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Der Mensch der Vorzeit -  Wilhelm Bölsche

Der Mensch der Vorzeit (eBook)

Die Geschichte des Menschen im Diluvium - kurz und prägnant.
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
96 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7543-6926-5 (ISBN)
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Höhlenmalereien und Knochenfunde erinnern uns an eine große wahre Geschichte, die zu den anregendsten Abenteuern unserer modernen Kulturwissenschaft gehört: nämlich an den geschichtlichen Anfang unserer menschlichen Kultur selbst. Die Menschheit als Ganzes, die wir heute nicht mehr als ein übernatürliches Ding auffassen, sondern als Ergebnis natürlicher Entwicklung kennengelernt haben, - diese Menschheit ist vor geraumen Zeiten einmal selber in einer ganz ähnlichen Lage wie Robinson gewesen. Auch sie war auf ihre Erde gleichsam als auf eine wüste Insel gestellt, und alles, was wir heute an Kulturmitteln besitzen, sollte sie erst aus der harten Furche stampfen. Diesen geschichtlichen Anfang unserer menschlichen Kultur erzählt uns der Sachbuchautor Bölsche in dem lesenswerten Buch mit dem Titel "Der Mensch der Vorzeit".

Wilhelm Bölsche studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie an der Universität Bonn. Er gilt als der Schöpfer des modernen Sachbuchs. In Dutzenden von Büchern und Bändchen popularisierte der Freidenker, Monist und Evolutionär das Wissen seiner Zeit.

Eine Weile schien es allerdings, spät nach erfolgter Entdeckung, noch einmal, als solle der eigentliche prähistorische Wert des klassischen Flecks durch eine überfeine kritische Gelehrtenerfindung diskreditiert werden. Der hochverdiente alte Steenstrup hatte als Sachkenner herausgetüftelt, es könnten hier auch wohl Menschen einer Zeit, die kein lebendes Mammut mehr besaß, damals schon uralte Eiskadaver solcher Mammute aus Schmelzeis nach Art der heutigen sibirischen Jäger ausgegraben und als Aasfleisch verzehrt haben — eine allerdings wesentlich bequemere Verproviantierungsform als gefährliche Jagden auf die lebenden Tierriesen. Die Idee war zu sinnreich, um nicht Anhänger zu finden, und Virchow meinte auf sie hin, nun sei wieder jede Sicherheit zerstört, daß der Mensch wirklich noch auf Erden mit dem Mammut zusammen gelebt habe. Sie war indessen auch nur ein Blendfeuer, das nicht gehalten hat. Das echte Zusammenleben von Mensch und Mammut ist an so und soviel anderen Stellen heute durch untrüglichste Zeugnisse erhärtet, und die Predmoster Situation ist selbst seither so genau geklärt worden, daß jeder Zweifel am „frischen Wild" auch hier schwinden mußte.

Gerade in Predmost sind nun auch menschliche Skelettspuren gefunden worden, die in der Tat jetzt auf eine Rasse gedeutet worden sind, in der gleichsam die Merkmale des Neandertalers (zum Beispiel sein Kinnmangel) eben im Abklingen gewesen wären. Wir hätten also so etwas wirklich hier wie einen Übergang. Es ist möglich, daß sich mit weiteren Lößfunden auch die Sache so klären könnte. Doch kann man gegenwärtig noch nicht sagen, daß sie spruchreif wäre.

