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Café Schindler

Meine jüdische Familie, zwei Kriege und die Suche nach Wahrheit
Buch | Hardcover
480 Seiten
CHF 36,40 inkl. MwSt
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Eine außergewöhnliche Geschichte, die zwei Jahrhunderte, zwei Weltkriege und ein Familienunternehmen umspannt
Das legendäre Café Schindler wurde 1922 nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs gegründet und schnell zum pulsierenden sozialen Zentrum von Innsbruck – bis die Nazis kamen.

Kurt Schindler ist eine schillernde „verkrachte Existenz“. Seine Tochter Meriel, Anwältin in London, hat ihre liebe Not damit, ihn in Schach zu halten. Immer wieder fragt sie sich, was dran ist an den Geschichten, die ihr Vater zum Besten gibt: Ist die Familie wirklich verwandt mit Franz Kafka und Oskar Schindler? Oder mit Hitlers jüdischem Arzt, Dr. Bloch? Was ist in der Pogromnacht am 9. November 1938 in Innsbruck passiert, als die Nationalsozialisten Kurts Vater halb zu Tode prügelten und das Haus durchsuchten?

Als ihr Vater 2017 stirbt, beschließt Meriel, den Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Ausgehend von Fotos und Papieren, die sie in Kurts Cottage gefunden hat, begibt sie sich auf eine atemberaubende Entdeckungsreise, die sie nach Österreich, Slowenien und in die USA führt.

Mit zahlreichen Fotos sowie Backrezepten aus dem Café

Meriel Schindler wuchs die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens im Zentrum Londons auf, ehe sie auf ein katholisches Internat im ländlichen Österreich gehen musste. Fünf Jahre später zog sie wieder nach Grßbritannien, um Französisch und Deutsch zu studieren. Heute arbeitet sie als Juristin für Arbeitsrecht und ist Partnerin in und Teamleiterin bei der Anwaltskanzlei Withers LLP. Darüber hinaus ist Meriel Treuhänderin bei der Schreibwerkstatt Avaron. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Café Schindler ist ihr erstes Buch.

Erica Fischer wurde 1943 in St. Albans bei London geboren, wohin die Eltern aus Wien geflüchtet waren. Sie wuchs in Wien auf und studierte am Dolmetschinstitut der Universität Wien. 1972 war sie eine der Mitbegründerinnen der autonomen Frauenbewegung in Wien. Sie arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Übersetzerin. Seit 1988 lebt sie in Deutschland, seit 1994 in Berlin. Ihr Buch »Aimée & Jaguar« wurde zum Weltbestseller.

»Das Buch ist eine Sensation.« Tiroler Tageszeitung am Sonntag 20220403

»Mit äußerster Genauigkeit recherchiert, setzt Café Schindler eine faszinierende und zutiefst berührende Familiengeschichte zusammen, die auch die größere Geschichte der Juden in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie erzählt. Das Buch besticht durch seine Verbindung von Geheimnis und Versöhnung.« The Times

