Der Architekt des Islamismus (eBook)
529 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-78178-0 (ISBN)
Gudrun Krämer war bis zu ihrem Ruhestand Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Direktorin der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies. Sie ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, des Wissenschaftsrats und Mitherausgeberin der Encyclopaedia of Islam Three. 2010 wurde sie mit dem Gerda Henkel Preis ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von ihr u.a. die Standardwerke "Geschichte Palästinas" (2015) und "Geschichte des Islam" (Neuausgabe in Vorbereitung).
2. Die Zeit der Orientierung
Brüche und Übergänge
Al-Banna war noch keine 17 Jahre alt, als er 1923 das Lehrerseminar von Damanhur erfolgreich abschloss. Schon einige Monate zuvor hatte er sich über seinen weiteren Lebensweg Gedanken gemacht und dabei einen seltenen Moment der Unsicherheit erlebt: Eine Reihe seiner Mitschüler plante, ihr Studium am Kairener Dar al-ʿUlum fortzusetzen, einer Art Pädagogischer Hochschule für Arabischlehrer an staatlichen und privaten Grundschulen. Al-Banna war indes unschlüssig: Er las und lernte gerne, profitierte dabei von der Bibliothek des Vaters und Scheich Zahrans, kaufte das eine oder andere und lieh sich ansonsten die Bücher und Zeitschriften aus, die ihn interessierten. Insbesondere liebte er die klassische arabische Dichtung und Prosaliteratur, die zwar weithin geschätzt, an der Azhar und ihren Religiösen Instituten aber allenfalls außerhalb des regulären Unterrichts gelehrt wurden. Nach dem Vorbild Scheich Zahrans wollte er sogar eine eigene Monatszeitschrift ash-Shams («Die Sonne») herausgeben, für die er tatsächlich zwei Hefte verfasst zu haben scheint.[1] Mit diesen Interessen stand al-Banna keineswegs allein: Die Lesefreude, ja der Lesehunger seiner Zeitgenossen sind vielfach bezeugt, und wer in Ägypten schreiben konnte, der schrieb.[2] Allerdings hatte der junge Mann mit seinen Scheichs und Lehrern auch Ausschnitte aus al-Ghazalis «Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften» gelesen, wo der große Gelehrte zwischen nützlichem und unnützem Wissen unterschied: Nützlich war alles, was zur korrekten Ausübung der religiösen Pflichten und zum Broterwerb befähigte, der Rest war unnütz. Al-Banna verstand al-Ghazali dahingehend, dass zu viel Wissen sogar schade, und zwar nicht, weil es den Weg zur Wahrheit versperrte, wie inspirierte Sufis glaubten, sondern weil es vom Handeln abhielt. Zugleich drängte al-Ghazali, wie so viele fromme Muslime vor und nach ihm, auf einen sorgsamen Umgang mit der Zeit.[3] Auch die sunnitischen Reformer stellten angewandtes, praktisches Wissen über bloßes Bücherwissen, und sie taten dies nicht allein unter dem Einfluss französischer Saint-Simonisten und angelsächsischer Utilitaristen, sondern im Rückgriff auf islamische Überlegungen zum Nutzen religiöser Vorschriften und menschlicher Handlungen sowie auf osmanische Vorstellungen von Gemeinwohl (maslaha), die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatten.[4]
In Ägypten berief man sich gerne auf Scheich Rifaʿa Rafiʿ at-Tahtawi, einen Schüler Hasan al-ʿAttars, der in den 1820er Jahren im Auftrag Muhammad ʿAlis eine Gruppe ägyptischer Studenten nach Paris begleitet und darüber einen berühmten Reisebericht verfasst hatte. In den folgenden Jahren nahm er über seine Schriften, seine Übersetzungen und seine Arbeit im staatlichen Schulsystem großen Einfluss auf das ägyptische Bildungs- und Erziehungswesen. Tahtawi stützte seine Argumentation auf ein bekanntes Propheten-Hadith. Drei Dinge konnten demnach den guten Taten eines Mannes über seinen Tod hinaus Dauer verleihen: Almosen, ein Sohn und nützliches Wissen. Was aber war «nützliches Wissen» (al-ʿilm an-nafiʿ) – religiöses oder nur praktisches Wissen, und wenn ja, welches? Tahtawi selbst sprach von «praktischer Weisheit» (hikma ʿamaliyya), zu der er unter anderem die Medizin zählte, die in den Augen nicht weniger sunnitischer Religions- und Rechtsgelehrter ungut nach hellenistischer Philosophie schmeckte. Auf jeden Fall aber umfasste nützliches Wissen für Tahtawi mehr als die militärisch und verwaltungstechnisch verwendbaren Kenntnisse in Geometrie, Ballistik, Ingenieur- und Finanzwesen sowie europäischen Fremdsprachen, für deren Erwerb Muhammad ʿAli die Studenten ins europäische Ausland geschickt hatte. Muhammad ʿAbduh, Rashid Rida und ihre Umgebung folgten im Wesentlichen Tahtawis Argumenten.[5]
