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Das deutsch-russische Jahrhundert (eBook)

Geschichte einer besonderen Beziehung
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
672 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00154-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das deutsch-russische Jahrhundert -  Stefan Creuzberger
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Nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2022 Deutschland und Russland - es gibt kaum andere Staaten auf der Welt, deren Beziehungen während der vergangenen einhundert Jahre auch nur annähernd so nachhaltig durch Revolution und Umbruch, durch Terror und Gewalt sowie Abgrenzung und Verständigung geprägt geworden sind. Diese drei gemeinsamen Wirklichkeiten bestimmten immer wieder das Weltgeschehen und wirken bis in die Gegenwart. Das gilt umso mehr, als es aktuell um das bilaterale Verhältnis insgesamt nicht gut steht. Das wirft die Frage auf: Was nun, deutsch-russisches Jahrhundert?  Stefan Creuzberger erzählt die spannungsreiche Geschichte einer von dramatischen Zäsuren, Wechselwirkungen und Veränderungen bewegten Epoche. Mehr noch: Seine Darstellung will historisch interessierte Leserinnen und Leser für ein einfühlsames Verstehen der mitunter verwickelten Gesamtzusammenhänge einer faszinierenden Beziehungsgeschichte von Deutschen und Russen gewinnen.

Stefan Creuzberger, geboren 1961 in Calw, ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Rostock und Leiter der Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland. Er publiziert zur deutschen und russischen Geschichte im 20. Jahrhundert und ist u. a. Mitherausgeber der Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD) sowie Mitglied der Gemeinsamen Deutsch-Russischen Geschichtskommission.

Stefan Creuzberger, geboren 1961 in Calw, ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Rostock und Leiter der Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland. Er publiziert zur deutschen und russischen Geschichte im 20. Jahrhundert und ist u. a. Mitherausgeber der Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD) sowie Mitglied der Gemeinsamen Deutsch-Russischen Geschichtskommission.

II. Revolution und Umbruch


Vorrevolutionäre Lebenswelten. Befindlichkeiten und Akteure


«Deutsche auf dem Thron, Deutsche neben dem Thron, die Feldherren Deutsche, die Außenminister Deutsche […], überall Deutsche bis zum Überdruss. Deutsche Weiber besetzen fast ausschließlich die Posten der Kaiserinnen […]»,[1] polemisierte 1859 der einst von Lenin als Urvater der Russischen Revolution gerühmte Philosoph und politische Schriftsteller Alexander Herzen. Diese Elitenkritik wirkte in mancherlei Hinsicht befremdlich, zumal Herzen selbst über seine Mutter deutsche Wurzeln besaß.

Sein hasserfüllter Kommentar gegenüber den Deutschen im Zarenreich beruhte in erster Linie auf den üblen persönlichen Erfahrungen, die er als einer der ersten russischen Sozialisten[2] während der zurückliegenden, von Kadavergehorsam und repressiver Überwachung geprägten Herrschaft des Zaren Nikolaus I. gemacht hatte. Und in der Tat hegte der Zar, dem der Ruf eines «Gendarmen Europas» vorauseilte, nicht nur eine ausgesprochene Vorliebe für alles Preußische, sondern setzte auch in seinem Staats- und Verwaltungsapparat vornehmlich auf Deutsche.[3] Dem baltendeutschen Aristokraten Alexander von Benckendorff etwa vertraute Nikolaus I. unmittelbar nach seiner Thronbesteigung 1826 den Auf- und Ausbau der berüchtigten tretij otdjel, der «Dritten Abteilung», an. Dahinter verbarg sich ein Geheimpolizeiwesen, das bis zum Ende des Zarenreiches existierte, sich eines ausgeklügelten Spitzelapparates bediente und in politisch oppositionellen Kreisen der russischen Intelligenzija gemeinhin zum Symbol der zarischen Gewaltherrschaft avancierte.[4] Man konnte also sehr wohl den Eindruck gewinnen, dass Russlands politische Elite überwiegend deutsch geprägt war.

