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Wandern mit Nietzsche (eBook)

Wie man wird, wer man ist

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
320 Seiten
btb Verlag
978-3-641-21041-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wandern mit Nietzsche - John Kaag
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»Kaag verwebt seine philosophischen Anliegen geschickt mit den kleinen und großen Krisen des täglichen Lebens... seine Ehrlichkeit macht Mut.« - The Wall Street Journal
»Wandern mit Nietzsche« ist die Geschichte zweier philosophischer Reisen, die John Kaag unternommen hat. Die eine als junger Mann von neunzehn Jahren, die andere siebzehn Jahre später - unter gänzlich verschiedenen Umständen. Nun ist er Ehemann und Vater, seine Frau und sein Kind sind mit dabei. Kaag begibt sich in die schroffen Berge rund um Sils-Maria, wo Friedrich Nietzsche sein Monumentalwerk ?Also sprach Zarathustra? verfasste. Beiden Reisen ist gemein, dass sie auf der Suche nach der Weisheit im Kern von Nietzsches Philosophie unternommen wurden, und doch vollkommen verschiedene Interpretationen bereithalten. Genauer gesagt: Radikal unterschiedliche Einsichten in das Wesen des Menschen.

In »Wandern mit Nietzsche« geht es John Kaag darum, die eigene Selbstgefälligkeit zu überwinden, die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn zu erkunden und das Unerreichbare in Angriff zu nehmen. Wenn John alleine oder mit seiner Familie - aber eben immer mit Nietzsche - wandert, erkennt er, dass auch das Ausrutschen lehrreich sein kann: Beim Aufstieg auf den Berg, und durch die dabei unvermeidlichen Fehltritte hat man die Chance, um mit Nietzsches Worten, »zu werden, wer man ist«.

John Kaag, Jahrgang 1981, ist Professor für Philosophie an der University of Massachusetts, Lowell. Er gilt als einer der spannendsten jungen Philosophen der USA und schreibt regelmäßig Artikel für Fachzeitschriften, aber auch für die »New York Times«, »Harper's Magazine« und viele weitere Magazine und Zeitungen. »Das Bücherhaus. Eine philosophische Liebesgeschichte« (en. Originaltitel: »AMERICAN PHILOSOPHY: A Love Story«) wurde 2016 u.a. vom »National Public Radio« zum Besten Buch des Jahres gekürt. Er lebt in der Nähe von Boston.

WIE DIE REISE BEGANN


Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer – wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht.

Friedrich Nietzsche,
»Menschliches, Allzumenschliches«, 1878

Ich erzähle meinen Studenten oft, dass die Philosophie mir das Leben gerettet hat. Und das stimmt auch. Auf meiner ersten Reise nach Sils-Maria – auf dem Weg zum Piz Corvatsch – hat sie mich allerdings beinahe umgebracht. Es war im Jahr 1999 und ich arbeitete an einem Essay über Genie, Wahnsinn und die ästhetische Erfahrung in den Schriften von Nietzsche und seinem amerikanischen Zeitgenossen Ralph Waldo Emerson. Behütet, wie ich mit knapp zwanzig Jahren war, kam ich damals allerdings kaum über die unsichtbaren Grenzen in der Mitte des Bundesstaats Pennsylvania hinaus, und so zog mein Betreuer an ein paar administrativen Strippen und sorgte dafür, dass ich mal herauskam. Am Ende meines ersten akademischen Jahres überreichte er mir einen unbeschrifteten Umschlag – darin lag ein Scheck über dreitausend Dollar. »Sie sollten nach Basel fahren«, schlug er vor, wobei ihm wahrscheinlich völlig klar war, dass ich dort nicht bleiben würde.

Basel war ein Wendepunkt, ein Dreh- und Angelpunkt zwischen Nietzsches zunächst konventionellem Leben als Gelehrter und seiner zunehmend erratischen Existenz als Europas Dichterphilosoph. Er war 1869 als jüngstes verbeamtetes Fakultätsmitglied an der Universität von Basel in die Stadt gekommen. In den folgenden Jahren sollte er sein erstes Buch, »Die Geburt der Tragödie«, schreiben, in dem er ausführte, dass die Anziehungskraft der Tragödie in ihrer Fähigkeit liege, die beiden widerstreitenden Bedürfnisse des Menschseins miteinander zu versöhnen: die Sehnsucht nach Ordnung und das seltsame, aber unleugbare Verlangen nach Chaos. Als ich in Basel eintraf, noch immer ein Teenager, konnte ich nicht umhin, zu denken, dass der eine dieser beiden Triebe – ein besessenes Bedürfnis nach Stabilität und Vernunft, das Nietzsche als das »Apollinische« bezeichnet – in der modernen Gesellschaft den Sieg davongetragen hatte.

