»Willy Brandt muss Kanzler bleiben!« (eBook)
203 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44987-6 (ISBN)
Bernd Rother, Dr. phil., ist Historiker. Er war 1999-2020 stellvertretender Geschäftsführer der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Er hat an den meisten der zehn Bände der »Berliner Ausgabe« von Willy Brandts Reden und Schriften mitgewirkt. Er ist zudem u.a. Mitherausgeber von von »Willy Brandts Außenpolitik« (2014) und von »Willy Brandt and International Relations. Europe, the USA, and Latin America, 1974-1992« (2019).
Bernd Rother, Dr. phil., ist Historiker. Er war 1999–2020 stellvertretender Geschäftsführer der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Er hat an den meisten der zehn Bände der »Berliner Ausgabe« von Willy Brandts Reden und Schriften mitgewirkt. Er ist zudem u.a. Mitherausgeber von von »Willy Brandts Außenpolitik« (2014) und von »Willy Brandt and International Relations. Europe, the USA, and Latin America, 1974-1992« (2019).
Einleitung
»Es kann sein, daß der heutige Tag der wichtigste in der Geschichte unseres Staates ist. Nicht, weil entweder Willy Brandt Kanzler bleibt oder Rainer Barzel Kanzler wird; es ist deshalb ein wichtiger Tag, weil die Bürger dieses Landes von Gefühlen aufgewühlt werden wie selten zuvor. Die einen sehen in dem Versuch der Opposition, den Bundeskanzler so zu stürzen, wie die Verfassung es erlaubt, schändlichen Verrat. Die anderen glauben, ein Weiterregieren Brandts bedeute den Untergang der Nation.«1
Eine seltsame Diskrepanz herrscht zwischen dem zeitgenössischen Empfinden, wie es dieser namentlich nicht gezeichnete, also für die Zeitung insgesamt sprechende Kommentar von Bild zum Ausdruck brachte, und dem niedrigen Stellenwert der April-Ereignisse des Jahres 1972 in der heutigen Erinnerung. Sicherlich: Spricht man Zeitzeugen auf die Proteste gegen den Misstrauensantrag an, dann wissen sie sofort, worum es ging, und häufig auch, wo sie vom Scheitern Rainer Barzels erfahren haben. Aber in der Geschichtsschreibung und in der Erinnerungskultur spielt der 27. April 1972 kaum eine Rolle. Und wenn die Rede auf ihn kommt, dann wegen des Stimmenkaufs, den vermutlich beide Seiten betrieben. Die Proteste hingegen sind weitgehend dem Vergessen anheimgefallen.
Forschungsstand
Einen »Stand der Forschung« im engeren Sinne gibt es nicht. Zu den Berichten über Abgeordnetenbestechungen im Zusammenhang mit der Abstimmung über den Misstrauensantrag hat Andreas Grau vor wenigen Jahren alle Erkenntnisse zusammengetragen. Die Begleitumstände auf den Straßen und in den Betrieben kommen bei ihm nicht vor; sie gehörten nicht zu seinem Thema.2 Einige Arbeiten zur Geschichte politischer Streiks in der Bundesrepublik Deutschland gehen eher kurz auf die Vorkommnisse vom 25.–27. April 1972 ein, die großen Überblicksdarstellungen zur Geschichte Westdeutschlands ab 1945 oder Deutschlands im 20. Jahrhundert aber gar nicht.
Arnulf Baring widmet den Protesten in seiner Darstellung über die Ära Brandt/Scheel einen einzigen Absatz; die Demonstrationen und Streiks empfand er als massiv und resümierte: »Das alles verhieß nichts Gutes, falls Barzel es schaffte.«3 In Peter Merseburgers großer Lebensbeschreibung Willy Brandts reicht es nur zum Halbsatz, es sei »zu symbolischen Arbeitsniederlegungen, Demonstrationen und Kundgebungen« gekommen, um sich »mit ihm, dem von ›Heckenschützen‹ Gejagten« zu solidarisieren.4 Brandt selbst schrieb in seinen »Erinnerungen« mit Blick auf die öffentlichen Reaktionen auf den Misstrauensantrag von »nicht enden wollende[n] Zeichen der Sympathie«, die ihn damals erreichten.5 Rainer Barzel hob die »Erregung der Gefühle und der Gemüter – auf beiden Seiten« hervor, die alles übertroffen habe, »was ich bisher im politischen Kampf erlebt hatte.«6 Die führenden Biografen Helmut Schmidts, der in seinen eigenen Erinnerungsbüchern auf die Vorgänge Ende April 1972 fast gar nicht eingeht, und Herbert Wehners beschränken sich jeweils auf einen Halbsatz zu den Vorgängen.7
Heinrich August Winkler behandelt im zweiten Band von »Der lange Weg nach Westen« die Proteste mit einem einzigen Satz: »Vor dem Mißtrauensvotum hatten in zahlreichen Städten Demonstrationen gegen das Vorhaben der Opposition und für die sozialliberale Regierung stattgefunden; die Ablehnung des Antrags löste eine Welle von Sympathiekundgebungen für Brandt aus.« Bei Eckart Conze und Ulrich Herbert fehlt gar jegliche Erwähnung.8 Am ausführlichsten behandelt Wolfgang Jäger das Thema. Im fünften Band der »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« fasst er die Proteste kurz und prägnant zusammen, um dann festzustellen, dass man in ihnen »eine wichtige Entwicklung des deutschen Parlamentarismus erkennen müsse. Die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes wurde von der Mehrzahl der deutschen Bürger als plebiszitäre Parteiendemokratie verstanden.« Das freie Mandat sei von den Wählern nicht (mehr?) respektiert worden; sie hätten durch die Proteste ihren Anspruch klargemacht, nicht nur über die Zusammensetzung des Parlaments, sondern auch der Bundesregierung zu entscheiden.9
