Braunes Erbe (eBook)
496 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32101-2 (ISBN)
David de Jong, geboren 1986 in den Niederlanden, studierte Politikwissenschaft an der Universität Amsterdam und Geschichte an der Columbia-Universität in New York und der London School of Economics. Er arbeitete als Journalist für Bloomberg News und berichtete aus Amsterdam über das europäische Bank- und Finanzwesen, und aus New York über verborgenen Reichtum und Milliardenvermögen in den USA und Europa. Er lebt in Tel Aviv.
David de Jong, geboren 1986 in den Niederlanden, studierte Politikwissenschaft an der Universität Amsterdam und Geschichte an der Columbia-Universität in New York und der London School of Economics. Er arbeitete als Journalist für Bloomberg News und berichtete aus Amsterdam über das europäische Bank- und Finanzwesen, und aus New York über verborgenen Reichtum und Milliardenvermögen in den USA und Europa. Er lebt in Tel Aviv. Jörn Pinnow, geboren 1974, studierte Geschichte und Literaturwissenschaften in Tübingen, Brüssel und Berlin. Er übersetzt Sachbücher und Belletristik aus dem Englischen, Französischen und Niederländischen. Michael Schickenberg, geboren 1975, übersetzt Sachbücher und Romane aus dem Englischen und Norwegischen. Er studierte Anglistik/Amerikanistik, Germanistik und Skandinavistik in Greifswald, den USA, Norwegen und Spanien.
17 Einleitung
Am 8. Mai 2019 betrat Verena Bahlsen, die 26-jährige Erbin des bekannten deutschen Keksherstellers, die Bühne der OMR-Konferenz über digitales Marketing in Hamburg, um eine live gestreamte Rede über nachhaltige Lebensmittelproduktion zu halten. Sie trug eine blaue Jeanslatzhose und einen schwarzen Rollkragenpullover, darüber einen schwarzen Blazer. Selbstsicher ergriff sie das Mikrofon. Nachdem sie einige Minuten gesprochen hatte, kam sie vom Thema ab und reagierte, wenn auch ohne namentliche Nennung, auf die kapitalismuskritische Rede des damaligen Jusovorsitzenden und heutigen SPD-Generalsekretärs Kevin Kühnert zur Möglichkeit der Verstaatlichung großer deutscher Unternehmen wie beispielsweise BMW, die dieser kurz zuvor auf derselben Konferenz gehalten hatte: »Ich bin Kapitalist«, erklärte Verena Bahlsen. »Mir gehört ein Viertel von Bahlsen, da freue ich mich auch drüber. Es soll mir auch weiterhin gehören. Ich will Geld verdienen und mir Segeljachten kaufen von meiner Dividende und so was.«[18]
Ihre improvisierten Bemerkungen zogen sofort wütende Kommentare in den sozialen Medien nach sich. Wie könne sie es wagen, so mit ihrem Reichtum zu prahlen, insbesondere da das Unternehmen ihrer Familie im Zweiten Weltkrieg nachgewiesenermaßen Zwangsarbeiter eingesetzt habe? Ein paar Tage später wischte Bahlsen die Kritik gegenüber Bild beiseite: »Das war vor meiner Zeit und wir haben die Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen und sie gut behandelt.« Sie fügte hinzu: »Bahlsen hat sich nichts zuschulden kommen lassen.«[19]
Ein Skandal brach los. Verena Bahlsen hatte den vermutlich größten moralischen Fauxpas begangen, den man heutzutage in Deutschland begehen kann: Ahnungslosigkeit über die NS-Zeit 18 zu demonstrieren. Es war kein Geheimnis, dass ihr Familienkonzern – wie die meisten anderen deutschen Unternehmen auch – vom Zwangsarbeitersystem des ›Dritten Reichs‹ profitiert hatte, durch das Millionen von Menschen aus ihren Heimatländern in deutsche Fabriken gebracht und dort zur Arbeit gezwungen wurden, oft gegen erbärmliche Bezahlung und unter schrecklichen Bedingungen. Im Fall von Bahlsen handelte es sich um über siebenhundert Zwangsarbeiter, zumeist polnische und ukrainische Frauen, die man in die Hannoveraner Backwarenfabrik des Unternehmens deportiert hatte, wo sie unterbezahlt und misshandelt worden waren.[20] Bahlsens Kommentare sorgten weltweit für Schlagzeilen und wurden rasch von Historikern und Politikern aufgegriffen und verurteilt. Forderungen nach einem Boykott von Bahlsen-Produkten wurden laut.
