Lock Down - 10 Wochen (eBook)
100 Seiten
Meinbestseller.de (Verlag)
978-94-036-4977-1 (ISBN)
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Kapitel 1
Tag 11
Riedkirchen
In Riedkirchen herrschte Alarmstimmung. Seitdem sich gestern die Bundeswehr als Fälschung herausgestellt hatte, sank die erste hochfliegende Hoffnung schnell wieder ab und machte einer allgemeinen Depression Platz. Da hatte dieser Unteroffizier doch tatsächlich den Lehrer erschossen! Empörung und Wut vermischte sich mit Hilflosigkeit. Was sollte man schon gegen bewaffnete Soldaten ausrichten? Denn die Bundeswehr als Institution mochte sich als Fälschung herausgestellt haben, die Soldaten aber waren genauso echt wie deren Waffen.
Nach dem Tod des Lehrers rief Hermine Schneider, die Bürgermeisterin von Riedkirchen, am nächsten Tag zur Krisensitzung. Alle Ratsmitglieder fanden sich ein.
»Meine Herren«, Hermine gebrauchte immer noch gerne diese Redewendung, obwohl sich alle schon duzten. »Wir alle trauern um Wilfried Bold, unseren Lehrer für Geschichte am Gymnasium und außerdem Ratsmitglied. Brutal und völlig unnötig erschossen von diesem Sören Kreplin aus dem Nachbarort Emmerdingen – einfach um ein Zeichen zu setzen. Und leider haben wir keine Zeit, zu trauern, denn die Bedrohung durch diesen ehemaligen Unteroffizier der Bundeswehr ist sehr real. Und unmittelbar. Wir müssen unbedingt einen Weg finden, damit umzugehen!«
Hermine sah in die Runde der betretenen und deprimierten Gesichter. »Ihr habt es alle gehört. Er wird wiederkommen und seinen Tribut festlegen. In unserer jetzigen Position kann er alles verlangen.«
»So frustrierend«, ließ sich Egon Sattler vernehmen, der Apotheker am Ort. »Jetzt haben wir mit viel Mühe so etwas wie eine beginnende Struktur aufgebaut, haben echte Aussichten, eigene Nahrung zu produzieren. Dem Betrieb von Lukas werden wir eine waschechte Schmiede verpassen – und kaum ist das in den Startlöchern, kommt einer, der es uns wieder wegnehmen will.«
»Ich fürchte, es geht sogar noch etwas weiter.« Finn hatte sein Kinn nachdenklich auf seine Handfläche gestützt. Seine dunklen Haare waren ungekämmt und seine sonst stechend blauen Augen etwas verschleiert. Er sah übernächtigt und müde aus, was er auch war. »Dieser Sören wird unsere bescheidene Infrastruktur nicht kaputtmachen wollen. Er wird sie freudig nutzen wollen, und wir sollen fleißig darin arbeiten, um ihm die Früchte zu geben. Er wird die Kuh, die er zu melken gedenkt, nicht schlachten. Und unsere Spritvorräte bei den Tankstellen wird er wohl auch bald für seine Militärfahrzeuge in Anspruch nehmen.«
»Bist ja ein echter Aufmunterungsbolzen, Finn!«, merkte Jonas Wagner, der Polizeihauptkommissar, mürrisch an.
»Oh, ich war noch nicht fertig! Neben den Ressourcen, die wir im Depot haben und demnächst herstellen, haben wir noch andere Dinge, die sich solche Typen gerne nehmen. Das sind hübsche, junge Frauen.«
Finn wurde es ganz schlecht von seinen eigenen Worten. Er runzelte die Stirn und dachte an Conny, die Tochter des Nachbarn. Blonde, lange Haare, tolle Figur und ein umwerfend sonniges Lächeln, Anfang 20. Ja, sie würde als Archetypus jener Frau gelten, auf die es gesetzlose Warlords gerne abgesehen haben.