Hinzu kamen die engen dynastischen Verbindungen nach Deutschland. Nikolaus war mit Prinzessin Charlotte von Preußen verheiratet. Damit stand er in einer Tradition, die im Hause Romanow bis in das 18. Jahrhundert zurückreichte. Seit Peter dem Großen verfolgte man dort eine Heiratspolitik, die zunächst auf die Herrscherhäuser der deutschen Kleinstaaten, später dann auf die Hohenzollern zielte,[5] was die Zaren aus der bis dahin praktizierten russischen Selbstisolation befreite und mancherlei politische Allianzen besonders im Umfeld der Napoleonischen Kriege oder während des Krimkrieges[6] begünstigte. Die Romanows wurden nun internationaler, um nicht zu sagen: deutscher. Sie fanden Anschluss an die grenzüberschreitenden Netzwerke der westeuropäischen Hocharistokratie, die jenseits der unterschiedlichen politischen Systeme und nationalstaatlichen Beschränkungen ganz eigenen Gesetzlichkeiten folgten.

Die Beziehungen in dieser Welt basierten vornehmlich auf engen Familienbanden. Sie leiteten sich in jenen Zirkeln aus standesgemäß-traditionellen Wertvorstellungen ab, die allgemeinverbindlich waren und häufig ein Loyalitätsgebaren von eigener Qualität nach sich zogen. Überhaupt fühlten sich die Mitglieder der Zarenfamilie ausgesprochen wohl in Deutschland und unterhielten innige Kontakte zur dortigen Verwandtschaft. Zwischen den Hohenzollern und den Romanows gab es darüber hinaus ein ganz besonders verbindendes Moment: Die beiden letzten Monarchen dieser Dynastien, Wilhelm II. und Nikolaus II., zeichneten sich durch ihren unverhohlenen Antisemitismus aus. Sie waren zutiefst durchdrungen von dem Gedanken der «jüdischen Weltverschwörung», weshalb sie in Juden Agenten sahen, die im Dienste von Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus die bestehende Herrschaftsordnung bedrohten. Das musste ihrer Auffassung nach unter allen Umständen vereitelt werden. Zumindest in dieser Hinsicht bildeten sie eine feste Interessengemeinschaft.

Auch in anderem Zusammenhang pflegten die Spitzen beider Herrscherhäuser ein auffallend enges Vertrauensverhältnis, das zwischen Petersburg und Wien, London oder gar Paris in dieser Form nicht existierte. An ihren Höfen waren persönlich bevollmächtigte Flügeladjutanten akkreditiert. Im Unterschied zu Diplomaten oder Militärattachés hatten sie jederzeit unmittelbaren Zugang zu ihrem entsendenden Monarchen und waren auch nur diesem gegenüber rechenschaftspflichtig. Daraus erwuchsen nützliche Kommunikationskanäle, die, losgelöst vom diplomatischen Protokoll, die staatliche Außenpolitik in krisengeschüttelten Zeiten sinnvoll ergänzen konnten.[7]

Derartige dynastische Sonderverbindungen erwiesen sich mitunter aber auch als Sand im Getriebe der Staatsmaschinerie, zumal sie nicht unerheblich von den persönlichen Befindlichkeiten der handelnden Akteure abhingen. Das traf für Russland und Deutschland vor allem um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu. Denn mit dem deutschen Kaiser Wilhelm II. und seinem russischen Cousin Zar Nikolaus II. standen sich zu jener Zeit zwei politische Protagonisten gegenüber, die von ihrer Persönlichkeitsstruktur und ihrem Auftreten unterschiedlicher hätten kaum sein können: So gerierte sich der Preuße als selbstverliebter, extrovertierter Polterer – ein manisch, bisweilen paranoid wirkender, unberechenbarer Herrscher, der durch die Sprunghaftigkeit seiner Handlungen auffiel und sich in unverbesserlicher Selbstherrlichkeit häufig in die Innen- und Außenpolitik direkt einmischte.[8] Bei dem Staatsbesuch Wilhelms im Jahre 1888 gewann bereits der zu drastischen Formulierungen neigende Zar Alexander III. den Eindruck, er habe einem «kindischen Affen» gegenübergesessen.

