Berlin, 24. Juni 1922 (eBook)
304 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32133-3 (ISBN)
Thomas Hüetlin, geboren 1961, war lange Reporter beim SPIEGEL sowie Korrespondent in New York und London. Er erhielt für seine Arbeit zahlreiche Auszeichnungen wie den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den Henri-Nannen-Preis und den Deutschen Reporterpreis. Bücher u. a. »Mein Leben am Limit/Gespräche mit Reinhold Messner« (2004), »Gute Freunde - die wahre Geschichte des FC Bayern München« (2006), »Udo« (mit und über Udo Lindenberg, 2018) und »Berlin, 24. Juni 1922/Der Rathenaumord« (2022).
Thomas Hüetlin, geboren 1961, war lange Reporter beim SPIEGEL sowie Korrespondent in New York und London. Er erhielt für seine Arbeit zahlreiche Auszeichnungen wie den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den Henri-Nannen-Preis und den Deutschen Reporterpreis. Bücher u. a. »Mein Leben am Limit/Gespräche mit Reinhold Messner« (2004), »Gute Freunde – die wahre Geschichte des FC Bayern München« (2006), »Udo« (mit und über Udo Lindenberg, 2018) und »Berlin, 24. Juni 1922/Der Rathenaumord« (2022).
»Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band, die Brigade Ehrhardt werden wir genannt«
Wenn Männer wie Killinger, Tillessen und Schulz tranken oder in Reih und Glied marschierten, wenn sie also gut drauf waren, feierten sie ihre ausgelassene Laune und schulterklopfende Fröhlichkeit gerne mit einem schönen Lied auf den Lippen.
»Kamerad, reich mir die Hände, fest wollen wir zusammen stehen. Man mag uns auch bekämpfen, der Geist soll niemals verwehen.
Hakenkreuz am Stahlhelm, Schwarz-Weiß-Rotes Band, Die Brigade Ehrhardt werden wir genannt.
Die Brigade Ehrhardt, Schlägt alles kurz und klein, Wehe Dir, wehe Dir, Du Arbeiterschwein.«
Wer war dieser Ehrhardt? Wer war dieser Anführer, dessen Ausstrahlung so groß war, dass sich ihm, nachdem der große Krieg beendet war, junge Männer zu Hunderten unterwarfen, damit Ehrhardt mit Blut, Kampf und Disziplin Ordnung und Sinn in ihr junges Leben brachte?
Ein Leben, das vier Jahre lang Mörsergranaten, Giftgas und Maschinengewehrfeuer überstanden hatte. Eine elende industriell anmutende Massenschlächterei entlang schlammiger Schützengraben und Erde voller Stacheldraht. Ein Weltuntergang mitten in Europa, der zehn Millionen Männer den sofortigen Tod gebracht und 21 Millionen mit Verletzungen gestraft hatte, die sie zum Teil brutal behinderten oder entstellten für den Rest ihrer Tage.
Die Überlebenden dieser von hohen Männern in weißen Handschuhen inszenierten Vier-Jahres-Apokalypse hätten versuchen können, in ein ziviles Leben zurückzukehren, im Berufsleben Fuß zu fassen, so schwer das in dem darniederliegenden Land auch war. Aber sie wollten nichts vom Aufbau und Frieden wissen. Stattdessen weiter Waffen ölen, Waffen anlegen, Waffen abfeuern, jubeln, wenn das eigene Geschoss einem vermeintlichen Feind das Gehirn aus dem Kopf spritzen ließ. Viele von ihnen hatten auch keine anderen Qualifikationen, der Krieg war für sie ihre erste und einzige Erfahrung nach der Schule gewesen.
Der Blutrausch war Programm. So tief und voller Überzeugung, dass die ungehemmte Freude am Töten ideologisch anders eingestellter Landsleute sogar in Briefen nach Hause festgehalten wurde. »Pardon gibt es überhaupt nicht. Selbst die Verwundeten erschießen wir noch«, schrieb ein durch die Gewalttätigkeit seines Freikorps Aufgeputschter. »Alles was uns in die Hände kommt, wird mit dem Gewehrkolben zuerst abgefertigt und dann noch eine Kugel.«
Es half natürlich, wenn die Hohepriester solcher Reallife-Splatter-Orgien aussahen wie Gestalten, die auch anders konnten. Wie Männer, die, wenn sich Kerzenlicht in teuren Kristallgläsern bricht, formvollendet die Hand einer Dame küssen konnten. Wenn sie auch die Drecksarbeit für die besseren Kreise zu erledigen hatten, so war es doch gern gesehen, dass die Blutsöldner in den Privatgemächern der Macht eine gewisse Etikette zu befolgen wussten und die schwarzen Reitstiefel, mit denen sie eben noch die Köpfe der politischen Gegner zertreten hatten, nun makellos poliert waren.
