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Jenseits der Grünen Linie (eBook)

Ein Israeli berichtet aus den palästinensischen Gebieten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
304 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-512-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jenseits der Grünen Linie - Ohad Hemo
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Ein Israeli verschafft palästinensischen Stimmen Gehör

Nach dem jüngsten Gaza-Krieg scheinen die Gräben zwischen Israelis und Palästinensern wieder einmal unüberwindlich. Einer, der unermüdlich dafür kämpft, die Sichtweisen der anderen Seite zu vermitteln, ist der israelische Journalist Ohad Hemo. Seit fast zwei Jahrzehnten berichtet er aus den palästinensischen Autonomiegebieten und hat sich an Orte gewagt, die die meisten seiner Landsleute niemals betreten würden. In diesem Buch gibt er intime Einblicke in die palästinensische Gesellschaft, wie sie selten zu bekommen sind. Und er plädiert nachdrücklich dafür, die Zwei-Staaten-Lösung zu retten, so lange es noch möglich ist.

»Um den Stimmen der Palästinenser:innen Gehör zu verschaffen, geht Ohad Hemo seit Jahren keiner Gefahr aus dem Weg. Durch seine Menschlichkeit und Unerschrockenheit hat er das Vertrauen der Menschen gewonnen. Ein faszinierendes Buch.« ABRAHAM B. YEHOSHUA



Ohad Hemo gehört zu den wenigen israelischen Journalisten, die regelmäßig in das Westjordanland und den Gaza-Streifen reisen. Seit fast 20 Jahren berichtet er über die Palästinensergebiete und die Palästinenser. Hemo hat Middle Eastern Studies an der Hebrew University Jerusalem studiert und arbeitet heute für den populärsten TV-Sender seines Landes, Channel 12. Im Jahr 2017 wurde er mit dem Cutting Edge Award ausgezeichnet, 2021 mit dem Sokolov Award, Israels renommiertestem Journalismus-Preis.

Prolog


Wir gingen durch die engen Gassen Dheischehs südlich von Bethlehem, nicht weit von Jesus’ Geburtsort. Es ist eines der größten palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland. Die Häuserwände sind mit Graffiti bedeckt, die zwischen naiv und provokativ rangieren, Bilder von Kindern, die Ballons fliegen lassen, sind ebenso zu sehen wie Illustrationen von Gewehren und Porträts von Schahids [islamische Märtyrer für den Heiligen Glaubenskrieg]. Wir waren schon seit vielen Jahren befreundet, Muhammad Ja’far und ich. Er gilt als führender Vertreter der PLO in Dheischeh und spricht fließend Hebräisch, ein Andenken an seine Vergangenheit als Häftling im israelischen Gefängnis während der beiden Intifadas. Ich selbst bin ein israelischer Journalist, der schon seit fast zwei Jahrzehnten in den besetzten Gebieten ein und aus geht und der israelischen Öffentlichkeit, die seit Jahren keinen Fuß hierher setzt, als Auge und Ohr dient.

»Könnte es sein«, stichelte ich, »dass ihr gar nicht mehr so wichtig seid? Während sich bei euch immer noch alles um den Konflikt mit uns dreht, hat sich Israel längst weiterentwickelt. Die arabische Welt hat sich uns geöffnet, die Golfstaaten, der Sudan, Marokko unterzeichnen Friedensabkommen, die Normalisierung greift um sich – womöglich habt ihr einfach den Zug verpasst.«

Muhammad blickte mich an und deutete dann auf einen barfüßigen, etwa vier Jahre alten Jungen, der in der armseligen Gasse herumstrolchte.

»Siehst du ihn?«, erwiderte er. »Dieser Junge, Ohad, ist viel relevanter für dein Leben und das Leben der Israelis als jeder Emir oder Scheich aus den Emiraten oder Bahrain, der mit euch ein Friedensabkommen unterzeichnet. Alles Geld der Welt wird euch nichts nützen, wenn dieser Junge weiter in Armut und Elend unter der Besatzung lebt.«

»Und inwiefern ist er relevanter?«, hakte ich nach.

