Aufbrechen (eBook)
256 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86695-0 (ISBN)
Prof. Dr. Michaela Brohm-Badry ist Professorin für Empirische Lehr-Lern-Forschung und Didaktik an der Universität Trier.
Was wir brauchen
Mit der Entfaltung ist es derzeit nicht so einfach, auch unser privates Leben hat sich stark verändert. Meine Frau Andrea und ich erleben dieses Frühjahr als intensive, verinnerlichte Zeit, denn der Lockdown lehrt uns, dass unser Wollen da endet, wo unsere körperliche Unversehrtheit beginnt. Wir leben auf der westlichen Seite von Trier in einem Dorf mit 73 Einwohnerinnen und Einwohnern auf einem roten Sandsteinfelsen. Wie die meisten anderen Menschen machen wir uns Sorgen, versuchen Masken zu organisieren und möglichst viel von zu Hause aus zu arbeiten. Eine meiner Schwestern, die Ärztin in einer Großstadt ist, schreibt uns eine SMS: »Bleibt ihr in eurem Dorf da oben!« Das tun wir. Es ist März, die Sonne scheint und im Fernsehen rät jemand bezüglich des Virus: »Man darf die Historie nicht zu sehr hochsterilisieren« – Hysterie und hochstilisiert war gemeint – zu Beginn dieser Pandemie ist wohl jeder ein Experte …
Die Universität ist ohnehin für den normalen Studienbetrieb geschlossen, nur ab und an fahre ich mit dem Wagen auf leeren Straßen quer durch Trier zur Uni und treffe mich mit einzelnen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Kolleginnen und Kollegen oder meiner Sekretärin, die motiviert und meist guter Dinge alles gibt, um unsere Abteilung in Gang und bei Laune zu halten.
Vom Präsidenten der Universität kommen regelmäßig aufmunternde E-Mails. Die Digitalisierung in Forschung und Lehre war schon immer eines seiner Augenmerke – und jetzt geht die Sache ja in Meilenstiefeln voran.
Wie die Universität ist auch Andreas Maklerbüro weitgehend geschlossen, einzelne Kunden oder Bauträger kommen zu Gesprächen oder sie sieht sie bei den Notarterminen. Und so bleiben wir in unserem Dorf da oben und entdecken neue Leidenschaften: Abends bauen wir gemeinsam an einem riesigen Puzzle mit Strandmotiv und können nicht glauben, dass es uns gestandenen Frauen wirklich Spaß macht, in aller Ruhe bei leisen Kammermusikklängen von Bach oder Brahms kleine farbige Teilchen zu kitschigen Bildchen zusammenzustecken.
Unsere Hunde, Noah, ein großer, 60 Kilo schwerer Alaskan Malamute-Schäferhund-Mix, und Vinci, ein Husky aus Italien, liegen daneben und genießen, dass wir fast ständig bei ihnen sind.
Und noch etwas ist neu: Wie in den letzten Wochen immer mal wieder, waren wir wandern – von unserem Dorf aus durch Wälder und Felder, an Schluchten und Berggipfeln vorbei. Die Frühlingssonne meint es gut in dieser Zeit. Unsere Hunde und wir selbst werden nach all den bequemen Jahren langsam wieder richtig fit. Es ist eine innige und körperliche Zeit angebrochen. Meine Forschung geht gut voran, schneller als vor der Pandemie. Alles also im grünen Bereich. Hätten wir da schon gewusst, was auf uns zukommt, wäre uns das Blut in den Adern gefroren.
Was wir sind
Wir haben gesehen, dass Erfahrungen uns verändern. Aber nach welchen Erfahrungen sollen wir suchen? In welche Richtung können wir gehen? Manche Entwicklungswege machen glücklicher als andere.
Wir bestehen aus unserem Körper und unserer Psyche, die sich in drei Bereiche gliedert: Kognition, Motivation und Emotion – Denken, Wollen und Fühlen.
Die Einheit von Körper und Psyche
Körper
Der Körper als Organismus ist der materielle Teil des Menschen, welcher der Seele (Emotion) beziehungsweise dem Geist (Kognition und Motivation) als immateriellem Teil Heimat gibt. Physiologisch ist er aus Blut und Wasser, Knochen, Muskeln, Eiweiß, Phosphor und all den anderen Bestandteilen zusammengesetzt.
Den Menschen unterscheidet von den meisten anderen Säugetieren sein aufrechter Gang, sein überproportional großes Gehirn und seine dürftige Körperbehaarung. Durch den aufrechten Gang wurden die Hände frei und wir konnten greifen, aufbauen, schaffen, halten, Höhlen frei räumen, Wohnraum schaffen, Getreide anbauen – Natur zähmen und Kultur schaffen.