Kapitän Hermann Ehrhardt war auch in dieser Disziplin eine Klasse für sich. Seine braunen Augen ruhten in einem Gesicht, das Entschlossenheit verriet und eine geradlinige Fügsamkeit für den Kaiser. Kinn und Oberlippenbart akkurat gestutzt, herausgeputzt in makelloser Uniform, die Mütze mit goldener Kokarde, Eichenlaub und Kaiserkrone wie ein wertvolles Schmuckstück auf dem Kopf platziert. In Treue fest, wie es damals hieß. Er beherrschte seinen Part als Gentleman, aber auf dem Feld konnte er zur Bestie werden.
Seine enorme Gewalttätigkeit war Teil seines Charakters von Anfang an. Gewalt, lernte er, ist das Fundament eines stattlichen, Respekt gebietenden Lebens. »Wer sein Kind lieb hat, züchtigt es«, ließ er den Schriftsteller Friedrich Freksa in der Biografie »Kapitän Ehrhardt« 1924 schreiben. Weil er seine Ehre in der badischen Provinz von einem Lehrer besudelt sah, schaltete Ehrhardt auf Rot. »Da konnte ich nicht anders, ich sprang auf, gab dem Ordinarius eine Ohrfeige, dass ihm der Kneifer von der Nase sprang, und verließ stolz das Klassenzimmer«, resümierte Ehrhardt voller Genugtuung in seiner Biografie. Bei einem solch frühen Überzeugungstäter bot es sich an, seine Freude an der Gewalt zum Beruf zu machen. Sein Vater, ein Pastor, schickte Ehrhardt daraufhin zur Marine, wo er als Seekadett eine eisenharte dreieinhalbjährige Ausbildung im Getretenwerden und Treten absolvierte.
Die erste Belobigung im Feld holte er sich Anfang des 20. Jahrhunderts in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, einem öden staubigen Fleck Erde. Ein Überbleibsel des imperialistischen Wettrennens. Niemand in Europa hatte sich besonders für diese staubige Steppe ohne nennenswerte Bodenschätze interessiert, bis die deutschen Zuspätkommer mit Brutalität und Torschlusspanik das anmeldeten, was sie »Unseren Platz an der Sonne« nannten.
Sie bekamen ihn.
Weil niemand ihn wollte.
Weil die Sonne wirklich unbarmherzig brannte.
Und weil Deutschsein damals auch hieß, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, waren sie zu eitel und zu beschränkt, ihren Fehlgriff einzusehen.
Statt den Fehlgriff Deutsch-Südwestafrika einfach abzuschreiben, versuchten sie, diese Steinwüste zu kolonisieren. Und als die Bewohner sich nicht mit Freude dem deutschen Wesen, an dem die Besatzer die Welt und Afrika genesen lassen wollten, fügten, beschlossen die Deutschen, die Bewohner auszurotten.
»Die große sittliche Idee des Krieges für den Mann besteht darum nicht darin, dass er tötet, sondern darin, dass er für sein Volk sterben kann«, hatte Ehrhardt auf der Kadettenschule gelernt. Nun gut. Aber töten war in jedem Fall besser als sterben. Und töten ohne große Gefahr für sich selbst konnte man diese Gegner, die oft nur mit Speeren und rostigen Gewehren bewaffnet waren. Es konnte Ehrhardt gar nicht schnell genug gehen, nach Deutsch-Südwest zu kommen. »Wie ein elektrischer Schlag« habe ihn diese Chance getroffen, endlich in den Krieg ziehen zu dürfen.
