Die Rache der She-Punks (eBook)
224 Seiten
Ventil Verlag
978-3-95575-618-5 (ISBN)
Vivien Goldman wurde 1954 in London geboren. Sie war Mitgründerin der Post-Punk-Band The Flying Lizards und arbeitete u. a. als Musikjournalistin, Dokumentarfilmerin und Songwriterin, z. B. für Massive Attack. Heute lehrt sie an der New York University zu Punk, Afrobeat und Reggae und ist Autorin zahlreicher Bücher zur Musikgeschichte, u. a. anderem über Bob Marley, Kid Creole und Afrobeat.
Vivien Goldman wurde 1954 in London geboren. Sie war Mitgründerin der Post-Punk-Band The Flying Lizards und arbeitete u. a. als Musikjournalistin, Dokumentarfilmerin und Songwriterin, z. B. für Massive Attack. Heute lehrt sie an der New York University zu Punk, Afrobeat und Reggae und ist Autorin zahlreicher Bücher zur Musikgeschichte, u. a. anderem über Bob Marley, Kid Creole und Afrobeat.
WOMANIFEST
Der »Opening Vamp«
Plötzlich scheint es im Gig Guide des Sounds eine ganze Menge Musikerinnen oder Bands von Frauen zu geben. Es scheint, als käme der Frauen-Underground plötzlich an die Oberfläche … Wenn Frauen ein professionelles, hartes Rock-Set ohne Zugeständnisse an weibliche Stereotype hinlegen, werden sie automatisch als eine Bedrohung wahrgenommen. Sie sind eine Bedrohung für Männer, weil sie die männliche Vorherrschaft in einer Festung herausfordern, die niemals zuvor angegriffen wurde; und sie bedrohen Frauen, die sich eventuell nie eingestanden haben, dass auch SIE auf der Bühne und unter Strom stehen wollen, statt nur passiv ihren Freund dort oben zu bewundern.
Vivien Goldman, Sounds, 11. Dezember 1976
Wohin gehst du? Wo bist du gewesen?
Jayne Cortez, »Maintain Control«, 1986
Alles begann mit Glitter. Meine Liebe zu Glitter war schon da, lange bevor David Bowie bernsteinfarbene, goldbefleckte Plastik-Maracas schüttelte und herumsprang wie in einer Tanzperformance von Victor Sylvester. Der Schauplatz war der Nordwesten Londons, Anfang der 1960er-Jahre. Mein Vater Max spielte Geige; meine große Schwester Judy saß am Keyboard, also an unserem Klavier; meine mittlere Schwester Susan und ich sorgten für die Perkussion und sangen. Alle drei von uns Schwestern sangen. Judy behauptet heute, dass ich es am leichtesten hatte, weil ich die Jüngste war und sie die Kämpfe austragen musste, um lange aufzubleiben. Aber wenn ich zurückblicke, habe ich das Gefühl, dass immer ich diejenige gewesen bin, die herumkommandiert wurde – außer, wenn wir sangen. Dann war klar, dass ich diejenige war, die die Harmonien hörte und den anderen die Noten sagen konnte.
Die Musik ist schon mein ganzes Leben meine Tanzpartnerin. Fröhlich und melodramatisch haben wir uns durch ein Wirrwarr an Rollen bewegt: (zeitweilig) Pressesprecherin, Journalistin, Autorin, Songwriterin, Sängerin, Produzentin, Clubbetreiberin, Dokumentarfilmerin, Bloggerin, Redakteurin, Video-/TV-/Radioautorin, Regisseurin, Moderatorin, Produzentin und Verlegerin.