Der letzte russische Kaiser Nikolaus II. war dagegen eher schüchtern, gleichwohl sprachbegabt und mit einem bemerkenswerten Gedächtnis gesegnet. Häufig fehlte es ihm aber an staatsmännischem Weitblick. Er versuchte immer wieder, sich der politischen Verantwortung zu entziehen, weil er sein Amt zumeist als unangenehme Bürde empfand. Gegenüber Politikern und der Gesellschaft hegte der wenig intellektuell veranlagte Autokrat deshalb ein ganz besonderes Misstrauen. Rückhalt und Selbstvertrauen gab ihm allein der engste Kreis seiner Familie, besonders die geliebte Ehefrau Alexandra Fjodorowna, auch sie eine Deutsche, aus dem Hause Hessen-Darmstadt. Nicht zuletzt deshalb zog er sich im Verlauf der Jahre immer mehr ins Privatleben zurück, was ihn zusehends seinen Ministern, der höfischen Gesellschaft wie überhaupt seinem Volk entfremdete und schließlich in die Isolation trieb.[9]

Werben um Russland und die Folgen


In den Augen des selbstbewussten deutschen Kaisers waren dies keinesfalls Eigenschaften, die von Entschlusskraft oder besonderer Führungsstärke zeugten. Folglich mühte er sich, den Zaren seit dessen Thronbesteigung im Jahre 1894 für einen fundamentalen Umbruch im damaligen internationalen Mächtesystem zu gewinnen: Das russische Imperium sollte aus der bestehenden Allianz mit Frankreich herausgebrochen und als Juniorpartner für ein Bündnis des mit Österreich-Ungarn liierten Deutschen Reiches gewonnen werden. Das Ganze sollte zudem durch wirtschaftspolitische Anreize und Abkommen flankiert werden. So und nicht anders hoffte man in Berlin, sich für den Fall eines europäischen Krieges des Albtraums einer russisch-französischen Zweifronten-Situation zu entledigen, um damit annähernd jene bündnispolitische Konstellation wiederherzustellen, wie sie 1890 vor der Nichtverlängerung des deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages bestanden hatte.[10] Wilhelm war dabei fester Überzeugung, leichtes Spiel zu haben, zumal «Nicky», wie er den Zaren in seiner umfänglichen Korrespondenz vertrauensvoll zu nennen pflegte, seiner Auffassung nach «klein, schwächlich, scheu [und als Person zu betrachten war], die kaum ein Wort zu sagen hat».[11]

Der Kaiser umschmeichelte den Zaren in aufdringlichster Weise, spielte sich dabei belehrend gegenüber dem neun Jahre Jüngeren als väterlicher Freund auf und appellierte an dessen monarchische Solidarität, wobei er das Prinzip des Gottesgnadentums als ein beide Herrscherhäuser besonders verbindendes Moment immer wieder in den Vordergrund rückte.[12] Da Wilhelm überdies nicht unerheblich dazu beigetragen hatte, die Eheschließung zwischen Nikolaus und Alix von Hessen-Darmstadt zu vermitteln,[13] sah er den Zaren in einer Bringschuld.

Der von bündnisstrategischen Erwägungen getriebene deutsche Monarch ließ nichts unversucht, um bei dem zwischenzeitlich schon gereizten russischen Verwandten mit seinen Ideen durchzudringen. Seit 1895 ermunterte Wilhelm ihn zu einem verstärkten außenpolitischen Engagement im Fernen Osten und wollte ihn im Geiste einer europäischen Zivilisierungsmission zum Verteidiger gegen die «gelbe Gefahr» anstacheln, all dies in der Erwartung, Russland den Westmächten zu entfremden. Unentwegt spornte er den Zaren zum militärischen Vorgehen gegen Japan an, lockte mit grandiosen Hegemonialplänen und imperialistischer Beute, die sich St. Petersburg nach einer militärischen Niederlage des Inselreichs böten – ganz Korea, ja sogar Peking könnte sich das zarische Imperium einverleiben. Nikolaus als «Admiral des Pazifiks» würde mit Wilhelm, dem künftigen «Admiral des Atlantiks», fortan Eurasien beherrschen, die Seedominanz der Briten brechen und deren «besten»...

Erscheint lt. Verlag 22.3.2022
Zusatzinfo Zahlr. 4-farb. u. s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • Angela Merkel • Deutschland • Deutsch-russische Beziehungen • Epochenporträt • Europäische Geschichte • Geopolitik • Gerhard Schröder • Helmut Kohl • Hitler-Stalin-Pakt • Josef Wissarionowitsch Stalin • Kalter Krieg • Krim • Mauerfall • Michail Gorbatschow • Moskau • NATO • Nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2022 • Nord Stream 2 • Putin • Putins Netz • Russische Revolution • Russland • Sowjetunion • Stalingrad • Ukraine • Ukraine-Konflikt • Vatertagsgeschenk • Vladimir Putin • Weltpolitik • Wladimir Putin • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-644-00154-5 / 3644001545
ISBN-13 978-3-644-00154-1 / 9783644001541
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