Es dauerte nur wenige Tage, bis eine Kolonne schwarzer Mercedes-Limousinen vor Bahlsens Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg hielt, um die Firmenerbin samt Hausstand ins heimatliche Hannover zu holen. Anschließend entschuldigte sich Verena Bahlsen öffentlich durch ihr Unternehmen. Aber Journalisten des Spiegel ließen nun nicht mehr locker. Sie deckten auf, dass der Großvater und die Großonkel von Verena Bahlsen, also die Männer, die das Unternehmen Bahlsen im ›Dritten Reich‹ geleitet hatten, Mitglieder der NSDAP waren und außerdem die SS mit Geld unterstützten. Viele der nach Hannover deportierten ukrainischen Frauen waren Arbeiterinnen einer enteigneten Backwarenfabrik in Kiew, die Bahlsen übernommen hatte, wie die Reporter herausfanden.[21] Nach dem Krieg hatten die Bahlsens, wie Millionen anderer Deutscher auch, jede Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten abgestritten und waren ungestraft davongekommen.
Als die öffentliche Empörung zunahm, griff die Familie Bahlsen auf eine bewährte Methode zurück, um die Wogen zu glätten: Man teilte mit, einen namhaften deutschen Historiker mit der unabhängigen Durchleuchtung der Familien- und Konzernaktivitäten während der NS-Zeit beauftragt zu haben. Die Ergebnisse 19 werde man nach Abschluss der Forschungsarbeiten in Form einer allgemein zugänglichen Studie veröffentlichen. Die Ankündigung zeigte Wirkung, und die Kontroverse schlief ein. Aber ich wusste, wie diese Geschichte weitergehen würde.
Einige Jahre zuvor, Ende November 2011, hatte ich bei Bloomberg News in einem neu gegründeten Team von Journalisten angefangen, das zu versteckten Vermögen, Milliardären und Familienunternehmen, die um ein Vielfaches größer als das der Bahlsens waren, recherchierte. Ich trat meine neue Stelle in New York nur wenige Tage nach der gewaltsamen Entfernung der Occupy-Wall-Street-Demonstranten aus dem Zuccotti Park im Herzen des Finanzdistrikts von Manhattan durch die New Yorker Polizei an. Nach der Finanzkrise der vergangenen Jahre waren die Spannungen zwischen dem einen Prozent und den restlichen 99 Prozent überall auf der Welt zu spüren. Obwohl ich eingestellt worden war, um über US-amerikanische Unternehmerdynastien wie die Kochs und die Waltons, die Gründer von Walmart, zu berichten, bat man mich, da ich Niederländer bin, schon bald, den deutschsprachigen Raum mit abzudecken.
Ich übernahm die zusätzliche Aufgabe widerwillig. Die brutale Besetzung meiner Heimat durch die Deutschen von Mai 1940 bis Mai 1945 hatte in den Generationen vor mir und im nationalen Bewusstsein meines Landes tiefe Narben hinterlassen. Damals hatten ›sie‹ unser Land besetzt und geplündert. Als Heranwachsender im Amsterdam der 1990er-Jahre erlebte ich im Frühjahr und Sommer jedes Jahr von Neuem die ›Invasion‹ der deutschen Urlauber an unseren Stränden. Außerdem – und das war noch schlimmer – schlugen ›sie‹ uns oft im Fußball (und tun es immer noch).
Meine eher augenzwinkernde Abneigung gegenüber den Deutschen wurde durch die Kriegserlebnisse meiner Familie allerdings deutlich verstärkt. 1941 versuchte mein Großvater mütterlicherseits, ein Protestant und damals noch unverheiratet, zusammen mit seinem besten Freund aus den besetzten Niederlanden zu 20 fliehen und nach England zu segeln. Dort wollten sie sich der Royal Air Force anschließen, aber ihr Boot wurde vom Wind zurückgetrieben. Deutsche Soldaten nahmen sie fest, und sie wurden als politische Gegner verurteilt.[22] Mein Großvater verbrachte fast zwei Jahre in Haft und musste in einem Bochumer Stahlwerk Zwangsarbeit leisten. Er erkrankte dort an Tuberkulose und war zum Zeitpunkt seiner Entlassung völlig ausgezehrt und dem Tod nahe.