»Eine außergewöhnliche Geschichte.« Edmund de Waal

»Das Buch ist eine Sensation.« Tiroler Tageszeitung am Sonntag

Prolog Eine Kindheit mit Kurt Hampshire, England, Weihnachten 2016 Ich treffe am kleinen, schäbigen Cottage ein, in dem mein Vater lebt. Das Zwielicht hat dem kleinen Garten die Farbe entzogen, aber ich bin ganz froh, ihn nicht so genau sehen zu müssen. Während der Garten früher von meiner Mutter Mary liebevoll gepflegt wurde, verwildert er seit ihrem Tod vor elf Monaten. Mein Vater, Kurt Schindler, sitzt in fast vollständiger Dunkelheit und kramt in Papieren, die auf seinen Knien liegen. Er schreibt irgendetwas auf einzelne Blätter – verschnörkeltes, unleserliches Gekritzel. Ich schalte die Lampe ein, aber sie wirft nur wenig Licht auf das, was er tut. Das Verhalten und der Charakter meines Vaters haben etwas Zwanghaftes; die Szene erinnert mich an so viele andere im Lauf der Jahre, als er mir, damals noch weniger dement, Dokumente zeigte und meine Zustimmung in dieser oder jener Angelegenheit verlangte. Er wollte zwar ein Gespräch, doch er duldete keinen Widerspruch. Ich bleibe eine knappe Stunde. Ich kann es kaum erwarten, wieder wegzukommen, der Schmerz ist zu groß. Ich werde meinen Vater nicht wiedersehen. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, als Kurt einer geregelten Arbeit nachging, in den frühen 1970er-Jahren war das, für eine kurze Zeit. Er hasste Anweisungen, weshalb er die Selbstständigkeit vorzog. Er gründete und betrieb verschiedene Handelsfirmen, importierte Nüsse, Kräuter, Vitamin-C-Nahrungsergänzungsmittel, Marmelade und Alkohol, die er dann, oft mit Verlust, weiterverkaufte. Den Grundlagen von Buchhaltung und ordentlichen Handelsbeziehungen schenkte er kaum Beachtung. Oft versäumte er es, seine Lieferanten zu bezahlen. Das Geld, das er am Wiederverkauf verdiente, verwendete er eher darauf, Rechtsstreitigkeiten abzuwehren oder selbst zu betreiben – gegen jene, von denen er sich betrogen fühlte. Wenn Kurts Firmen Schiffbruch erlitten, was sie unweigerlich taten – sie versanken regelrecht in Schulden und Gerichtsverfahren –, dann suchte er Hilfe bei Anwälten und sogar Psychiatern, um sich aus dem finanziellen und juristischen Abgrund, in den er sich manövriert hatte, zu befreien. Wie ein notorischer Spieler versprach er stets, niemals mehr Handel zu betreiben. Aber natürlich tat er es wieder. Ihm bleibe keine andere Wahl, sagte er. In einem für ihn ungewöhnlich hellsichtigen Moment gab er einmal zu, gerne „auf der Kippe zu leben“. Dass seine Frau und seine Kinder dort mit ihm leben mussten, nahm er als gegeben hin. Als Vater gelang es Kurt nicht, uns Kindern auch nur ein Mindestmaß an Stabilität zu bieten, und so taumelten wir hin und her zwischen den Extremen. Manchmal lebten wir in teuren Häusern, fuhren im BMW, besuchten vornehme Privatschulen und stiegen in extravaganten Hotels ab; dann wieder mussten wir uns nach der Decke strecken, uns vor den Schuldeneintreibern verbergen, Zwangsräumungen ins Auge sehen oder sogar, wenn es gar nicht mehr anders ging, ins Ausland fliehen. Häufig passierten das Gute und das Schlechte zur selben Zeit. Für ein Kind kann das eine berauschende, aber auch sehr verwirrende Erfahrung sein. In den frühen 1970er-Jahren waren meine Schwester Sophie und ich oft tagelang in unserem Reihenhaus in Kensington uns selbst überlassen, während unsere Eltern durch London fuhren, um bei Anwälten vorzusprechen. Wir lernten, das Eintreffen des Gerichtsvollziehers zu fürchten. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich mich im Alter von etwa zehn Jahren im Haus versteckte, weil jemand unentwegt gegen unsere Tür klopfte. Wir hatten die strenge Anweisung, niemals aufzumachen, wenn wir alleine waren, und so lagen Sophie und ich regungslos oben auf dem Holzfußboden und versuchten, nicht allzu laut zu atmen. Ich kroch an die Oberkante der Wendeltreppe und beugte meinen Kopf über den Rand der ersten Stufe, sodass ich zur Haustür hinunterschauen konnte. Die Metallklappe am Briefschlitz ratterte ungeduldig. Ich hielt den Atem an. Und dann, in einem Augenblick äußerster Verlegenheit, traf sich mein Blick mit dem einer anderen Person, die durch den Schlitz ins Hausinnere spähte. Die Gestalt draußen musste in die Hocke gegangen sein. Nun schien sie ebenso schockiert von meinem auf dem Kopf stehenden Mädchengesicht zu sein wie ich vom Anblick der fremden Augen, die freilich rasch wieder verschwanden. Zumindest in diesem Fall gelang es dem Gerichtsvollzieher nicht, seinen Auftrag zu erfüllen und meinem Vater die offiziellen Dokumente zu übergeben. Eins zu null für die Schindlers. Eine weitere Verzögerung in einem unendlichen Fall, den ich nie wirklich begriff. Doch einmal war auch das Glück meines Vaters aufgebraucht. Am Morgen des 28. Februar 1973, er hatte uns gerade zu unserer Grundschule in Kensington gebracht, traten zwei Polizisten in Zivil aus dem Schatten und forderten ihn auf, mit ihnen zu kommen. Während man Kurt verhaftete und abführte, wurden Sophie und ich ins Schulgebäude gescheucht. Meine Patin stellte das Geld für die Kaution zur Verfügung, und Kurt wurde nach kurzer Zeit wieder auf freien Fuß gesetzt. Doch von da an bestimmte seine missliche Lage unser Leben. Als die Beamten vom Betrugsdezernat kamen, um unser Haus zu durchsuchen, lag ich mit Grippe im Bett. Die Männer bestanden darauf, auch einen Blick unter meine dunkelrote Satinsteppdecke zu werfen, vielleicht hatte ja mein Vater dort irgendwelche Papiere versteckt. Das hatte er nicht – etwas im Voraus zu planen, gehörte nicht zu seinen Stärken. Stattdessen biss ich vor lauter Aufregung auf das Fieberthermometer in meinem Mund und war anschließend mächtig beeindruckt von der Schönheit der winzigen Quecksilberkügelchen, die sich am Saum meiner Decke eine wilde Jagd lieferten. In der Schule galt ich als ruhiges, unauffälliges Kind, wenn auch als eines, das nahe am Wasser gebaut war. Einmal wollte eine besorgte Französischlehrerin wissen, ob bei uns zu Hause alles in Ordnung sei. Ja, versicherte ich. Gleichzeitig nahm ich mir vor, niemals wieder in der Schule zu weinen. Ich schämte mich viel zu sehr, um mich der Lehrerin offenbaren zu können. Ich traute niemandem. Wie ich später feststellte, befand sich unter Kurts Papieren auch eine Anklageschrift aus dem Jahr 1975. Sie enthüllte, dass er seine Waren bei einer Vielzahl von Firmen gekauft hatte. Der Staatsanwalt wies besonders darauf hin, dass Kurt keine Forderung eines Lieferanten je zu hoch erschienen war, er gleichzeitig aber die Waren stets auf Kredit angeschafft hatte. Die Schlussfolgerung des Staatsanwalts war eindeutig: Kurt habe niemals die Absicht gehabt, die Lieferanten zu bezahlen. Ich glaube jedoch nicht, dass es so war. Ich glaube eher, dass er das Bezahlen einfach nicht geschafft hat, weil immer irgendeine andere Krise dazwischenkam und er die Einkünfte aus einem Verkauf dazu verwendete, die jeweils gerade dringlichste Schuld zu begleichen. Der Betrug geschah nicht vorsätzlich. Er war das Ergebnis der chaotischen Gedankenwelt meines Vaters. Und möglicherweise auch seiner nicht minder chaotischen Lebensgeschichte. Wenn die Polizei die Gläubiger meines Vaters fragte, warum sie denn überhaupt dazu bereit gewesen seien, ihm so große Warenmengen auf Kredit zu liefern, ähnelten sich die Erklärungen: Der immense Umfang der aufgegebenen Bestellungen plus Kurts detaillierte Kenntnis der internationalen Warenmärkte hatten ihn überaus vertrauenswürdig erscheinen lassen. Ich wusste, was sie meinten. Ich sehe Kurt noch auf der Bettkante im Schlafzimmer meiner Eltern sitzen und über Stunden versuchen, am Telefon die Lieferanten für sich zu gewinnen. Er war charmant und konnte absolut überzeugend sein. Die Anklageschrift betonte den Umstand, dass ein Großteil von Kurts Geschäften über Telex abgewickelt worden war. Ich erinnere mich noch gut an das