Aber auch abgesehen von der Frage der Nützlichkeit war al-Banna sich nicht sicher, ob es ihm mit einem weiteren Diplom tatsächlich um die Mehrung wahren Wissens ging oder nicht doch um Anerkennung, Gehalt und Karriere, ob er also religiösen und zugleich altruistischen Motiven folgte oder egoistischen Interessen, die natürlich abzulehnen waren. Ein ganz anderes Moment, seine beschränkten Mittel nämlich, erwähnt er in seinen «Erinnerungen» nicht. Von ihm sprechen Autoren der Muslimbruderschaft unter anderem im Zusammenhang mit der Tatsache, dass zwar alle Söhne Ahmad as-Saʿatis eine Schule besuchten, nicht aber die Töchter. Der Wunsch nach einer Überhöhung al-Bannas als Mann des einfachen Volkes, der auf einen höheren Schulabschluss verzichtete, um seiner Familie nicht zur Last zu fallen, ändert freilich nichts daran, dass dieser tatsächlich aus bescheidenen Verhältnissen kam. Nach einigem Zögern überredete ihn schließlich ein Lehrer, zumindest die Eingangsprüfung für das Dar al-ʿUlum abzulegen, um sich die Tür zu einer höheren Bildung offenzuhalten.[6]
Hasan al-Banna im Alter von etwa sechzehn Jahren
Ausgestattet mit dem Segen seines Vaters, etwas Reiseproviant und einem Brief an einen vermögenden Buchhändler, mit dem der Vater in Kontakt stand, fuhr Hasan al-Banna im Ramadan 1923 zum ersten Mal in die Hauptstadt. In seinen «Erinnerungen» beschreibt er die aufregenden Tage in einiger Ausführlichkeit. Demnach zeigte der Buchhändler wenig Interesse an dem jungen Mann, es half ihm jedoch ein freundlicher Angestellter, der ihn für die Nacht bei sich aufnahm und ihm den Weg zum Dar al-ʿUlum wies. Vor der obligatorischen ärztlichen Untersuchung ließ er sich von einer Augenärztin (sie war zwar, wie er eigens vermerkte, Griechin, hatte aber die ägyptische Staatsangehörigkeit angenommen, so dass er nicht die Dienste einer Ausländerin in Anspruch nehmen musste) eine Brille anfertigen. Warum er diese benötigte, wird nicht ganz klar, denn auf keinem zeitgenössischen oder späteren Bild sieht man al-Banna mit Brille. Anschließend quartierte er sich mit einigen Gleichaltrigen, die er in Kairo getroffen hatte – auch in diesem Abschnitt seines Lebens war er nicht allein – eine Woche im Innenhof der Azhar ein, um sich auf die Zulassungsprüfung zum Dar al-ʿUlum vorzubereiten. Das war nicht ungewöhnlich: Viele Mittel- und Obdachlose, die sich eine eigene Unterkunft nicht leisten konnten, nutzten die Azhar zu diesem Zweck. Mit Aushilfsarbeiten in einem Laden verdiente er ein wenig Taschengeld.[7] An den Schulen und Hochschulen des Landes wurden in der Regel bestimmte Texte geprüft, die die Kandidaten idealerweise auswendig beherrschten. Angst hatte al-Banna vor der Grammatikprüfung, denn außerhalb des regulären Schulunterrichts hatte er zwar unter anderem Ibn Maliks al-Khulasa al-alfiyya mit dem Kommentar Ibn ʿAqils durchgenommen und auswendig gelernt. Die Alfiyya war eine in Versform gehaltene arabische Grammatik in rund 1000 Wörtern (daher der Titel «der Tausender»), die in gedruckter Form seit den 1830er Jahren an staatlichen ägyptischen Schulen unterrichtet wurde. Er hatte aber Grammatik nicht so gründlich studieren können wie die von der Azhar kommenden Kandidaten, und mit diesen musste er sich messen.[8]
Umso aufschlussreicher ist der einschlägige Eintrag in seinen «Erinnerungen»: Demnach wurden ihm die Prüfungstexte in unruhiger Nacht im Traum enthüllt. Al-Banna bezeichnete seinen Traum als Wahrtraum, ruʾya saliha, wie sie Gott seinen Dienern schenkte, und bewegte sich damit, ähnlich wie im Fall seiner Gräberbesuche, auf glattem, aber nicht auf verbotenem Parkett.[9] Ob Traum oder nicht, er bestand jedenfalls die Aufnahmeprüfung, die in größeren Teilen aus auswendig gelernten Koransuren, klassischen Versen und Abschnitten aus der Alfiyya bestand. Nach Damanhur zurückgekehrt, absolvierte er mit Bravour zudem die Abschlussprüfung des Lehrerseminars. Kurz darauf bot ihm die Regierung seiner Heimatprovinz Buhaira eine Stelle in der Nähe von Mahmudiyya an. Nach kurzem Nachdenken lehnte er das Angebot ab, um nach Kairo zu gehen, wo sich nicht nur das Dar al-ʿUlum befand, sondern auch das Hauptquartier der Hasafiyya-Bruderschaft. Den Erwerb weiterführenden Wissens rechtfertigte al-Banna in langen Gesprächen mit seinem Freund as-Sukkari als doppelt nützlich: Nicht nur beruhte Wahrheit auf...
Erscheint lt. Verlag | 17.3.2022 |
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Reihe/Serie | Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung | Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Islam | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • AKP • Biografie • Biographie • Geschichte • HAMAS • Hasan al-Banna • Ideengeschichte • Islam • Islamismus • massenorganisation • Muslimbruderschaft • Politik • Religion • Terrorismus • Verwestlichung |
ISBN-10 | 3-406-78178-0 / 3406781780 |
ISBN-13 | 978-3-406-78178-0 / 9783406781780 |
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Größe: 3,3 MB
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