Meine zahlreichen Abenteuer waren durchweg lehrreich. Wider besseren Wissens bin ich dazu überredet worden, mich im Management zu versuchen und lenkte (ganz kurz) die Karrieren der Generation X (hallo, Billy Idol und Tony James!) und des Girl-Duos Snatch, deren Mitglieder Patti Palladin und Judy Nylon als frustrierte Künstlerinnen forderten: »All I want is all you know«. Als ich mit den Plattenaufnahmen aufhörte (dazu später mehr), ging ich zu Beginn der 1980er-Jahre als Produzentin und Regisseurin zum Privatfernsehen, das zu dieser Zeit boomte. In der TV-Sendung Big World Café, die ich mit einem Partner entwickelte, konnte ich internationale Musik präsentieren. Videos, bei denen ich damals Regie führte, finden sich heute in Museen, darunter »I Ain’t No Joke« der Rapper Eric B & Rakim und »Murder She Wrote« von Chaka Demus & Pliers aus Jamaika. Aufgrund von Musik habe ich in die Gewehrläufe einer geheimen Armeedivision im nigerianischen Lagos geblickt. Einmal tanzte ich einfach weiter, als bei einer jamaikanischen DJ-Session Kugeln um mich herumflogen, weil ich die Geräusche für den aktuellen Synth-Drum-Beat hielt, und annahm, dass die um mich in die Hocke gehenden Leute der »Get Flat«-Tanz begeisterte. Danach war ich verdutzt, als man mir für meinen Mut gratulierte. Als langjährige Honorarprofessorin am Clive Davis Institute of Recorded Music an der Tisch School of the Arts der NYU, erwarb ich schließlich den nom d’academe der Punk-Professorin.
Doch tatsächlich begann die Reise hin zum Schreiben dieses Buchs 1975, als ich obigen Artikel über Frauen im Rock für das angriffslustige Underdog-Punkrock-Wochenblatt Sounds verfasste, dem ich mich gerade erst als Autorin angeschlossen hatte. In den 1990er-Jahren war daraus ein jährlich wachsender Stapel an Rockzeitschriften geworden, in denen man die unabhängigen She-Punks oft vergeblich suchte. Damals jedenfalls war ein solcher Artikel etwas Neues, ebenso wie solche Frauen. Mein vorrangiges Gefühl, als ich mir meinen Weg nach vorne zur Bühne des Londoner Clubs bahnte, war Erstaunen. Ich war frische Warwick-Absolventin, eine von Großbritanniens radikalen neuen Plate-Glass-Universitäten.1 Die bekannte feministische Theoretikerin Germaine Greer war meine Tutorin. Mein ständiges Feiern während des Semesters und das Büffeln erst während der Examenszeit fand sie nicht okay. Aber was hatte sie erwartet? Wir hatten zwar das Musikmachen geliebt, aber ich konnte mich aufgrund meiner Herkunft aus einer jüdisch-orthodoxen Familie zuvor nie richtig ausleben. Als erstes Mädchen, das zur Uni ging, schien ich zudem die Einzige in der Familie zu sein, die nicht wollte, dass der nächste Tanzschritt die Ehe sein sollte. Stattdessen verzehrte mich eine unbändige Neugier: Was könnte da draußen wohl auf einen Weirdo wie mich warten? Es gab keine Beispiele, keine Mentorinnen, nach denen ich mich hätte umsehen oder die mir hätten Ratschläge geben können.
Und da war ich nun und wurde Zeugin dieser seltsamen Erscheinung … Eine langhaarige, Jeans tragende Person an der Gitarre, von der ich, als ich näher kam, merkte, dass diese – eine Frau ist! Die Powerchords spielt! Bis dahin hatte ich noch nie eine Frau in einer Band auf der Bühne spielen gesehen. Der Schock war so groß, dass ich mit meinen Kollegen bei Sounds darüber sprechen musste. Und so veröffentlichte ich meine erste »Women in Rock«-Story, die, wie man sieht, nicht meine letzte gewesen sein sollte. Pop und Rock hatte es gerade mal ein Vierteljahrhundert gegeben, was es einfach machte, zur Expertin zu werden. Dennoch hätte ich mir nicht träumen lassen, dass aus mir jemand werden würde, die für die Musik lebt.
