Krankheitsscham - die verborgene Emotion (Leben Lernen, Bd. 330) (eBook)
196 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11872-8 (ISBN)
Waltraut Barnowski-Geiser, Dr. sc. mus., ist Musiktherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie arbeitet seit vielen Jahren im Bereich der familiären Suchtbelastung. Als Lehrende und Therapeutin ist sie vor allem in Schulen, Hochschulen, therapeutischen Ausbildungsgängen und in freier Praxis in Erkelenz tätig. Zum Blog von Waltraut Barnowski-Geiser: https://barnowski-geiser.de/index.php/category/blog/
Waltraut Barnowski-Geiser, Dr. sc. mus., ist Musiktherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie arbeitet seit vielen Jahren im Bereich der familiären Suchtbelastung. Als Lehrende und Therapeutin ist sie vor allem in Schulen, Hochschulen, therapeutischen Ausbildungsgängen und in freier Praxis in Erkelenz tätig. Zum Blog von Waltraut Barnowski-Geiser: https://barnowski-geiser.de/index.php/category/blog/
Einstimmung
Manchmal werde ich gefragt, an welchem Buch ich gerade schreibe. Wenn ich antworte: »An einem Buch über Krankheitsscham«, verändert sich oft die Atmosphäre, es wird ein wenig »komisch« zwischen mir und meinem Gegenüber. Es scheint sich etwas schwer Greifbares zwischen uns zu schieben. Peinlichkeit, Leere beschwert plötzlich den Raum, macht seltsam stumm. Menschen senken ihren Blick, schauen weg, atmen schneller. Einige fragen noch einmal nach, etwa so: »Echt, Krankheitsscham? Oh Gott!«, und bemühen sich, schnell zu einem anderen Thema zu wechseln. Da ich inzwischen um diese Resonanzen weiß, antworte ich manchmal auf die Frage allgemeiner und formuliere, dass ich an einem Buch über Krankheit und Emotionen schreibe. Dann beginnt teils ein reger Dialog, in den Erzählungen und Erfahrungen der Menschen einfließen.
Krankheitsscham, so scheint es, ist für viele Menschen ein heikles Thema. Dies verwundert nicht: Wenn Menschen schwer, chronisch oder auch unerklärlich erkranken, geht dies meist mit Not einher. Wenn sich zur Krankheit die Scham gesellt, spielen wir im Team mit einem unguten Duo existenziellen Betroffen-Seins. Krankheitsscham, wie ich sie nennen möchte, ist weit verbreitet und wenig erkannt. In meiner Praxis treffe ich wiederholt Menschen, die sich für ihre Krankheit schämen. Dies ist aber selten der Anmeldegrund zu ihrer Therapie. Scham über die eigene Erkrankung ist eine Emotion, die im Verborgenen ihre Fäden zieht. Manchmal so stark, dass die Betroffenen sich wie Marionetten fühlen, insbesondere dann, und das ist nicht selten der Fall, wenn ihnen ihre Krankheitsscham nicht bewusst ist. Dann stellt sich bei Klientinnen Verzweiflung, Resignation, Stagnation und ein chronisches Gefühl des unverstanden Seins ein. Therapeutinnen arbeiten mit dem Gefühl, diesen Menschen nicht wirklich helfen zu können, vielleicht auch nicht mehr zu wollen – tun wir doch die mit der Krankheitsscham einhergehende Sprachlosigkeit allzu schnell als Widerstand, Unwille oder auch Oberflächlichkeit des Patienten ab. Wertvolle Heilungschancen und Persönlichkeitspotenziale bleiben so ungenutzt.
Wenn Erkrankte in das Land der Krankheitsscham geraten sind, gleicht dieses einem Sumpf. Diesem Sumpf zu entkommen, nicht tiefer und tiefer zu versinken, kann zu einer herausfordernden Lebensaufgabe werden: Klienten müssen sich selbst als in Scham verirrt verorten, Ortskundigkeit erwerben, Passierwege und Rückzugsorte finden, Abgründe umgehen, Aufstiege wagen, wiederholtes Fallen akzeptieren, sich wieder aufrichten, um schließlich Auswege zu finden. Gerade wenn Krankheit mit eigener und sozialer Ächtung einhergeht, als peinlich erlebt wird, chronisch zu werden droht, unerklärlich und undefinierbar erscheint, dann wird das Leben neben der ohnehin schon großen Belastung, etwa durch Schmerzen und Symptome, zu einer immensen Lebensprüfung. Nicht selten endet dies in Resignation und Hoffnungslosigkeit, teils in schweren co-morbiden psychischen Erkrankungen. Gefühlslandschaften, die den Erkrankten zusätzlich belasten, sprießen großflächig auf dem Boden der Krankheit: Neben den Basisgefühlen von Angst und Schmerz werden dann Scham und Schuld zu tragischen Begleitern. Da diese Gefühle als unangenehm erlebt werden, spielen sie oft auf dem Boden des Unbewussten: Kranke drohen zu Marionetten ihrer unerkannten Schamdynamik zu werden (Tiedemann, 2010). Wenn Schamabwehr und Verdrängung im Vordergrund stehen, fühlen sich Kranke gelähmt, Ärzte und Therapeuten hilflos (Wurmser, 1990; Lammers, 2016). Letztere bekommen wenig von diesem Spielfeld, einem vermeintlichen Nebenschauplatz, mit, da die Kranken, nicht um ihre Problematik wissend, deshalb kaum offen verbalisieren. Andererseits kennen professionell Tätige sich dort teils selbst wenig aus: Scham und Krankheitsscham ist kein Krankheitsbild im Sinne der Internationalen Krankheitsklassifikation (ICD10 oder DSM) und gleicht einem übersehenen, gern verdrängten Nebenschauplatz – sie brauchte jedoch einen Platz auf der Hauptbühne. Ansonsten droht sie, unerkannt, Heilung und Hilfe, Zuwendung und Lösungsansätze zu verhindern.
