalte – Sokrates zum Trotz – über weit mehr als zweitausend Jahre gänzlich inexistent gewesen wären, obgleich erweisbar ist, Experten der Ideengeschichte bestätigen es, daß sie erstmals in Fichtes Bemühungen um die Klärung seiner »ursprünglichen Einsicht« nach 1794 unvergeßlich deutlich ausgesprochen wurden; nicht ohne Grund hat der Gründer der Neuen Phänomenologie, Hermann Schmitz (1928-2021), neben Heidegger der größte, wenn auch weithin unbekannt gebliebene Denker des 20. Jahrhunderts auf deutschem Boden, Fichte einen »Schicksalsmann« genannt. Das Zugeständnis einer »Präexistenz« von Problemen in der Latenz wird durch ein schwaches, doch subtil wirkungsvolles logisches und stoffliches Kontinuitäts- und Verträglichkeitsmotiv...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
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ISBN-10 3-518-77237-6 / 3518772376
ISBN-13 978-3-518-77237-9 / 9783518772379
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