Trotz seiner Punk-Identifikation war Sounds typisch für die Arbeitswelt innerhalb der Londoner Musikindustrie. Auch als ich mich zur Feature-Redakteurin hochgearbeitet hatte, waren die Redaktionssitzungen vor allem von den Abwehrversuchen gegenüber feministischen Anliegen geprägt – beharrten »meine« Autoren, alle männlich und weiß, doch darauf: »Frauen kaufen keine Musik!« – »Frauen machen keine Musik!« – »Frauen lesen keine Musikzeitschriften!« Der Subtext war: »Und selbst wenn sie es tun, sind sie so irrelevant, dass man nicht über sie schreiben muss!«
Sie hatten allesamt die kranke Stichelei von Samuel Johnson internalisiert, einem Tagebuchschreiber des 18. Jahrhunderts: »Eine predigende Frau ist wie ein Hund, der auf seinen Hinterbeinen läuft. Das geht nicht gut, man ist allerdings überrascht, dass es überhaupt geht.« Es war selbstverständlich, über diese Dummheit zu meckern, mit der ich mich noch zweihundert Jahre später auseinanderzusetzen hatte. Sie waren meine Autoren, mein Team, aber diese bevormundenden Haltungen machten sie in geschlechtlicher Hinsicht zu meinen Feinden. Was bin ich nun also, zerhacktes Vinyl? Ich schäumte, oft laut, aber nie von Dauer, schließlich hatte ich wöchentlich eine Zeitschrift zu füllen.
Eine wichtige Relativierung: Nicht alle meine Kollegen waren in jenem Lager. Aber die Mehrheit. Die coolen sind noch immer meine Freunde. Und in der aktivistischen Künstlerin Caroline Coon, die sich auch mit Punk befasste, fand ich eine Mentorin. Gleichermaßen schaffte ich es, ein paar außergewöhnliche Frauen zu interviewen, die bereits vor den She-Punks aktiv waren, insbesondere die äußerst anmutige Gladys Knight; die super witzige Stevie Nicks von Fleetwood Mac, mit der ich auf der Portobello Road unter dem ikonischen Westway shoppen ging, wobei sie sich mit Vintage-Zeug eindeckte; die opernhafte Diamanda Galas, deren Gesangsfähigkeit in durchdringenden, bedrohlichen zweistimmigen Obertönen Glasscheiben erbeben ließ, was das Werk der kanadischen Inuit-Singer-/Songwriterin Tanya Tagaq ein halbes Jahrhundert später ankündigte; sowie die Avantgarde-Keyboarderin Annette Peacock. Gemeinsam mit ihrer Tochter lebte sie in einem besetzen Haus in meiner Nähe, hinter Holland Park in Frestonia, dem prototypischen Freistaat in London, in jener Art libertärer Mikro-Utopie also, die der klassische britische Film Passport to Pimlico entworfen hat. (Besetzte Häuser werden in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielen, wo auch immer sich die She-Punks befinden mögen.) Jahrzehnte später wiederum sollte Kult-Shero Peacock dann Nastya Mineralova aus Russland inspirieren, eine Musikerin im aktivistischen Pussy-Riot-Kollektiv.
Ist es bloße Sturheit, dass ich 50 Jahre später noch immer über Frauen schreibe, die faszinierende Musik machen? Nein, oder jedenfalls nicht das allein. Ich will das Erstaunen und den anerkennenden Jubel teilen, der mich erfüllte, als ich das erste Mal Poly Styrene von X-Ray Spex »Oh Bondage, Up Yours!« schreien hörte. In diesen eher ruhigen Tagen wusste ich auf Anhieb, dass das »Bondage«, über das...
Erscheint lt. Verlag | 19.1.2022 |
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Verlagsort | Mainz |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Musik |
Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit | |
Schlagworte | all female band • bikini kill • Blondie • Debbie Harry • Empowerment • Feminismus • Frauenbewegung • Gender Studies • Grace Jones • Kathleen Hanna • Lizzy Mercier Descloux • Musikerinnen • Musikjournalismus • New Wave • Patti Smith • Popkultur • Post-Punk • Punk • Queer • Riot Grrrl • Sleater-Kinney • Subkultur • Tamar-kali • The Raincoats • The Slits • Tina Weymouth • Underground • X-Ray Spex |
ISBN-10 | 3-95575-618-1 / 3955756181 |
ISBN-13 | 978-3-95575-618-5 / 9783955756185 |
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