Die Angst, stigmatisiert, ausgegrenzt, »zu viel« zu sein, womöglich als verrückt angesehen zu werden, mindert Lebensqualität, kann in quälende Schamdynamiken münden und stellt in der Folge Identität und Sein in Frage. Wer sich seiner selbst nicht mehr sicher ist, muss unter Mühen auf die eigenen Füße kommen, Land gewinnen auf brüchigem Boden, wie es Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil in ihrem Buchtitel treffend metaphorisch ausdrückt (Keil, 2014b). Wer lange krank ist, schwer erkrankt, dem geht es an die »Existenz« – Probleme mit Kollegen und Angehörigen, Verlust des Arbeitsplatzes oder der Partnerschaft sind keine Seltenheit. Die Folgen der mit der Krankheit einhergehenden Bedrohungen, sozialer Abstieg und Existenzbedrohung etwa, bieten einen reichen Nährboden für wild sprießende Krankheitsscham. Beziehungen und Sozialkontakte können schwer belastet werden, auch zerbrechen: Soziales Leben, eigentlich Hoffnungsträger im Krankheitsgeschehen, wird dann zur Lebensstolperfalle. Krankheitsscham geht in Resonanz. Die Scham kann so massiv werden, dass sie selbst zu einer Erkrankung wird. Krankheitsscham schwingt zwischen Ich und Du und wird verinnerlicht. Der oder die anderen sind maßgebliche Orientierungspunkte, Menschen sehen ihre Krankheit gleichsam »im Blick der tausend Augen« der anderen (Wurmser, 1990).
Menschenbilder und Kulturen prägen unseren Blick auf uns selbst und somit auch unseren Umgang mit Krankheit. Dies erfuhren wir nicht zuletzt schmerzlich in der Corona-Pandemie. Ausgrenzung, Angst vor Ansteckung, Existenz- und Lebensangst, Glaube und Misstrauen über Heilungswege, sogar über die eigentliche Existenz der Krankheit, bestimmten den Alltag aller: Gesunder und Kranker. Menschen verlieren teils Existenz und Sicherheit, andere gewinnen. Gerade die Verlierer sind in Gefahr, erlebte Beschämung in Hass zu wandeln, drohen sich gesellschaftlich zurückzuziehen, abzuspalten, wegzutauchen. All diese Menschen begegnen uns in der therapeutischen Praxis, und wir sollten ein Augenmerk darauf haben, ihnen angemessen zu begegnen. Im therapeutischen Setting kann Krankheitsscham aus der Tabuzone geholt und bewältigt werden: die individuellen Copings müssen identifiziert werden, sind sie doch so vielfältig wie individuell, so hilfreich wie blockierend. Krankheitsscham hat Sinn und Bedeutung; damit Erkrankte mit und an ihr wachsen, muss sie wahrgenommen und gestaltet werden. Hierbei können Methoden, Verfahren und Menschenbild der kreativen und der leiborientiert-integrativen Therapien wertvolle Dienste leisten. Dieses Buch bietet eine Vielzahl praktischer Anregungen und Praxiserzählungen. Die Umstände und Lebensdaten wurden so verändert, dass Ähnlichkeiten mit realen Personen rein zufällig wären.
Da Krankheitsscham zu den heiklen Emotionen gehört, müssen wir uns auf betroffene Menschen besonders einstimmen. Als Therapeuten müssen wir achtsam sein für uns selbst, für unser Gegenüber und die Beziehung, unsere Stimmungen, Gefühle, Emotionen, unsere individuelle eigene Landschaft des Krankheitserlebens und für unsere Krankheitsscham, für unsere Resonanzen. Wenn wir als Therapeutinnen und Ärzte Krankheitsscham nicht identifizieren, weder bei uns selbst noch bei unseren Klienten, können wir nicht angemessen helfen: Therapieabbrüche sind keine Seltenheit – mit unguten Gefühlen auf beiden Seiten, mit vertanen Heilungschancen und oftmals Resignation auf der Seite des Kranken. Ähnlich wie Scham und andere negativ erlebte Emotionen wird Krankheitsscham leicht übersehen, unterschätzt, übergangen. Wenn Sie sich als professionell Helfende entschließen, sich mit von Krankheitsscham betroffenen Menschen stärker zu beschäftigen, so setzt diese Arbeit die Auseinandersetzung mit dem Eigenen voraus. Auch dazu können Sie dieses Buch nutzen.
Als ich mich entschloss, dieses Buch zu schreiben, befanden wir uns mitten in der Corona-Pandemie. An einem Abend im Dezember 2020 fuhr überraschend eine große Lichterparade aus Traktoren durch unsere Stadt. Die liebevoll dekorierten Wagen trugen die Aufschrift: »Funke der Hoffnung«. Diesen Funken der Hoffnung, so las ich später in der regionalen Presse, möchten die Organisatoren den Menschen trotz Corona-Pandemie senden. Welch schöne Idee! Ein solcher Funke der...
Erscheint lt. Verlag | 19.3.2022 |
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Reihe/Serie | Hilfe aus eigener Kraft |
Leben lernen | Leben Lernen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Anleitungen • Arzt-Patient-Beziehung • COVID-19-Pandemie • Depression • Essstörung • Hauterkrankungen • Herz-Kreislauf-Erkrankungen • Krankheitsscham • Krankmachende Scham • Posttraumatische Belastungsstörung • Scham • Übungen |
ISBN-10 | 3-608-11872-1 / 3608118721 |
ISBN-13 | 978-3-608-11872-8 / 9783608118728 |
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