So viel zur Rassenfrage der späteren Diluvialepoche. Kehren wir jetzt zu dem prachtvollen Kulturmaterial zurück, das diese Epoche auf jeden Fall uns hinterlassen hat, so entschädigt hier für die Unsicherheit dort ein ganz besonderes Ressort dieses Materials, das uns bisher nicht entgegengetreten ist, nun aber geradezu den Mittelpunkt bilden muß. Was immer die Folge noch einmal vom anatomischen Bau des Magdalenienmenschen uns enthüllen mag: sie wird etwas nicht mehr verrücken können, was uns in allererster Linie diesen Menschen gegenüber der ganzen übrigen prähistorischen Welt interessant und lieb macht. Bei diesem immer noch so fernen, in fernem, seltsamem Milieu schattenhaft Verschwimmenden Menschen tritt uns eines plötzlich mit geradezu verblüffender Kraft entgegen: der Mensch war schon in der Diluvialzeit selbst nicht bloß der erfolgrei - che Robinson einer in ihrer schlichten Art doch bewundernswürdigen Technik, er hatte sich nicht bloß die Anfänge sozial-ethischen Daseins erkämpft, er lebte nicht bloß schon in den dunkel tastenden Dämmerungsversuchen nach allgemeinerer Weltdeutung, wie sie die Wurzel der mythenbildenden Religion wie auch der Philosophie und Forschung bilden — sondern er hatte sich auch schon erhoben zur Stufe der Kunst.

Die „Steinzeit", in der wir auch im Magdalénien noch durchaus bleiben, ist, wie ich schon einmal erwähnt habe, nicht so aufzufassen, als wenn die ganze Werktechnik der Menschen sich hier bloß um Steine als einziges Material drehte. Stein soll nur den Gegensatz zum Metall ausdrücken. Im übrigen ist klar, daß, wer so weit ist, Steine zu benutzen, auch Holz, Muschelschalen, Knochen, Hirschhorn bei passender Gelegenheit nicht verschmähen wird. Wenn prähistorischen Leuten gerade ein Jagdtier so massenhaft zur Beute wurde, wie der Mammutelefant, der die kolossalsten Stoßzähne führte, so lag nahe genug, daß Elfenbein für sie ein gebräuchliches Mittel wurde. Das beste „Materialtier" der eigentlichen Magdalenienzeit ist aber offenbar das Rentier gewesen, dieser einzige Hirsch, der noch heute ein ausgesprochener Freund arktischen Klimas ist und in den seltsamen klimatischen Mischverhältnissen gerade des Ausgangs der Eiszeit tief bis nach Südeuropa hinein ein so günstiges Gebiet gefunden haben muß, daß er direkt Charaktertier wurde und sich jedem Jägersmann geradezu aufdrängte.

Uns ist das Rentier heute nicht mehr bloß Jagdtier. Wir sehen es in hohen Breiten gegenwärtig auch in Symbiose (Zusammenleben) mit dem Menschen. Unentbehrlich, da es lebend und tot das wertvollste Inventarstück seiner menschlichen Genossen, eine Art wandelnden Waren- und Nutzmagazins für die wichtigsten Lebenszwecke, darstellt, ist es zum Haustier des Menschen geworden. So eng und friedlich dürfen wir uns ja nun die Dinge für die Diluvialzeit nicht denken. Der Begriff eines „Haustiers" ist an sich zwar wieder nichts so ganz Außerordentliches in der Natur. Schon Ameisen hegen Blattläuse ganz so als Haustiere wie wir unsere Kühe. Gleichwohl haben wir keinerlei Anhaltspunkt dafür, daß der Mensch auf seiner echten Diluvialstufe schon ein Haustier wirklich besessen habe. Nicht einmal den Hund, der ihm den Anschluß doch sicherlich am leichtesten gemacht hat, hatte er gewohnheitsmäßig bei sich. Die Eisfüchse liefen ihm nach, wenn er, wie in Predmost, Mammutschlachten hielt, und die Schakale folgten ihm als Jäger, wie sie dem Löwen nachtrappeln, um sich ein Stückchen Beuteabfall, der Kleine von der Tafel des Großen, zu erräubern. Der Weg der Zähmung des Hundes ist später sicherlich ganz glatt über solchen freiwilligen Anschluß gegangen, bei dem der Jäger schließlich den Nutzen des Gesellen für das Verfolgen von Wildfährten, der Höhlen- und Zeltbewohner den Segen des Bellers in der Nacht, des Warners und Signalgebers schätzen lernte. Aber noch in all den reichen Magdalenienfundstätten fehlt jedes leiseste Anzeichen für den gezähmten Hund und ebenso für das zahme Pferd, Rind oder Schwein. Der Begriff des Haustiers fehlte als menschliche Neuerfindung noch, obgleich die Wildformen dieser späteren Freunde sich überall vor der Tür in Wald und Steppe schon Herumtrieben und die besten Jagdobjekte bildeten. So also auch das Rentier. Daß gerade dieses Rentier aber, abgesehen vom Braten, ein Arsenal ersten Ranges für die Werkzeugtechnik mit Fell, Knochen, Geweih sei, wußte man offenbar längst.

