Geoffroy de Lagasnerie ist Philosoph und Soziologe. Er ist Professor an der Ecole Nationale Supérieure d'Art Paris-Clergy.
Geoffroy de Lagasnerie ist Philosoph und Soziologe. Er ist Professor an der Ecole Nationale Supérieure d'Art Paris-Clergy.
2. Hobbes, die Wissenschaft, der Mythos
Die Logik der Mystifizierung, die den Kern unserer politischen Moderne ausmacht, lässt sich aufzeigen, indem wir uns Thomas Hobbes’ Leviathan zuwenden. Es ist offensichtlich kein Zufall, dass es mir zweckmäßig erscheint, dieses Werk zum Ausgangspunkt zu nehmen. Der Leviathan ist – geschichtlich betrachtet – eines der Gründungswerke der politischen Theorie und folglich hat die Geste, die es vollzieht, einen Modus der Problematisierung initiiert, den viele Autoren danach bewusst oder unbewusst übernommen haben. Hobbes hat Gewohnheiten und Reflexe geschaffen, die unseren Diskurs, so wie er uns umgibt und als sprechende und fühlende Subjekte hervorbringt, bis heute prägen.
Es gibt noch einen anderen Grund dafür, dass Hobbes’ Analyse ein nützliches Werkzeug bildet, mit dem wir die Natur unserer politischen Denkweisen aufzeigen können: Hobbes bezeichnet sein Projekt nämlich als rationalistisch und wissenschaftlich. Er beansprucht, mit allen Leidenschaften, mit oberflächlichen und parteiischen Beobachtungen zu brechen und zum ersten Mal eine „echte Wissenschaft“ von der Politik zu konstruieren, die sich – wie die Mathematik – von den Regeln der Vernunft und der Beobachtung leiten lässt.1 Hobbes’ Projekt besteht nicht darin, politische „Philosophie“ zu betreiben, sondern darin, eine autonome, illusions- und vorurteilsfreie Wissenschaft zu begründen.2 Sein Unterfangen eröffnet demnach ein Terrain, auf dem es möglich wird, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass man in unserem politischen Diskurs gerade in dem Moment, da man das Wahre zu sagen behauptet, ohne Unterlass das Falsche sagt.
Deduzieren
Hobbes will seine Wissenschaft von der Politik begründen, indem er die Souveränität aus den Eigenschaften des Menschen und aus den Beziehungen zwischen den Menschen deduziert. Er arbeitet daher im ersten Teil seines Werks eine Theorie der Affekte, der Leidenschaften, der Vernunft und der Erfindung aus. Er möchte auf diese Weise eine materialistische und objektive Beschreibung der menschlichen Natur liefern, um daraus in einem zweiten Schritt ein Wissen über die Politik abzuleiten.
Doch sobald Hobbes „das Gemeinwesen“ zum Gegenstand nimmt, sobald er anfängt, über die Geburt des politischen Subjekts nachzudenken, gibt er plötzlich die Vernunftlogik, die Logik der Feststellung und der Argumentation auf.
Hobbes führt zwei mögliche Arten der Verfassung des Gemeinwesens an, oder genauer zwei mögliche Weisen für das Subjekt, in ein Verhältnis zu einem Souverän zu treten. Es gebe zwei Formen des Eintretens in die politische Abhängigkeit (sujétion)3 und folglich zwei Arten von Gemeinwesen. Es gebe einerseits das Gemeinwesen durch Einsetzung oder Institution: Ein Gemeinwesen ist durch Einsetzung gegründet, wenn Individuen sich versammeln und eine Abmachung oder eine Vereinbarung treffen, um eine Person einzusetzen, die das Recht hat, sie zu vertreten. „Ein Gemeinwesen gilt als durch Einsetzung gegründet, wenn eine Menge von Menschen sich einigt und einen Vertrag schließt, jeder mit jedem, daß jeder beliebige Mensch oder jede Versammlung von Menschen, dem die Mehrheit das Recht gibt, ihrer aller Person zu vertreten (das heißt ihr Repräsentant zu sein), von jedem einzelnen, ob er dafür oder dagegen stimmt, für seine Handlungen und Entscheidungen in gleicher Weise Ermächtigung erhält.“4
Die zweite mögliche Form der Einrichtung einer politischen Bindung nimmt nicht die Form des gegenseitigen Vertrags an. Sie entstammt dem Krieg, der Invasion und der Eroberung. Sie ist eine durch Gewalt erlangte Herrschaft: Ein Souverän taucht auf, er erobert ein Gebiet, er erringt den Sieg. Das Subjekt wird zum politischen Subjekt, wenn es – angesichts der Aufforderung des Kriegsgewinners, sich zu unterwerfen oder zu sterben – nachgibt und die neu eingerichtete Macht akzeptiert. Das ist das Gemeinwesen durch Aneignung. „Ein Gemeinwesen durch Aneignung besteht dort, wo die souveräne Macht durch Gewalt erworben wird. Und sie wird durch Gewalt erworben, wenn Menschen, einzeln oder viele zusammen durch Stimmenmehrheit aus Furcht vor Tod oder Knechtschaft dem Mann oder der Versammlung, die ihr Leben und ihre Freiheit in der Gewalt haben, Ermächtigung für ihre Handlungen geben.“5
Diese Unterscheidung ist von Historikern und Philosophen lang und breit diskutiert worden. Was dabei aber als das wesentliche Element angesehen wurde, ist die Tatsache, dass Hobbes die Unterscheidung zwischen diesen zwei Formen der Souveränität einführt, um ihren Unterschied aufzuheben. Man könnte glauben, dass die Form „Gesellschaftsvertrag“ und die Form „Aneignung“ einander widersprechen, dass sie zwei gegensätzliche Modalitäten des Verhältnisses ausdrücken, in dem das Subjekt in der Unterwerfung unter den Souverän steht, und dass folglich diese zwei Typen des Gemeinwesens durch unterschiedliche Arten von Legitimität gekennzeichnet sind. Hobbes’ Konstruktion hat nun aber die Funktion aufzuzeigen, dass der Akt der Subjektivierung, durch den ein Individuum zum politischen Subjekt wird, in beiden Fällen auf ein und derselben Leidenschaft beruht, nämlich auf der Angst.
