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Trauma und moralische Konflikte (eBook)

Fachbuch-Bestseller
Einführung und Manual für die präventive und therapeutische Arbeit mit Einsatzkräften
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11890-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Trauma und moralische Konflikte -  Peter Zimmermann
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Wenn professionelle Helfer Hilfe brauchen Einsatzkräfte sind im Dienst vielfältigen psychosozialen Stressoren ausgesetzt. Neu ist dabei die Erkenntnis, dass Verletzungen der persönlichen Wertvorstellungen, sogenannte »moral injuries«, bei der Verarbeitung von Einsätzen eine große Rolle spielen und erhebliche psychische Belastungen hervorrufen können. Dieses Buch bietet TherapeutInnen und psychosozialen BegleiterInnen neben einem leicht verständlichen Einstieg zahlreiche Anregungen für die Präventionsarbeit und Therapie. Ergänzt wird das Werk durch Beiträge aus der Seelsorge, die zusätzliche Hilfestellungen geben.  Erstes deutschsprachiges Werk zu moralischen Verletzungen Detaillierte Einführung ins Thema mit zahlreichen Fallbeispielen Mit zwei praxisorientierten Manualen zur Präventionsarbeit und Therapie

Peter Zimmermann, Prof. Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Traumatherapeut und Gruppenanalytiker. Er leitet das Psychotraumazentrum der Bundeswehr und lehrt an der Charité in Berlin.

Peter Zimmermann, Prof. Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Traumatherapeut und Gruppenanalytiker. Er leitet das Psychotraumazentrum der Bundeswehr und lehrt an der Charité in Berlin. Christian Fischer ist Militärdekan und Leiter des Arbeitsfelds Seelsorge für unter Einsatz- und Dienstfolgen leidende Menschen (ASEM) der Evangelischen Militärseelsorge. Er begleitet aktive und ehemalige Soldaten, die psychisch erkrankt sind, und organisiert Seminare und Freizeiten für Betroffene und ihre Angehörigen. Thomas Thiel ist Theologe, Exerzitienleiter und Geistlicher Begleiter. Nach dem Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen und Erlangen war er zunächst Gemeindepfarrer in württembergischen Gemeinden. Seit 2015 ist er als Evangelischer Militärpfarrer am Bundeswehrkrankenhaus Berlin tätig. Thomas Thiel ist ausgebildeter Heilpraktiker für Psychotherapie und Traumapädagoge sowie Internationaler Trainer für TRE® (CT). Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne.

Kapitel 2

Bedeutung moralischer Konflikte in der Psychotraumatologie


2.1 Grundlagen und Prävention


2.1.1 Begriffe und Modelle


Begriffe

In einer Schrift über Traumata und moralische Konflikte ist es für das Verständnis wichtig, sich im Vorfeld mit den entsprechenden Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen. Moral leitet sich von dem lateinischen Begriff Mos, die Sitte, ab, Ethik von dem griechischen Ethos, Charakter, Sinnesart. Beide werden oft synonym verwendet, auf wissenschaftlicher Ebene ist jedoch eine Abgrenzung notwendig.

Moral findet seinen Ausdruck in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, wie z. B. in der Philosophie, Politik, Theologie oder auch Psychologie. Im Vordergrund steht das entsprechende Verhalten, die Normensysteme, die es ermöglichen, auf der Basis definierter Werte richtigem Handeln eine Grundlage zu geben. Ethik ist demgegenüber als Oberbegriff zu verstehen: als die Wissenschaft vom moralischen Verhalten, die die Prinzipien auf der Metaebene abbildet. Wenn beispielsweise moralisches Verhalten mit dem Spenden von Geld für wohltätige Zwecke einhergeht, dann beschäftigt sich die dazugehörige Theoriebildung etwa mit der Frage »Welche Bedingungen erhöhen die Spendenbereitschaft?«, die Ethik dagegen mit den Grundlagen dieses Verhaltens (»Unter welchen Bedingungen ist wohltätiges Verhalten generell sinnvoll?«). Zur Vertiefung dieses Themas siehe Sautermeister (2017) und Lind (2015).