»Wenn dieser Junge beschließt, sich einen Sprengstoffgürtel um den Bauch zu schnallen oder sich eine Waffe zu nehmen, und einen Anschlag verübt, dann wird euch kein Millionär aus den Emiraten helfen können«, sagte er. »Und daher, löst erst einmal den Konflikt mit uns, euren Nachbarn, denn solange der nicht gelöst ist, werdet ihr keine wirkliche Ruhe haben und auch nicht aufhören, ein Fremdkörper im Nahen Osten zu sein.«

Diese einfache Wahrheit bringt derzeit die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts am besten auf den Punkt. Jahrzehntelang stand diese Auseinandersetzung im Brennpunkt des Interesses, das der Nahe Osten hervorrief, und ihre Ausläufer waren in fast jeder Ecke der Region und darüber hinaus wahrzunehmen. Doch der Arabische Frühling 2011 ließ dieses Interesse allem Anschein nach schwinden. Staaten fielen auseinander, Bürgerkriege brachen aus, radikale islamische Gruppierungen entstanden und bestimmten die internationale Agenda, und die Konfrontation zwischen den Giganten Sunniten und Schi’iten rückte in den Vordergrund. All das führte dazu, die komplizierten Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern weniger relevant erscheinen zu lassen. Ist das tatsächlich so?

Immer noch bilden diese Beziehungen eine der zentralen tektonischen Platten, die im Nahen Osten in Bewegung sind, und die seismischen Wellen breiten sich über die Grenzen des historischen Landes Israel oder Palästina aus. Auch heute befeuert dieser Konflikt diverse antiwestliche Gruppierungen in der arabischen und muslimischen Welt.

Doch 2022 unterscheidet sich die Lebenswirklichkeit in den besetzten Gebieten drastisch von der, die ich vor fast zwei Jahrzehnten erlebt habe. Es ist schwierig, den Moment auszumachen, wo die Veränderung begann. Wie bei einem riesigen Schiff verlief der Kurswechsel langsam, fast unmerklich. Die katastrophalen Ergebnisse der Zweiten Intifada, die Desillusionierung über die Selbstverwaltungsinstitutionen in Gaza und im Westjordanland, die Entfremdung von ihnen, dazu die schleichende Verzweiflung darüber, dass keine Aussicht auf Veränderung besteht – das alles hat das Schiff von seiner Richtung abgebracht und, wie mir scheint, auf einen neuen Kurs gesetzt, der eigentlich ein alter ist.

Der erste bedeutsame Wendepunkt war natürlich das Jahr 1993, als der Weg zur staatlichen Souveränität gebahnt wurde – nicht mit Waffengewalt, sondern durch Verhandlungen, die mit einem mutigen Händedruck endeten. Durch die Unterzeichnung des Osloer Friedensvertrags und die Etablierung der Palästinensischen Autonomiebehörde wurde eine palästinensische Teil-Unabhängigkeit eingeleitet. Dann jedoch brach die Zweite Intifada aus, deren Erkennungsmerkmal der Sprenggürtel war, und der Traum vom palästinensischen Staat, der in greifbarer Nähe zu sein schien, rückte in weite Ferne.

Innerhalb von sieben Jahren hatten die Palästinenser zwei große strategische Entscheidungen getroffen – einmal entschieden sie sich für den Frieden und einmal für den Krieg. Seit jedoch die Zweite Intifada ihr Ende gefunden hat, trifft auf beiden Seiten niemand mehr eine Entscheidung. Alle scheinen sich einig zu sein, dass der Frieden zu viele Gefahren birgt und der Krieg einen zu hohen Preis hat.

Doch es wäre ein Irrtum zu denken, dass die Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern an einem toten Punkt eingefroren wären. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte haben sich auf beiden Seiten weitreichende Veränderungen ergeben. Dieses Buch möchte einen frischen und ungewöhnlichen Blick auf die Entwicklungen bieten, die sich auf palästinensischer Seite abspielen.

Das Jahr 2021 wird auch wegen eines Ereignisses in Erinnerung bleiben, das für die Beziehungen zwischen Israel und dem Gazastreifen von historischer Bedeutung ist: die Operation Schomer chomot (»Schutzschild«), wie es in Israel genannt wird, oder Krav cherev jeruschalajim (»Operation Jerusalem-Schwert«), wie die Palästinenser es nennen, oder auch einfach »der vierte Gazakrieg«, wie ich es bezeichne. Es war für beide Seiten so zerstörerisch wie die übrigen Militäraktionen der letzten eineinhalb Jahrzehnte in Gaza. Und doch war etwas neu.