Telexgerät. Als kleines Kind saß ich gern in dem dunkelgrauen metallischen Gehäuse unter dem Fernschreiber und stellte mir vor, es wäre der Eingang zu einer anderen, magischen Welt, einer Welt, in der ich mich frei bewegen konnte, ohne den Druck, den ich von zu Hause kannte. Und ich lauschte dem Geräusch, mit dem der Fernschreiber lange Rollen bedruckten Papiers ausspuckte. Zu meiner ganz besonderen Aufgabe wurde es, die durchlöcherten Telexstreifen zu vernichten, indem ich sie in winzige Stücke riss. Ich nahm meine Rolle als Schredder sehr ernst. Kurt legte stets Wert auf Vertraulichkeit. Er vermutete sogar, dass das Betrugsdezernat unser Haus verwanzt hatte, und forderte uns deshalb in dramatischem Tonfall dazu auf, unsere Stimmen zu senken, wenn wir ihn danach fragten, was eigentlich los sei. Nach seiner Verhaftung schaffte es Kurt, seinen Prozess mithilfe einer Kombination aus ärztlichen Gutachten und raschem Austausch seines jeweiligen Rechtsbeistands in die Länge zu ziehen. Eine eindrucksvolle Verschleppungstaktik. Sagenhafterweise begann er in dieser Zeit, erneut Handel zu treiben, im Grunde direkt unter den Augen der Polizei. Mit dem Import von 5000 Litern französischen und spanischen Weins verschuldete er sich weiter und konnte natürlich einmal mehr seine Lieferanten nicht bezahlen. Fast zwangsläufig stand er irgendwann vor dem Aus. Im Juli 1976, mitten im heißesten Londoner Sommer seit 350 Jahren, musste sich mein Vater im Gerichtssaal von Old Bailey wegen Betrugs verantworten und wurde wegen betrügerischen Handels in einem Umfang von 370 000 Pfund zu insgesamt fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Ebenfalls für die Dauer von fünf Jahren wurde ihm die Ausübung seines Direktorpostens untersagt. Die Anklage hatte den Richter darüber in Kenntnis gesetzt, dass Kurt seit seiner Ankunft in England als Teenager weder Steuern noch Sozialversicherungsbeiträge entrichtet habe. Der sichtlich entsetzte Richter hatte zurückgefragt: „Was zum Teufel tut er hier, ohne eine Stempelmarke auf seine Sozialversicherungskarte zu kleben oder auch nur einen Penny an Steuern zu zahlen?“ Ein Zeitungsreporter vermittelte seinen Lesern den – falschen – Eindruck, Kurt sei eigens nach London gekommen, um dort betrügerischen Machenschaften nachzugehen, und nutzte die Gelegenheit für einen schwachen Scherz auf Kurts Kosten, indem er „Schindler“ auf „Schwindler“ reimte. Mein einundfünfzigjähriger Vater wurde direkt von der Anklagebank des Old Bailey ins Gefängnis gebracht. Auch uns erwartete eine neue Welt. Wir tauschten unser Reihenhaus in Kensington, zu dessen Räumung wir gezwungen worden waren, gegen einen mehrmonatigen Unterschlupf in Ealing, wo meine ältere Schwester Caroline wohnte. Ich erinnere mich an das Braun der Parks und an den Geruch der vom Asphalt aufsteigenden Hitze, als wir mit unserem geliehenen Möbelwagen bei dem kleinen, terrassenförmig angelegten Haus ankamen, das Caroline und ihre Freunde besetzt hatten. Man führte dort ein sanftes, von Gemeinschaft geprägtes, künstlerisches Leben. Niemand schien sich daran zu stören, dass eine alleinerziehende Mutter mit ihren zwei Kindern sowie etlichen Möbeln ihre Zelte aufschlug und ein Zimmer im oberen Stock bezog. Die Leute waren nett zu uns und fütterten uns durch, wenn wir kein Geld hatten. Seit Kurzem besuchte ich Godolphin and Latymer, eine Mittelschule für Mädchen, doch gegenüber meinen Klassenkameradinnen verlor ich kein Sterbenswort über meine ungewöhnliche Wohnsituation. Meine Mutter war erleichtert, dass der Besuch von Godolphin damals noch kein Schulgeld kostete. Zwei Jahre später, nach der Umwandlung in eine Privatschule, sollte sich das ändern. Nach einigen Monaten kehrten wir nach Kensington zurück, wenn auch diesmal in eine Sozialwohnung mit zwei Schlafzimmern. Ich empfand sie als ein schönes, luftiges Zuhause. Die Wohnung lag inmitten einiger Freiluftgärten, mehrere Stockwerke über einem kommunalen