Psychoanalytische und entwicklungspsychologische Modelle der Entwicklung von Normen und Moral

Aus psychoanalytischer Sicht ist die Bereitschaft, gesellschaftlich vorgegebene Normen zu akzeptieren und zu befolgen, frühkindlich determiniert. Im 4. bis 5. Lebensjahr entsteht die ödipale Konstellation der psychosexuellen Entwicklung, in der es zu ausgeprägten Aggressionen gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil kommen kann. Diese werden jedoch in Teilen als vom Vater oder der Mutter ausgehend (Verschiebung) und somit als Bedrohung erlebt. In der Überwindung dieser ödipalen Krise kommt es zu einer Identifikation mit dem Aggressor und dadurch zur Aneignung der entsprechenden Normen (Freud 2016/1915).

Entwicklungspsychologische Sicht: Piaget entwickelte anhand von Beobachtungen und klinischen Interviews mit 5- bis 12- jährigen Kindern ein Modell mit drei Stadien der Moralentwicklung. Auf eine prämoralische Phase, in der sich das Kind noch keinen moralischen Regeln verpflichtet fühlt, folgt ein heteronomes Stadium. Darin werden Normen von der Angst vor Autoritäten und einer entsprechenden Bestrafung bei Fehlverhalten bestimmt. Im darauffolgenden autonomen Stadium begründet sich Moralempfinden immer mehr auf einer Selbstverpflichtung, die quasi vertraglichen Vereinbarungen mit der sozialen Umgebung entsprechen. Eine subjektive Verantwortlichkeit entsteht (Piaget 1954).

Nunner-Winklea (2008) differenziert eine Reihe von Entwicklungsfaktoren, die maßgeblich an dem Erwerb moralischer Normen bei Kindern beteiligt sind. Dazu gehören die explizite Unterweisung seitens der Eltern und Erziehern, das Ablesen von Wertigkeiten aus dem moralischen Sprachspiel (die Verwerflichkeit bestimmter Handlungen wie z. B. »Mord« sind im Begriff selbst eindeutig hinterlegt), Erfahrungen aus der Interaktion mit Gleichaltrigen oder auch der Erwerb von Wissen zu komplexeren sozialen Zusammenhängen (Fragen wie »Nach welchen Prinzipien funktioniert eine Gesellschaft?«). Im höheren Alter ab ca. 12 Jahren entsteht dann zusätzlich eine Systemperspektive, die es erlaubt, Verhalten nicht mehr nur an den Reaktionen der beteiligten Personen auszurichten, sondern auch an den abstrakteren Funktionserfordernissen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ein entscheidendes Bindeglied zwischen diesen Elementen sind »moralische Emotionszuschreibungen«, d. h. die Gefühle, die bei einer Übertretung von Normen entstehen bzw. befürchtet werden. Sie vermitteln die Motivation, die erlernten Verhaltensregeln tatsächlich auch zu befolgen.

Entwicklung moralischen Urteilens nach Kohlberg

Ein weitverbreitetes Modell zur Entwicklung moralischen Urteilens beruht in der Weiterentwicklung von Piagets Vorstellungen auf den Theorien des Sozialwissenschaftlers Lawrence Kohlberg, die er als »Kognitive Entwicklungstheorie des moralischen Urteils« ab 1958 konzipierte. Grundlage seines Ansatzes ist die Vorstellung, dass sich das Moralbewusstsein des Menschen in bestimmten aufeinander aufbauenden Stufen entwickelt, wobei allerdings nicht von allen Menschen das gleiche Niveau erreicht wird.