Conny und er hatten sich seit der Krise zart und vorsichtig angenähert. Finn fühlte den Tod seiner Frau vor ein paar Jahren immer noch wie eine offene Wunde in sich. Trotzdem hatte ihm Conny unabsichtlich geholfen, aus seiner grummeligen Isolierung herauszukommen und wieder etwas Leben zu schnuppern. Finn achtete und respektierte sie, und es wäre gelogen, wenn ihm ihre weiblichen Reize entgangen wären. Ein gutes Zeichen eigentlich; ich sollte mich nicht so dagegen wehren. Auch wenn sie natürlich nichts von einem Typen wie mir will, aber darum geht es ja gar nicht. Es musste wohl erst eine richtige Krise kommen, damit ich wieder so etwas wie Leben verspüre. Was sagt das eigentlich über mich aus? Egal jetzt, es geht gerade um Wichtigeres als um meine psychologischen Verirrungen. Er versuchte seine Aufmerksamkeit wieder der Ratssitzung zuzuwenden.
Lukas Weidelener, der Unternehmer, in dessen Fabrikhalle sie jetzt die Schmiede einbauen – oder besser gesagt die vorhandenen Einrichtungen erweitern würden – plusterte sich gerade auf. Er glotzte Finn ungläubig an.
»Sag mal, was hast du eigentlich für Fantasien? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
Der örtliche Polizeihauptkommissar, Jonas, sprang ein. »Ich fürchte, Finn hat hier durchaus recht. Wenn einmal der Damm gebrochen ist, was soll sie dann aufhalten, alles zu nehmen, was die Umgebung so hergibt? Seine eiskalte Skrupellosigkeit hat dieser Sören gestern unter Beweis gestellt, indem er Wilfried erschossen hat. Einfach nur, um zu zeigen, dass er es ernst meint! Der Typ ist ein Psychopath! Ein Psycho mit Waffen, wohlgemerkt. Und er ist nicht alleine, wie wir alle gesehen haben. Stellen wir uns lieber auf das Schlimmste ein und hoffen, dass wir uns irren.«
»Ok, meine Herren«, griff die Bürgermeisterin wieder ein. »Es ist also schlimm, das haben wir alle kapiert. Was tun wir dagegen?«
Es verstrich eine Minute, in der jeder seinen Gedanken nachhing. Lukas räusperte sich schließlich. »Wir müssen uns mit dem wehren, was wir haben. Barrikaden bauen, dahinter Bürger aufstellen, diese bewaffnen …«
»Mit was denn?«, unterbrach ihn Jonas. »Ich habe eine Handvoll Pistolen in der Polizeiwache und etwas Munition. Das ist alles! Und damit umgehen können wahrscheinlich eh nur ich und mein Kollege im Ort.«
»Notfalls mit Knüppeln, Heugabeln, Steinen, was weiß ich!«, erregte sich jetzt der eher zurückhaltende Apotheker Egon. »Auf jeden Fall können wir unsere Frauen und Töchter nicht diesen Verbrechern ausliefern!«
»Wir haben ja auch noch unseren Schützenverein. Ein paar einfache Waffen könnten wir auftreiben.«, sinnierte Hermine. »Sollen wir also eher kämpfen und das Leben unserer Bürger aufs Spiel setzen – oder erst einmal die Forderungen erfüllen, um Zeit zu gewinnen?«
»Du würdest dem wirklich unsere jungen Frauen ausliefern?« Ungläubiges Erstaunen von Egon. Dass er Finn vorhin noch bei diesem Gedanken als Fantasten abgetan hatte, schien er nicht zu bemerken. Aber auch die anderen Ratsmitglieder sahen ihre Bürgermeisterin teils schockiert, teils ungläubig an.