Lager und einigen Büros. Ich war erleichtert, dass wir endlich einen Platz gefunden hatten, von dem uns niemand vertreiben würde. Meine Mutter war auf Draht und hatte eine Stelle als Sekretärin in einer Verpackungsfirma gefunden. Der amerikanische Besitzer war begeistert von ihren perfekten Manieren und ihrem exquisiten britischen Tonfall, wenn sie sich am Telefon meldete. Unfreiwillig zur Alleinerziehenden geworden, meisterte Mary die Herausforderung, für ihre beiden Töchter zu sorgen, großartig. Ihr bodenständiger Humor und ihre Liebe hielten uns aufrecht. Ihren Mann vermisste sie gleichwohl, die ganze Zeit. Für sie legte das Leben bis zu Kurts Entlassung eine Pause ein. Alle zwei Wochen besuchten wir unseren Vater im Gefängnis. Manchmal begleitete uns Kurts Mutter. Edith lebte in einem Pflegeheim in Harrow on the Hill. Sie sprach Englisch mit einem starken deutschen Akzent, ihre Welt drehte sich um ihren einzigen Sohn. Kurts Haft machte ihr schwer zu schaffen. Unsere Besuche waren geprägt von Zeitdruck und Anspannung. Andere Familie plauderten und lachten; wir sahen Intimität und sogar einen Anflug von Sex, wenn die Wärter einmal wegschauten und sich die Besucherinnen auf den Schoß ihrer inhaftierten Männer setzten. Doch Kurt hatte immer ein bestimmtes Anliegen und zudem eine lange Liste von Aufgaben, die meine Mutter erledigen sollte. Er pflegte, sich die Liste mit Kugelschreiber auf den Arm zu notieren. Nach und nach erfuhren wir mehr über das Gefängnisleben. Unter anderem musste Kurt Stoffpuppen für Kinder nähen sowie Gartenzwerge bemalen – Aufgaben, die ihn ärgerten und für die er zudem völlig ungeeignet war. Einmal habe er, erzählte er uns, nach einem Streit mit einem Mithäftling dessen Brillengläser schwarz angemalt. Für seine Arbeit bekam er einen kleinen Wochenlohn, den er für Telefonate, Briefporto und Schokolade ausgeben durfte. Manchmal, wenn wir ihn besuchten, kaufte er Sophie und mir KitKat-Schokoriegel. Eine seltene Leckerei. Kurt lernte nichts aus seiner Zeit im Gefängnis. Er saß seine Zeit ab, in Brixton, in Wandsworth, in Maidstone und schließlich im Ford Open Prison. Ich erinnere mich an keinen einzigen Augenblick des Nachdenkens. Vielmehr erweiterte er seinen Vorrat an Ressentiments. Ford Open Prison verließ er mit einem überraschenden Hass auf Radio 4 der BBC, jenen Sender, mit dem morgens um sechs Uhr die Häftlinge geweckt wurden. Aber Kurt brachte auch eine Menge Anekdoten mit, besonders gerne erzählte er von den Scrabble- und Schachpartien mit seinen verwegenen, aristokratischen Mitgefangenen. Aber ansonsten: keine Einsicht, keine Selbsterkenntnis. Dennoch blieb meine Mutter – gütig, liebevoll und optimistisch, wie sie war – die ganze Zeit davon überzeugt, dass Kurt nach der Haftentlassung schon in der Lage sein würde, seiner Familie Halt zu geben. Ich war vierzehn, als Kurt endlich freikam. Ihm gefiel unsere neue Sozialwohnung nicht, auch rümpfte er die Nase über die Nachbarn aus der Arbeiterklasse. Vielleicht, um zu beweisen, dass er anders war, besser als die Menschen um uns herum, verlegte er sich aufs Prahlen und zählte die berühmten Persönlichkeiten auf, mit denen er angeblich verwandt war. Sein eigenes Versagen als Mann, Vater und Firmeninhaber sollte wettgemacht werden durch den Erfolg und den Reichtum anderer. Immer gab es jemanden, den er für seine Probleme verantwortlich machen konnte, sich selbst sah er ohne Schuld. Er war ein Kind des Krieges, das musste als Begründung reichen für alles, was schieflief. Geheimnisvoll deutete er an, von seinen Gläubigern „verfolgt“ zu werden. Und jene, die ihm helfen wollten, spielten für ihn allesamt ein „doppeltes Spiel“. Nach seiner Haftentlassung brachte Kurt meine Mutter dazu, ihren Job aufzugeben, fortan lebten wir von Sozialhilfe. Mein Vater fand keine Ruhe, ständig brach er einen Streit vom Zaun. Er hasste die Sozialwohnung. Er fühlte sich eingeengt und in der Falle, dazu kam die Wut, weil