Er nimmt eine Einstufung des individuellen Entwicklungsstandes vor, indem er Probanden sogenannte moralische Dilemmata präsentiert. Dabei handelt es sich um kurze Geschichten, die von Verhaltensweisen auf der Grundlage zweier unterschiedlicher Normen erzählen (z. B. verübt ein Protagonist eine kriminelle Handlung, um das Leben eines anderen Menschen zu schützen). Diese Normen (Menschen schützen, Gesetzestreue) sind im Rahmen der Geschichte nicht in Einklang zu bringen, sodass sie negative Konsequenzen verursachen, egal wie die Entscheidung ausfällt. Kolbergs Ziel ist dabei nicht die Auswahl einer richtigen moralischen Entscheidung, sondern die Auswertung der vorgebrachten Argumente zur Begründung der Entscheidung. So spielen auf der untersten, »präkonventionellen« Stufe der insgesamt sechs Stufen egozentrische Argumente von Lust und Unlust eine führende Rolle, unter anderem zur Vermeidung von Strafe durch Autoritäten. Auf den höheren, »postkonventionellen« Stufen werden zunehmend die Bedürfnisse anderer Menschen berücksichtigt und abstrakte ethische Prinzipien abgewogen, die über die Befolgung von Gesetzen oder Erwartungen anderer hinausgehen.

Durch Diskussion derartiger moralischer Dilemmata wird in der Erziehungswissenschaft eine Förderung der moralischen Entwicklung für möglich gehalten.

2.1.2 Bedeutung moralbezogener Ansätze in der Psychotherapie


Wissenschaftliche Studien zu Menschen, die traumatischen Situationen ausgesetzt waren, insbesondere zu Einsatzkräften, haben immer wieder eine hohe psychische Belastung für die Betroffenen und ihr jeweiliges soziales Umfeld aufgezeigt. Gleichzeitig zeigten sich Schwierigkeiten, geeignete therapeutische Ansätze zu entwickeln, die den spezifischen Bedürfnissen von Einsatzkräften gerecht werden und nachhaltig wirksam sind. Diese Problematik hat bis in die jüngste Zeit eine umfangreiche Forschungsaktivität zu innovativen therapeutischen Elementen gefördert, die die klassischen traumatherapeutischen Methoden ergänzen und ihre Wirksamkeit verbessern sollen.

Eine Zielrichtung derartiger Bemühungen, die gerade in den letzten Jahren im englischsprachigen Raum deutlich an Dynamik gewonnen hat, stellen Ansätze dar, die sich mit persönlichen Wertorientierungen und moralischen sowie spirituellen Fragestellungen auseinandersetzen. Diese scheinen insbesondere für Einsatzkräfte vielversprechend, da im Einsatzdienst menschliche Grenzsituationen wie der Umgang mit Verletzungen oder auch Todesfällen zum Berufsalltag gehören. Diese berühren existenzielle Erlebnisdimensionen und lösen entsprechende moralische Reflexionen und Konflikte aus.

Allerdings führt die häufig zu beobachtende Systemkultur von Einsatzkräften, wie z. B. die Betonung von hierarchischen und »männlichkeits«-bezogenen idealen (keine Schwächen zu zeigen, Probleme für sich zu behalten etc.) zu verstärkten Ängsten vor Stigmatisierung und einer verminderten Bereitschaft, diese »weichen« Aspekte der Verarbeitung traumatischer Situationen ernstzunehmen, auszudrücken und psychisch zu integrieren. Diese Diskrepanz verstärkt die Notwendigkeit einer systematischen Thematisierung durch präventiv und/oder therapeutisch tätige psychosoziale Unterstützungssysteme. Im Folgenden sollen exemplarisch einige der potenziell hilfreichen Ansätze beschrieben werden.

2.1.3 Moralbasierte Theorie- und Therapiekonzepte


Religiöse Glaubenssysteme können sicher als einer der frühesten Ansätze verstanden werden, Menschen in Krisensituationen einen Halt zu vermitteln, indem sie die Etablierung eines ethischen »Koordinatensystems« unterstützen. In dieses können die oft tief verunsichernden ...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2022
Mitarbeit Assistent: Christian Fischer, Thomas Thiel
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Traumatherapie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Krisenintervention • Moral injuries • moral injury • Moralische Konflikte • moralische Verletzungen • Posttraumatische Belastungsstörung • Präventionsmanual • Psychologie • Psychosoziale Notfallversorgung • Psychosoziale Versorgung von Einsatzkräften • Psychotherapie • Psychotraumatologie • PTBS • Therapiemanual • Trauma • Traumatherapie • Traumatherapie bei Einsatzkräften • Wertorientierung
ISBN-10 3-608-11890-X / 360811890X
ISBN-13 978-3-608-11890-2 / 9783608118902
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