Die Auslöschung dieser Bewohner, der Herero und der Nama, gilt heute als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Als die Herero mit ihren kärglichen Rinderherden in die wasserlose Omaheke-Wüste flüchteten, ließ Oberbefehlshaber Lothar von Trotha den Landstrich abriegeln und gab Befehl, die Herero-Familien samt ihrem Vieh verdursten zu lassen. »Das ganze Volk der Hereros wurde in den Dursttod getrieben«, erzählte Ehrhardt stolz und kalt. »Als wir nachstießen, fanden wir neben den verendeten Rindern nur Tote, Halbverdurstete, Weiber und Kinder.« Wer noch atmete, so befahl es von Trotha, sollte sofort erschossen werden.
Volle Deckung für seinen grausamen Plan erhielt von Trotha vom Chef des Generalstabs, Alfred Graf von Schlieffen, jenem verkniffenen Technokraten, der mit seinem Plan zur Hochgeschwindigkeitsüberrennung Frankreichs später ein wichtiger Architekt des Ersten Weltkriegs werden sollte.
Aber vor den Franzosen waren die Herero dran. »Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschliessen«, befand von Schlieffen.
Von der steinigen Erde getilgt wurden also mit kaiserlicher Billigung ungefähr 60.000 schmächtige Steppenbewohner. Samt Frauen und Kindern.
Ehrhardts direkter Vorgesetzter, der Kommandeur Ludwig Gustav Adolf von Estorff, berichtete: »Die Herero flohen nun weiter vor uns ins Sandfeld. Immer wiederholte sich das schreckliche Schauspiel. Mit fieberhafter Eile hatten die Männer daran gearbeitet, Brunnen zu erschliessen, aber das Wasser wart immer spärlicher, die Wasserstellen seltener. Sie flohen von einer zur anderen und verloren fast alles Vieh und sehr viele Menschen. Das Volk schrumpfte auf spärliche Reste zusammen.«
Wie ein Gott aus Deutschland hatte Ehrhardt gelernt, fremdes, undeutsches Leben massenhaft auszulöschen. Menschen zu töten in großer Stückzahl, blieb auch seine Spezialität im Ersten Weltkrieg, wo es der Mann mit den starren braunen Augen zum Chef der IX. Torpedoboot-Flottille schaffte. Er befahl diese wendigen nachtschwarz gestrichenen Torpedoträger, die sich nah an große Schiffe heranschlichen, um sie zu versenken.
Für diesen Meister des Tötens, der sich daran gewöhnt hatte, dass die Verlierer die anderen sind, die Nicht-Deutschen, wurde das Ende des Ersten Weltkriegs zu einem Trauma.
Das war nicht vorgesehen gewesen. Das durfte es nicht geben. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.
Eine deutsche Niederlage?
Da konnte nur ein Betrug gigantischer Natur dahinterstehen.
Denn nicht weniger als ein Naturgesetz war es für die Männer vom Schlage Ehrhardts, dass die Deutschen triumphieren und die Nicht-Deutschen im Konfliktfall dahinwelken – wie die Herero auf den heißen, wasserlosen Steinen der afrikanischen Wüste.
Die Steigerung dieser Demütigung, dieses deutschen Vorrechts auf das Zerstören von Leben, diese Steigerung des ungerechten Irrsinns trug den Namen Scapa Flow.
Scapa Flow ist eine Bucht nördlich von Schottland. Die umliegenden Orkney-Inseln schützen diesen Naturhafen, eine Art großer See mitten im sturmdurchtosten Nordmeer. Die Royal Navy hatte Scapa Flow im Ersten Weltkrieg als Hauptstützpunkt ihrer Flotte genutzt. Als der Krieg für die Deutschen verloren war und sie im November 1918 mit England und Frankreich einen Waffenstillstand unterzeichneten, sah diese Waffenruhe unter anderem vor, dass die Deutschen die meisten ihrer modernen Kriegsschiffe an die Briten abzutreten hatten.
Die deutsche Flotte. Diese graueiserne Germanenfestung auf dem Wasser. Das todbringende Werkzeug, mit dem...
Erscheint lt. Verlag | 10.2.2022 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 1. Weltkrieg • Antisemitismus • Erfüllungspolitik • Freikorps • Nationalsozialismus • Organisation Consul • politische Morde • Udo • Walther Rathenau • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-462-32133-1 / 3462321331 |
ISBN-13 | 978-3-462-32133-3 / 9783462321333 |
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