Dass selbst die Protestforschung die Demonstrationen und Streiks weitgehend ignoriert hat, überrascht doch sehr.10 Nur die Streikforschung beschreibt, wenn auch nicht sehr umfangreich, das, was Ende April 1972 in den Betrieben vor sich ging. 1974 veröffentlichte Kurt Steinhaus ein Buch über »Streiks in der Bundesrepublik 1966 – 1974«. Der Soziologe war Mitarbeiter des »Instituts für marxistische Studien und Forschungen« der DKP und widmete den Protesten eine Seite.11 Ausführlicher fällt seine Darstellung der Arbeitsniederlegungen in einem Aufsatz aus. Die Arbeiterklasse habe versucht, den Sturz der Regierung zu verhindern und die Ratifizierung der Ostverträge zu sichern. »Die rechte sozialdemokratische Führung« habe jedoch »eine Ausweitung der Bewegung verhindert«.12
Steinhaus verdanken wir eine Aufzählung von Betrieben und Orten, in denen damals gestreikt wurde. Aber Angaben zur Zahl der Beteiligten fehlen weitgehend, solche zum Tag, an dem die Betriebe ruhten, und zu den Quellen für seine Auflistung gänzlich.13 Meine Recherchen legen nahe, dass sich Steinhaus im Wesentlichen auf eine Auswertung der Süddeutschen Zeitung stützte. Eine weitere Quelle war für ihn Express International. Die linkssozialistische Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit stand dem »Sozialistischen Büro« nahe. Mitte Mai 1972 publizierte sie eine Liste von etwas mehr als dreißig Streiks gegen das Misstrauensvotum und bat um Ergänzungen, die aber entweder nicht bei der Redaktion eintrafen oder von dieser nicht veröffentlicht wurden.14
Auf Steinhaus’ Erkenntnissen baut – was die Fakten angeht – Lucy Redlers Diplomarbeit auf, die dreißig Jahre später verfasst wurde. Wie bei Steinhaus ist auch bei ihr das Interesse am Thema nicht vom politischen Engagement zu trennen: 2021 gehört die Trotzkistin Redler dem Bundesvorstand der Partei »Die Linke« an. Sie betont, es habe sich um »politische Abwehrstreiks gegen den Misstrauensvotumsantrag und zur Unterstützung der Regierung« gehandelt. Der Kampf um die Ratifizierung der Ostverträge tritt bei ihr – verglichen mit Steinhaus – in den Hintergrund.15 Hier erkennt man die unterschiedlichen politischen Positionen von Steinhaus und Redler. Übereinstimmung herrscht jedoch bei der Einschätzung von SPD und DGB, die, so Redler, »versuchten, die Bewegung wieder einzudämmen.«16
Fragen
Mit dieser Studie über die Geschichte der Proteste gegen den Misstrauensantrag betrete ich also Neuland. Dabei geht es mir nicht um die Vorgänge im Arkanbereich der Politik, in den Hinterzimmern oder wo auch immer Geldscheine übergeben oder Versprechungen gemacht wurden. Vielmehr soll der Blick auf das gelenkt werden, was in aller Öffentlichkeit geschah und deshalb nicht im Verdacht stand, Stoff für Skandale und Nervenkitzel zu liefern. Bei näherer Betrachtung handelt es sich dennoch um eine hochemotionale Geschichte.
Was ist der Ort der Proteste in der bundesdeutschen Geschichte? Diese Frage zu beantworten ist neben der Rekonstruktion des Geschehens die Hauptaufgabe meiner Studie. Die Demonstrationen und Streiks erfolgten in einer Phase, die für viele – zeitgenössisch wie auch im Rückblick – als Zeit des Aufbruchs, der beschleunigten Veränderung in Staat und Gesellschaft gilt. Zum Aufbruch gehörte auch die Ankündigung von »mehr Demokratie« in Willy Brandts erster Regierungserklärung als Bundeskanzler am 28. Oktober 1969. Politische Partizipation erfolgt nicht nur an den Wahlurnen, sondern ist auch durch Straßendemonstrationen oder Streiks möglich, sofern es in letzteren nicht nur um veränderte Tarifregeln geht.
Was bedeuteten also die Proteste Ende April 1972 für die politische Kultur der Bundesrepublik? Waren auch sie Teil einer Fundamentaldemokratisierung der Gesellschaft? Emanzipierten sich die Aktivisten der Proteste von den Vorgaben der Parteien und Gewerkschaften oder geschah dies alles doch nur auf Geheiß der jeweiligen Vorstände? Forderten sie eine Art direkter Demokratie, entgegen der klaren Zuständigkeitszuweisung des Grundgesetzes, dass nur der Bundestag über Wahl...
Erscheint lt. Verlag | 9.3.2022 |
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Reihe/Serie | Willy Brandt – Studien und Dokumente | Willy Brandt – Studien und Dokumente |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Schlagworte | 24. April 1972 • Bevölkerung • Bonner Republik • BRD • Bundeskanzler • Bundesrepublik Deutschland • DDR • Demonstration • Demonstrationen • DGB • Generalstreik • Geschichte • Kanzler • Konstruktives Misstrauensvotum • Misstrauensvotum • Ostpolitik • Protest • protestwelle • Rainer Barzel • Ruhrgebiet • Sozialdemokratische Partei Deutschlands • Sozialliberale Koalition • SPD • Streik • Streiks • Willy Brandt |
ISBN-10 | 3-593-44987-0 / 3593449870 |
ISBN-13 | 978-3-593-44987-6 / 9783593449876 |
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