Der Bahnhof in Basel ist ein Inbegriff Schweizer Präzision – schöne Menschen in schöner Kleidung schweben durch eine prächtige Vorhalle, um zu Zügen zu gelangen, die sich niemals verspäten. Gegenüber auf der anderen Straßenseite erhebt sich ein mächtiger zylindrischer Wolkenkratzer, der die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) beherbergt, die mächtigste Finanzinstitution der Welt. Ich verließ den Bahnhof und nahm vor der Bank mein Frühstück ein, während ein Pulk gut gekleideter Apollos auf dem Weg zu seiner Arbeit im Gebäude verschwand. »Die gebildeten Stände und Staaten«, erklärt Nietzsche, »werden von einer großartig verächtlichen Geldwirtschaft fortgerissen.« Die Lebensaussichten in der modernen kapitalistischen Gesellschaft waren lukrativ, aber nichtsdestoweniger trostlos: »Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte.«

Nietzsche zufolge ließen sich Liebe und Güte nicht im Gleichschritt verwirklichen, sondern verkörperten geradezu das Gegenteil: dionysische Raserei. Sein Leben in Basel sollte eigentlich glücklich und wohlgeordnet sein, ein Leben des Geistes und in der besten Gesellschaft, aber als er dort eintraf, schloss er bald Freundschaft mit dem romantischen Komponisten Richard Wagner, und jenes Leben kam schnell an sein Ende. Er war nach Basel gekommen, um klassische Philologie zu unterrichten, das Studium der alten Sprachen und ihrer ursprünglichen Bedeutungen, was harmlos genug erschien, aber Nietzsche verstand, anders als seine konservativeren Kollegen, wie radikal diese Art theoretischer Archäologie und Freilegung sein konnte. In der »Geburt der Tragödie« stellt er die These auf, dass die westliche Kultur mit all ihrer grandiosen Verfeinerung auf einer verborgenen, unterschwelligen Struktur errichtet worden ist, die vor vielen Zeitaltern von Dionysos selbst geschaffen worden ist. Und in den Anfangsjahren ihrer Freundschaft zielten Nietzsche und Wagner darauf, diese Struktur wieder sichtbar zu machen.

Dionysos schien nicht in Basel zu wohnen. Homer zufolge war er weit entfernt von den Mauern der westlichen Zivilisation, »in der Nähe des ägyptischen Stroms«, geboren. Er war das wilde Kind der griechischen Mythologie, die Gestalt, die Apollo erfolglos unter Kontrolle zu behalten versuchte. Auch als Eleutherios bekannt – der »Freie« –, wird dieser rüpelhafte Gott des Weins und der Fröhlichkeit gewöhnlich so dargestellt, dass er mit einem trunkenen Weisen, seinem Ziehvater, dem Satyr Silenus, über die Hügel wandert. Das Wort »wandern« lässt es ein wenig seriöser erscheinen, als es war; es war wohl eher ein Herumtoben – man bahnte sich tanzend und vögelnd den Weg zwischen den Bäumen draußen vor den Stadtgrenzen hindurch.

Wagner war dreißig Jahre älter als Nietzsche, im selben Jahr geboren wie der Vater des Philosophen, ein strenggläubiger Lutheraner, der an einer »Gehirnerweichung« gestorben war, als sein Sohn fünf Jahre alt war. An dem Komponisten Wagner war nichts weich oder tot. Wagners Werke der mittleren Periode waren Ausdruck von Sturm und Drang, und Nietzsche verehrte sie. Wagner und Nietzsche teilten eine tiefe Verachtung für den Aufstieg der bürgerlichen, das heißt bourgeoisen Kultur, für die Vorstellung, dass das Leben am besten leicht gelebt werden sollte, angenehm, pünktlich und korrekt. »Ein Leben führen« war – und ist immer noch – einfach in Basel: Man geht zur Schule, wählt einen Beruf, verdient Geld, kauft sich etwas, fährt in Urlaub, heiratet, bekommt Kinder, und dann stirbt man wieder. Nietzsche und Wagner wussten, dass an dieser Art zu leben etwas Sinnloses haftete.