In den Kämpfen, die am 10. Mai 2021 ausbrachen, wollten die Machthaber im Gazastreifen zum ersten Mal ihren Einflussbereich erweitern und eröffneten eine Front aufgrund von Ereignissen, die sich fern von ihrem 365-Quadratkilometer-Territorium abspielten: die schweren Auseinandersetzungen im Ostjerusalemer Stadtteil Scheich Jarrah und auf dem Tempelberg seit Anfang des Monats. Israel wurde ultimativ aufgefordert, seine Sicherheitskräfte von der al-Aqsa-Moschee und aus dem Viertel zurückzuziehen; fünf Raketen, die der militärische Flügel der Hamas auf Jerusalem abschoss, sollten der Forderung Nachdruck verleihen. Ein Signal, dass die Hamas nicht nur in Gaza, sondern auch in anderen Teilen des Landes Veränderungen erreichen wollte.

Ein besonderer Erfolg des elftägigen Feldzugs bestand in den Augen der Palästinenser darin, dass zum ersten Mal seit Jahren von verschiedenen Punkten aus gleichzeitig agiert wurde. Gaza kämpfte, Tausende junge Leute im Westjordanland stellten sich, genauso wie ihre Altersgenossen in Ostjerusalem, den israelischen Sicherheitskräften entgegen, und vom Libanon aus wurden Raketen abgeschossen. Doch der wichtigste Schauplatz der Auseinandersetzung lag, erstmals seit Oktober 2000, innerhalb des Staates Israel. Einige Tausend Palästinenser, israelische Staatsbürger, kamen den Aufrufen aus Gaza nach und beteiligten sich an gewalttätigen Protesten in den Städten des Landes mit gemischter Bevölkerung. Steine wurden geworfen, Brandsätze geschleudert, vereinzelt wurden Juden gelyncht, Synagogen angezündet und mehr. Der palästinensische Kampf um Jerusalem versetzte ganze Sektoren in Aufruhr, die über Jahre ruhig geblieben waren. So entstand das Gefühl, die Palästinenser vereinigten sich und forderten gemeinsam die übermächtige Herrschaft der Israelis heraus.

In den Monaten nach dem Krieg ging der Stern der Hamas auch im Westjordanland auf. Laut palästinensischen Umfragen im September 2021 wollten 56 Prozent der Palästinenser, auch im Westjordanland, Isma’il Hanija, Chef des Politischen Büros der Hamas, als palästinensischen Präsidenten. Nur 34 Prozent befürworteten eine Fortsetzung der Amtszeit von Muhammad Abbas, Vorsitzender der Fatah und der Palästinensischen Autonomiebehörde. Das war ein Ergebnis der Hochstimmung nach den Erfolgen in der Auseinandersetzung, zusammen mit der Enttäuschung und dem Zorn über die Autonomiebehörde, die die Wahlen verschoben hatte. Es wäre der erste Urnengang in den besetzten Gebieten seit fünfzehn Jahren gewesen.

Wieder bewies sich, dass es trotz der Dezimierung der Hamasbasis im Westjordanland durch Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde, trotz der Verhaftungen und Knebelung aller, die mit der islamischen Organisation in Zusammenhang gebracht wurden, etwas gibt, das schwer auszurotten ist – und das ist die Verwurzelung in den Herzen.

Mein Herz raste vor Angst. Schweißtropfen liefen über meinen Rücken, während ich aufs Gaspedal trat. »Wenn mir hier was passiert, wäre...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2022
Übersetzer Barbara Linner
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Fatah • Flüchtling • Flüchtlingslager • Gaza • Geschichte • Gesellschaft • HAMAS • Heiliges Land • Intifada • Islam • Islamischer Dschihad • Israel • Jerusalem • Journalismus • Judentum • Jugend • Konflikt • Krieg • Mittlerer Osten • Naher Osten • Nahostkonflikt • Nakba • Palästina • Ramallah • Selbstmordattentäter • Terrorismus • UN • Vereinte Nationen • Westjordanland • Zweistaatenlösung
ISBN-10 3-86284-512-5 / 3862845125
ISBN-13 978-3-86284-512-5 / 9783862845125
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