Die jüdischen Eltern meines Vaters wurden im Krieg getrennt. Meinem Großvater väterlicherseits gehörten mehrere Spitzen- und Strumpffabriken nahe der deutsch-niederländischen Grenze. Nachdem sein Unternehmen enteignet worden war, gelang es ihm, sich im Zentrum von Amsterdam zu verstecken. Meine Großmutter, eine gebürtige Schweizerin, versuchte 1942, mit meiner dreijährigen Tante und einem Begleiter in ihr Heimatland zu fliehen. Sie wurden an der französisch-schweizerischen Grenze von der Gestapo verhaftet. Einer der Beamten hatte Mitleid mit meiner Großmutter und ihrem kleinen Kind und ließ sie gehen. Sie schafften es über die Grenze in die Schweiz. Ihren Begleiter, einen bekannten Maler, ereilte ein traurigeres Schicksal. Er wurde mit dem Zug ins Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen deportiert und dort ermordet.[23]
Meine Großeltern hatten trotz des erlebten Leids während des Kriegs sehr viel Glück. Nach der Befreiung Europas wurde mein jüdischer Großvater mit seiner Frau und jungen Tochter wiedervereint, und er erhielt seine Fabriken zurück. Sein Vater allerdings war im Konzentrationslager Bergen-Belsen gestorben. Meine jüdischen Großeltern waren nie verbittert über den Verlust ihrer geliebten Menschen, die die Nationalsozialisten ermordet hatten. Ebenso wenig verbittert war mein Großvater mütterlicherseits über seine Zeit in deutscher Gefangenschaft. Bevor man ihm die Freiheit raubte, hatte er sich in ein Mädchen aus der Nachbarschaft verliebt. Er kurierte seine Tuberkulose in einem Schweizer Sanatorium aus; meine Großmutter saß die gesamte Zeit an seinem Bett. 21 Kurz nach seiner Genesung heirateten sie.
Meine Eltern kamen wenige Jahre nach dem Krieg zur Welt. Alles in allem gelang es meinen Großeltern, sich selbst und ihren Kindern – und letzten Endes auch mir – ein gutes Leben aufzubauen.
Trotzdem übte mein Großvater mütterlicherseits auf subtile Weise ›Rache‹ an den Deutschen, indem er beständig Witze über sie machte. Als Kind war er für mich immer ein Held, ein stolzer niederländischer Patriot. Meine Großeltern lebten auf einem Hof in einem winzigen holländischen Dorf mit dreihundert Einwohnern, ganz in der Nähe der bei den Deutschen besonders beliebten Strände. »Da rollt die nächste Invasion heran«, witzelte er jedes Frühjahr. Er nahm mir das Versprechen ab, die Deutschen niemals ernst zu nehmen, weil sie sich selbst so ernst nahmen. Ich schwor ihm, es nie zu tun. »Humor ist die beste Rache«, sagte er.
Doch in meinem neuen journalistischen Aufgabengebiet bei Bloomberg lernte ich, die Deutschen sehr wohl ernst zu nehmen – besonders jene in der Großindustrie und im Finanzwesen. Im Sommer 2012 landete ich bei den Recherchen zu einer Auftragsstory auf einer zunächst unauffälligen Website. »Harald Quandt Holding« stand auf der Startseite dieses Unternehmens, das das betreute Vermögen seiner diversen Investmentfirmen...
Erscheint lt. Verlag | 5.5.2022 |
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Übersetzer | Jörn Pinnow, Michael Schickenberg |
Zusatzinfo | 28 s/w-Abbildungen, 5 Stammbäume, Stadtplan und Karte auf Vor- und Nachsatz |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • Arisierung • August von Finck • Braune Vergangenheit • Entnazifizierung • Familienunternehmen • Flick • Folgen Nationalsozialismus • Friedrich Flick • Günther Quandt • Hitler • Nationalsozialismus • nazi billionaires • Nazi Vergangenheit • Oetker • Quandt • Reichste Familien Deutschland • Sachbuch Neuerscheinungen 2022 • Sachbuch Wirtschaft • Spenden • Unternehmerdynastien • von Finck • Zwangsarbeit |
ISBN-10 | 3-462-32101-3 / 3462321013 |
ISBN-13 | 978-3-462-32101-2 / 9783462321012 |
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