Rein biologisch betrachtet bestehen wir aus einem Zellhaufen, der in Kopf, Hals, Rumpf und Gliedmaßen sowie die Organe gegliedert ist. Es sind wohl rund 100 Billionen Zellen pro Mensch – also 100 mal 1 000 Milliarden, wobei allein 86 Milliarden Nervenzellen im Gehirn liegen. Früher ist man von rund 100 Milliarden ausgegangen, aber neuere, genauere Untersuchungen der brasilianischen Neurowissenschaftlerin Suzana Herculano-Houzel an Gehirnen von Männerleichen haben die Zahl etwas reduzieren lassen.
Psyche
Kognition, Motivation und Emotion sind die drei psychischen Grundfunktionen.
Kognition bezeichnet alle mentalen – also geistigen – Prozesse eines Lebewesens wie etwa Wahrnehmen, Denken, Lernen, Erinnern, sich etwas Vorstellen, Fantasieren, Beobachten, Bewerten oder Planen. Alles also, was im Gehirn vor sich geht und mit unbewussten oder bewussten geistigen Vorgängen zu tun hat.
Motivation bezieht sich auf das Wollen und schließt Handlungsvorsätze ein. Sie wird als die Kraft verstanden, die ein Verhalten auslöst, ändert oder aufrecht hält. Das Verhalten bezieht sich meist auf die Motive, etwas zu leisten, sozialen Anschluss zu finden, zu festigen oder Macht auszuüben.
Die Emotion beschreibt Gefühle und deren Entstehungszusammenhang. Emotion wurde lange als das Gegenstück des Geistes verstanden und umfasst alltagssprachlich alles, was gefühlt wird. Heute wissen wir, dass Angst, Ärger oder Liebe erst durch kognitive Prozesse entstehen. Die Seele kann dabei drei emotionale Zustände annehmen: als Stimmung, Emotion oder Affekt.
Die Stimmung ist ein diffuser Gefühlszustand, der länger andauert und keinen besonderen Auslöser oder Fokus (ein Objekt) benötigt. Sie ist die Alltagsemotion auf niedrigem Level. Man fühlt sich einfach so gut, schlecht, angenehm oder eben unangenehm gestimmt. Wir können die Stimmung als nicht besonders intensives emotionales Grundrauschen verstehen.
Über diesem Grundrauschen erheben sich die Emotionen, wie Freude, Trauer, Stolz oder Ekel, die oft kürzer und stärker sind als Stimmungen. Darüber hinaus haben sie oft einen starken Objektbezug – sie beziehen sich auf etwas oder jemanden. Beim Säugling schon beobachtbar und auch wohl kulturübergreifend, sind sieben Primäremotionen: Freude, Interesse, Überraschung, Furcht, Ärger, Trauer und Ekel. Komplexer und damit als »Sekundäremotion« bezeichnet, werden Emotionen, die ihre Wurzeln in einem tieferen Selbstverständnis und dem Verständnis sozialer Beziehungen haben. Wie zum Beispiel Empathie, Scham, Dankbarkeit, Schuld, Liebe.
Bei sehr heftigen, unkontrollierbaren Emotionsausbrüchen haben wir es mit der dritten Emotionsform zu tun: den Affekten, einer kurzen, heftigen und intensiv empfundenen Emotion, die sich jeglicher Handlungskontrolle – dem Denken – entzieht. Wut, Zorn, Hass kann sich so entladen oder aber auch grenzenloser Jubel, Ekstase und Begeisterung. Über Letztere merkte Christian Morgenstern wahrscheinlich zu Recht an: »Glaub mir, dass eine Stunde der Begeisterung mehr gibt als ein Jahr gleichmäßig und einförmig dahinziehendes Leben.«
Streichquartett: Leidenschaft und Lebensfreude
Das Streichquartett aus dem Ruhrgebiet interviewe ich an einem Samstagabend nach der Probe. Alle vier – ein Mann, drei Frauen – sind Laienmusiker/-innen und treffen sich seit nunmehr 17 Jahren jeden Monat zum Musizieren und mehr. Sie wollen ihr Alter nicht verraten (der erste Lacher in unserem sehr lustigen Zoom-Meeting), ich schätze sie so zwischen 50 und 70 Jahren ein.
Ein Streichquartett (erste und zweite Geige, Bratsche, Cello) wird seit seiner Blüte im späten 18. Jahrhundert (Hayden, Mozart, Beethoven) als Gespräch unter vier Personen verstanden, die sich in der Sprache der Musik austauschen. »Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennenzulernen«, kommentierte Goethe, was im Prinzip richtig ist: Die...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
ISBN-10 | 3-407-86695-X / 340786695X |
ISBN-13 | 978-3-407-86695-0 / 9783407866950 |
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