Die Errichtung eines Gemeinwesens durch Einsetzung gründet nach Hobbes auf der Furcht, die jeder vor dem anderen empfindet, und auf dem Wunsch, diese Situation der Unsicherheit zu beenden, während das Gemeinwesen durch Aneignung auf der Angst vor dem aneignenden Souverän gründet: zwei Ängste also, die aus unterschiedlichen Quellen stammen, Ängste nichtsdestoweniger, und weil es daher letztlich ein und dieselbe Logik ist, die in beiden Formen der Konstitution der Souveränität am Werk ist, kommt auch beiden Formen dieselbe Legitimität zu.
Die kontra-intuitive Behauptung, dass der Souverän durch Einsetzung die gleiche rechtliche Legitimität besitze wie der Souverän durch Aneignung, ist das, was die politische Theorie, einschließlich Foucault6, aus Hobbes’ Werk lernt. Diesen Nachweis hält man für sein Bravourstück.
Naivität
Und doch liegt etwas viel Sonderbareres in dieser Überlegung, die nicht hinreichend kommentiert wurde, wahrscheinlich, weil diesen Punkt aufzugreifen bedeutet, für einen naiven Autor gehalten zu werden. Die Gefahr, sich der Anschuldigung der Naivität auszusetzen, hat übrigens große Implikationen. Sie zeigt das Vorhandensein einer Art von autoimmunisierenden Vorrichtung in der politischen Philosophie, die mit besonderer Intensität hinsichtlich der Theorien des Gesellschaftsvertrags, des Konstruktivismus und der deliberativen Demokratie zum Einsatz kommt: Wenn man die konstitutiven Hypothesen des Feldes nicht akzeptiert, riskiert man, der Naivität bezichtigt zu werden und somit die Pertinenz seiner Aussagen entkräftet zu sehen, was bewirkt, dass die grundlegenden Hypothesen des Feldes von einem legitimen Diskurs letztlich niemals in Frage gestellt werden können, weil die Legitimität die Anerkennung der konstitutiven Hypothesen voraussetzt … Dieses System der Einschüchterung und Selbstbestätigung ist im Grunde demjenigen sehr ähnlich, das im Feld der Gegenwartskunst am Werk ist. Und es erklärt die automatische Fortführung einer Denkweise, deren Existenz niemand in Frage zu stellen wagt.
Falsch
Worüber man beim Lesen von Hobbes’ Text erstaunt sein sollte, ist die Tatsache, dass die Wirklichkeit unserer Beziehung zur Politik an den zwei Modalitäten des Souveränität, von denen er spricht, völlig vorbeigeht.
Hobbes unterscheidet zwei Weisen des Eintretens in den Staat und der Hervorbringung des Subjekts als Untertan des Souveräns. Diese zwei Möglichkeiten haben jedoch keinen Bezug zur Wahrheit unserer Erfahrungen. Sie sind keine Modelle, sondern Fiktionen. Letztlich könnte man behaupten, dass nur das Gemeinwesen aus Aneignung eine Form darstellt, die manchmal – und eigentlich sehr selten – geschichtliche Wirklichkeit aufweist, nämlich für die Kämpfer in einem Krieg im Moment der Niederlage, für die Mitglieder eines kolonisierten Gebiets im Moment der Eroberung … Aber darüber hinaus? Ob es nun im Rahmen „kolonialer“ Systeme, „monarchistischer“ oder „demokratischer“ Regime ist – ich setze diese Ausdrücke hier in Anführungszeichen, denn wir werden über diese Unterscheidungen und Bezeichnungen nachdenken müssen –, wer kann seine Beziehung zum Staat in einer der zwei Formen beschreiben, von denen Hobbes spricht? Die Einrichtung des Staats und der Eintritt des Subjekts in den Staat nehmen praktisch niemals die Form eines freiwilligen und ausdrücklichen Vertrags an.
Der Souverän, so wie Hobbes ihn in der Theorie vom Aneignungsstaat beschreibt, würde sagen: Du unterwirfst dich, du wirst mein Untertan, mein politisches Subjekt, oder ich lasse dich hinrichten. Deshalb behauptet Hobbes, dass der...
Erscheint lt. Verlag | 22.9.2021 |
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Reihe/Serie | Passagen forum | Passagen forum |
Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Peter Engelmann |
Übersetzer | Richard Steurer-Boulard |
Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Fiktion • Philosophie • Politische Theorie |
ISBN-10 | 3-7092-5048-X / 370925048X |
ISBN-13 | 978-3-7092-5048-8 / 9783709250488 |
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Größe: 381 KB
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