»Nein, natürlich nicht!«, beschwichtigte Hermine gereizt. »Hört mich doch erst mal an, bevor ihr mir hier die schlimmsten Sachen unterstellt. Ich meinte eher, wir sollten uns zuerst die Forderungen anhören, die Emmerdingen stellen wird. Parallel könnten wir uns irgendwie hochrüsten. Keine Ahnung. Waffen erfassen, die Leute, die damit umgehen können, herausausdeuten und prüfen, wie wir effektive Barrikaden bauen können. Die werden doch wohl aus ihrer Kaserne keinen Panzer geklaut haben, oder?«
»Unwahrscheinlich!«, warf Finn dazwischen. »Das sind einfach zu große Spritfresser. Damit wären sie nicht weit gekommen.«
»Gut, immerhin. Aber wir müssen uns bald entscheiden. Kämpfen oder nachgeben?« Hermine blickte in die Runde. Unsicherheit war in jedes Gesicht der Ratsmitglieder geschrieben. Niemand wollte eine Entscheidung treffen, die den Tod von Mitbürgern bedeuten konnte – oder ihren eigenen Tod. Die Warnung von Sören bedurfte keiner weiteren Erläuterung. Der eine oder andere Blick huschte unwillkürlich zu der Stelle, an der gestern noch die Leiche des Lehrers gelegen hatte.
Auch Hermine starrte auf den Fleck. Das Blut ist nicht ganz rausgegangen. Wenn wir das nicht abschleifen, wird es jetzt ewig in den Holzdielen bleiben. Als Erinnerung – und als Mahnung.
In die unbehagliche Stille hinein sagte sie schließlich: »Denn immerhin haben wir als Option durchaus Verhandlungspotenzial. Wie Finn vorhin so treffend bemerkt hat, wird kein vernünftiger Mensch die Kuh schlachten wollen, die er melkt.«
»Vernünftig, ist das Schlüsselwort«, brummte Finn in seinen Wochenbart. Er wurde trotzdem von allen gehört. »Mir fällt es schwer, auf die Vernunft eines selbst ernannten Warlords zu setzen, oder – was das angeht – seinem Wort zu vertrauen. Warum soll er sich an Regeln halten, wenn ihn keiner bestraft, falls er sie bricht?«
»Ja, wir müssten zumindest in der Lage sein, ihm Konsequenzen aufzuzeigen, sonst können wir uns gleich mit Sklaverei abfinden.« Missmutig stützte Jonas sein Doppelkinn in seine verschränkten Hände.
»Aber dafür leben?« Lukas hatte die Frage nur leise gestellt – fast nur sich selbst, aber auch hier hatte sie jeder im Raum vernommen. Wieder kehrte Stille im Saal ein, nur unterbrochen durch einige Laute von Aktivitäten vom Marktplatz vor dem Rathaus.
Die Bürgermeisterin sah vom Fenster aus nachdenklich auf das seltsam entschleunigte und friedliche Treiben der Einwohner ihrer Stadt. Hier überquerte gerade ein älterer Mann in blauer Arbeitskleidung den Platz. Er hatte einen Wasserkanister in der Hand – zweifellos, um eine der Mietwohnungen zu versorgen. Der Fluss lieferte Gott sei Dank genügend frisches Wasser, aber die Schlepperei war nicht zu unterschätzen, wenn man etwas davon in der Wohnung haben wollte. Trotzdem hatte der Mann keine Eile. Er lächelte einer Frau in auffallend sauberer Kleidung zu, die einen Wäschekorb unter dem Arm geklemmt hatte. Er setzte den Eimer ab und blieb stehen, um sich zu unterhalten. Wir kämpfen ums Überleben, aber die Hektik ist weg. Die Arbeit ist schwer geworden, aber zumindest die beiden da unten sehen nicht unglücklicher aus als zuvor. Wie lange wird sie wohl noch genügend Waschmittel für ihre Kleider haben? Irgendwer in diesem kleinen Städtchen wird doch wissen, wie die Leute im Mittelalter Seife hergestellt haben, oder?
Zögerlich riss sie sich von dem friedlichen Bild los...
Erscheint lt. Verlag | 22.1.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte |
ISBN-10 | 94-036-4977-1 / 9403649771 |
ISBN-13 | 978-94-036-4977-1 / 9789403649771 |
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