Indem man den geschärften Stein nur als Messer nahm, das Rentiermaterial aber als Grundstoff, schnitzelte man aus letzterem jetzt die schönsten Nadeln, Pfriemen, Speerspitzen, Dolche, Harpunen und was sonst nicht alles. In dieser Technik ist die ganze Magdalenienzeit unbestritten Meister. Die eigentliche Steintechnik tritt geradezu in ihr in den Hintergrund, sie beschränkte sich für ihren Stoff immer mehr auf kleine, feine, möglichst handliche Schnitzmesser. Der Typus dieser (immerhin an sich ja doch wieder höchst vollkommenen) Steinmesserchen hat einst bei der Aufstellung des ganzen Magdalenien den Ausschlag gegeben, er wird aber als wirklicher Fortschritt der Gesamttechnik eben nur verständlich, wenn man sieht, wie er dieser ganzen Epoche wesentlich nur wieder Mittel zum Zweck in der genialen Rentiertechnik war.

Voraussetzung des Ganzen war aber der Überfluß an Rentiermaterial selbst, wie er so keiner Kulturepoche Gesamteuropas weder vorher noch nachher zur Verfügung gestanden hat. Immerhin scheint es, daß die Magdalenienjäger gelegentlich doch ihrem lebendigen Arsenal etwas nachlaufen mußten. Das Rentier ist wohl sicher trotz aller Vermischungen dieser Epoche seiner eigentlichen Neigung nach ein Tundrafreund gewesen, der nicht der eigentlichen Steppe, sondern lieber den Gletschern nachzog.

Dorthin sehen wir es also den Menschen nachlocken, und in dieser Situation tauchen Magdalenienmenschen bei uns aus deutschem Boden an der Schussenquelle bei Schussenried in Schwaben sehr anschaulich auf.

Nicht leicht kann eine so entlegene Welt uns noch einwandfreier zugleich und landschaftlich greifbarer vor Augen treten als hier. Beim Durchspalten der aufgelagerten jüngeren Schichten erschien, durch zufälligen Luftabschluß gerettet, geradezu noch der diluviale Tundraboden selbst mit seinen (heute grönländischen) Moosen, und unmittelbar in diesem Pflanzenpolster kamen die Kulturreste zutage: in erster Linie bearbeitetes Rentiermaterial selbst, bei dem alle Stadien vortreten, vom frisch zersägten und gebrochenen Geweih bis zu jenen

Speerspitzen, Harpunen und Dolchen aus verwertetem Horn. Was aber auffällt, ist noch zweierlei. Beides beginnt eigentlich schon bei den Mammutjägern vom Predmoster Löß, war also zweifellos damals bereits längst geübter Brauch. Rentierstangen sind wiederholt in einer regelmäßigen Weise mit Kerbstrichen versehen. Was das eigentlich ausdrücken soll, ist an sich nicht ganz deutlich. Man hat an Merkstriche für Zahlen, vielleicht die Anzahl erlegter Tiere, gedacht, etwa in dem Sinne, wie Studenten ihre Semesterzahl in den metallenen Deckelrand ihrer Kommersseidel einkerben. Es könnte sich aber auch um Anläufe zu Verzierungen handeln. Jedenfalls sieht man, daß das Hornmaterial auch schon ganz leise einmal einem andern Zweck zugeführt wird als bloß dem, einen Dolch oder eine Speerspitze zu geben.

Dann findet sich roter, aus Eisenstein gewonnener Farbstoff, genau wie in Predmost. In Predmost liegen sogar verschiedene Farbpasten in viel zu...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Archäologie
ISBN-10 3-7543-6926-1 / 3754369261
ISBN-13 978-3-7543-6926-5 / 9783754369265
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