England ihn im Stich gelassen, zurückgewiesen und eingesperrt hatte. Selbst wenn er einen Job hätte finden wollen, wäre das für einen Mann wie ihn, Mitte fünfzig und vorbestraft, kein leichtes Unterfangen gewesen. Nachts lag ich wach in dem Stockbett, das ich mir mit Sophie teilte, und begrub meinen Kopf unter dem Kissen, damit ich den Zank meiner Eltern nicht hören musste. Die Dinge verschlimmerten sich. Kurt bekam vom Arzt Antidepressiva verschrieben, doch er vertrug sie nicht. Er hatte psychotische Schübe, manchmal wurde er meiner Mutter gegenüber gewalttätig. Bei anderer Gelegenheit hielt er sich für einen Hund und begann, im Hausflur zu bellen. Nach mehreren elenden Monaten in London floh mein Vater nach Österreich. Dort war er auf die Welt gekommen, dort hatte er seine frühe Kindheit verbracht. In Trins, einem abgelegenen Tiroler Dorf nahe der österreichisch-italienischen Grenze, besaß er ein halb fertiges Haus, es sollte der Ort für einen Neuanfang sein. Mary und er hatten das Haus in Auftrag gegeben, als ich ein kleines Kind war. Vor der Geburt von Sophie hatten sie versucht, in Österreich zu leben. Kurt ließ uns in London zurück, schlug sein Lager in Trins auf und beauftragte einheimische Bauarbeiter, das Gebäude bewohnbar zu machen. In den Schulferien besuchte ich ihn, anschließend kehrte ich wieder in meinen Londoner Alltag zurück. Doch im Sommer 1979 hatte mir Kurt etwas mitzuteilen: „Ich habe einen Platz für dich an der besten Schule von Innsbruck gefunden. Du fängst im September an. Sophie wird einstweilen noch die Volksschule hier besuchen.“ Kurt hatte große Pläne und ließ bald auch meine Mutter und Sophie nachkommen. Er wollte den Neuanfang in seinem „schönen Tirol“, das ihm weniger feindselig erschien als England, wo man ihn hinter Gitter gesteckt hatte. „Aber du wirst Ski fahren lernen“, entgegnete er, als ich gegen die so plötzliche Umwälzung meines Teenagerlebens protestierte. Es war schrecklich. Ich hatte meine Londoner Schule geliebt und mich nicht einmal von meinen Freundinnen und Freunden verabschieden können. Ich schmiedete ausgeklügelte Fluchtpläne und gab sie schweren Herzens wieder auf, als mir klar wurde, dass eine mittellose, der Sprache kaum mächtige Fünfzehnjährige in Österreich allein nicht weit kommen würde. Ob ich wollte oder nicht, ich hatte keine andere Wahl, als zu versuchen, mich anzupassen. Meine Tage begannen nun um 5.30 Uhr, vor mir lag ein zweistündiger Weg zur Klosterschule. Spätestens um acht Uhr musste ich da sein. Ich lief den unbefestigten Pfad zur Bushaltestelle hinunter. Manchmal war es wie im Märchen, wenn ich an einem dunklen Wintermorgen Füchse sah, die im Mondlicht durch den frischen Schnee tappten. Meistens aber war es so anstrengend, dass ich auf dem Heimweg einschlief. Manchmal verpasste ich sogar meine Haltestelle und kam erst am Brennerpass, knapp vor der italienischen Grenze, wieder zu mir. Dann musste ich die Zollbeamten anbetteln, dass sie mich telefonieren ließen, und meine Mutter musste alle Hebel in Bewegung setzen, um mich abzuholen.

Erscheinungsdatum
Übersetzer Erica Fischer
Zusatzinfo Schwarz-Weiß-Abbildungen im Innenteil
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel The Lost Café Schindler
Maße 138 x 220 mm
Gewicht 646 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Aimée & Jaguar • Biografie • Buch zweiter Weltkrieg • Café • Der Hase mit den Bernsteinaugen • Edmund de Waal • Eduard Bloch • Erica Fischer • Exil • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Geschichte der Juden • Holocaust-Memoir • Innsbruck • Judenhass • Juden in österreich • Juden in Tirol • Judenrettung • Judenverfolgung • Judenvernichtung • Jüdisch • Kaffeehaus • Lebenserinnerung • Nationalsozialismus • Nazis • Oskar Schindler • Wahre GEschichte • Zeitzeugen
ISBN-10 3-8270-1452-2 / 3827014522
ISBN-13 978-3-8270-1452-8 / 9783827014528
Zustand Neuware
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