Zu Anfang der »Geburt der Tragödie« erzählt Nietzsche die Geschichte von König Midas und Silenus. Midas, der berühmte König mit dem goldenen Händchen, bittet Dionysos’ Gefährten, ihm den Sinn des Lebens zu erklären. Silenus wirft dem König einen Blick zu und sagt dann ohne Umschweife zu ihm: »Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Ersprießlichste ist ? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.« Als ich auf den Stufen der BIZ saß und dabei zusah, wie Männer und Frauen zur Arbeit eilten, dachte ich, dass Silenus vermutlich recht gehabt hatte: Manche Arten von Leben werden am besten so schnell wie möglich gelebt. Nietzsche und Wagner glaubten dennoch, dass das Menschsein ausgekostet und aus dem Vollen gelebt werden sollte.

»Denn nur als ästhetisches Phänomen«, so insistiert Nietzsche in der »Geburt der Tragödie«, »ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.« Dies war Nietzsches Antwort auf die Weisheit Silenus’, der einzige Weg, den modernen Nihilismus zu überwinden. Ästhetisch: aus dem griechischen aisthanesthai, »wahrnehmen, empfinden, fühlen«. Nur indem er die Welt anders wahrnahm, nur indem er tief empfand, konnte Silenus Zufriedenheit erlangen. Wenn man dem Leiden und dem Tod schon nicht entgehen konnte, war es stattdessen vielleicht möglich, sie bereitwillig anzunehmen, sie sogar heiter und fröhlich anzunehmen. Das Tragische besaß nach Nietzsche auch seine Vorzüge: Es bewies, dass Leiden mehr als bloßes Leiden sein konnte; der Schmerz in all seiner bitteren Rohheit konnte dennoch gesteuert, zugeordnet werden, er konnte sogar etwas Schönes und Erhabenes annehmen. Indem sie das Tragische akzeptierten, statt es zu fliehen, hatten die alten Griechen sich einen Weg gebahnt, den Pessimismus zu überwinden, der die Moderne allzu schnell ergriffen hatte.

Ich sollte eigentlich mehrere Wochen in Basel bleiben, sollte die meiste Zeit in der Bibliothek verbringen, aber während ich mich langsam auf den Weg durch die Stadt machte, wurde mir klar, dass dieser Plan vollkommen unmöglich war. Die Straßen waren zu gerade, zu still, zu profan. Ich musste etwas fühlen können, ich musste meine Betäubung lösen, mir beweisen, dass ich nicht bloß schlief. Ich war, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, frei, etwas anderes zu tun als das, was mir aufgetragen worden war. Als ich schließlich die Universität erreichte, an der Nietzsche einmal gelehrt hatte, wusste ich, dass ich Basel so schnell wie möglich verlassen musste.

Im Jahr 1878 war das Hoffnungsvolle, das in »Die Geburt der Tragödie« angeklungen war, bereits verweht. Nietzsches Gesundheit verschlechterte sich, während sich die ersten Anzeichen psychischer Instabilität zu erkennen gaben. Er rannte buchstäblich auf die Berge, machte sich auf eine zehnjährige philosophische Wanderung durch alpines Terrain – zunächst nach Splügen, dann nach Grindelwald am Fuß des Eiger, weiter zum San-Bernardino-Pass, dann nach Sils-Maria und schließlich zu den Städten Norditaliens. Diesen Weg einzuschlagen, hieß, Nietzsche durch seine produktivste Phase zu folgen – ein Jahrzehnt fieberhaften Schreibens, das viele der wegweisenden Werke des modernen Existenzialismus, der Ethik und der Postmoderne hervorbrachte: »Also sprach Zarathustra«, »Jenseits von Gut und Böse«, »Zur Genealogie der Moral«, »Götzen-Dämmerung«, »Der Antichrist« und »Ecce homo«. An meinem ersten und einzigen Abend in Basel beschloss ich, dass dies der Pfad sein sollte, den ich einschlagen würde – ein Weg, von dem viele Gelehrte glauben, dass er Nietzsches Aufstieg zum Genie und seinen Abstieg...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2022
Übersetzer Martin Ruben Becker
Sprache deutsch
Original-Titel Hiking With Nietzsche
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte 2022 • Bergwandern • eBooks • Erlebnis • Familie • Hape Kerkeling • Neuerscheinung • Nordic Walking • Outdoor • Philosophie • Philosophie für Einsteiger • Pilgern • Schweiz • Sils Maria • Sport • Trekking • Wandern
ISBN-10 3-641-21041-0 / 3641210410
ISBN-13 978-3-641-21041-0 / 9783641210410
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