Aristoteles hat wie kein Zweiter die Geschichte der westlichen Philosophie geprägt. Die Denker des Mittelalters schrieben anstelle seines Namens schlicht »der Philosoph«. Beinahe ungläubig macht heute die schiere Vielfalt seines Werks. Von Ontologie bis Zoologie, von Ethik zu Poetik, Wissenschafts- zur Staatstheorie hat sich der Universalgelehrte beinahe jeder Wissensdisziplin gewidmet. Der Herausgeber Erich Ackermann hat grundlegende Passagen aus der ganzen Fülle dieses Werks zusammengestellt und erleichtert mit kenntnisreichen Kommentaren den Zugang zu Aristoteles großen Gedanken.
Logik (Organon)
Der Beweis
Aller Unterricht und alles Lernen geschieht, soweit beides auf dem Denken beruht, aufgrund eines schon vorher bestandenen Wissens. Dies leuchtet jedem ein, wenn man die sämtlichen Wissenschaften betrachtet; denn man erlangt die mathematischen Wissenschaften auf diese Weise und ebenso jede andere Wissenschaft. Ebenso verhält es sich mit der Argumentation durch logische Schlüsse und durch Induktion; bei beiden geschieht die Belehrung aufgrund eines schon vorher bestandenen Wissens; bei der ersteren werden Sätze angenommen, wie sie bei allen Verständigen gelten; bei der letzteren wird das Allgemeine aus der Kenntnis des Einzelnen abgeleitet. Auch die Redner überzeugen auf gleiche Weise; entweder durch Beispiele, also durch Induktion, oder durch glaubhafte allgemeine Sätze, was eine Deduktion ist.
Man muss aber in zweifacher Weise ein Vorwissen haben; bei manchen Dingen muss man voraussetzen, dass sie sind; bei anderen muss man wissen, was das Ausgesagte ist; bei manchen muss beides vorhanden sein. So muss man schon wissen, dass von jedem Ding entweder die Bejahung oder die Verneinung wahr ist; bei dem Dreieck aber, was es bedeutet; und bei der Eins muss man beides vorher wissen, sowohl dass sie ist, als was sie bedeutet. Von diesen Bestimmungen ist uns nämlich nicht jede in gleicher Weise bekannt; manches lernt man kennen, wo man schon vorher etwas davon wusste, manches auf einmal, wie z.B. das, was unter einem Allgemeinen steht, welches man schon kannte. So wusste man schon, dass die Winkel jedes Dreiecks zweien rechten gleich sind; aber dass diese in dem Halbkreis eingezeichnete Figur ein Dreieck ist, erkennt man gleichzeitig mit der Durchführung einer Induktion. Von manchem geschieht das Lernen auf diese Weise und man lernt das Besondere nicht durch einen Mittelbegriff kennen; nämlich alles, was als Einzelnes ist und sich nicht auf ein Zugrundeliegendes bezieht. Ehe es aber vorgeführt wird oder der Schluss gezogen wird, findet in einer gewissen Weise schon ein Wissen statt, in einer anderen Weise aber nicht. Denn wenn man nicht weiß, ob etwas überhaupt besteht, wie kann man da wissen, dass dessen Winkel überhaupt zweien rechten gleich sind? Vielmehr ist klar, dass man zwar so weit weiß, als man das Allgemeine kennt; dass man es aber nicht im vollen Sinne weiß. Wäre dies nicht so, so geriete man in die im Menon* dargelegte Schwierigkeit, dass man entweder nichts lernen kann oder nur das, was man schon weiß.
Diese Schwierigkeit ist also nicht so zu lösen, wie einige versucht haben, indem sie die Frage stellten: Weißt Du also, dass jede Zwei gerade ist oder weißt du es nicht? Bejaht man nun die Frage, so führen sie eine Zwei an, von welcher der Gefragte nicht glaubte, dass sie bestehe, also auch nicht, dass sie gerade sei. Sie lösen nämlich die Schwierigkeit in der Weise, dass sie behaupten, nicht von jeder Zwei zu wissen, dass sie gerade sei, sondern nur von denen, die sie als eine Zwei kennen. Allein sie wissen doch das, wovon sie den Beweis besitzen und erlangt haben, und sie haben denselben nicht so erlangt, dass jener Satz nur von denjenigen Dreiecken gelte, von denen sie wissen, dass sie Dreiecke oder dass sie Zahlen sind, sondern als von allen Zahlen oder allen Dreiecken geltend; denn keine Prämisse wird so angesetzt, dass sie nur von den dir bekannten Zahlen oder von den dir bekannten geradlinigen Figuren gilt, sondern, dass sie von allen gilt. Sonach steht dem, wie ich glaube, nichts entgegen, dass man das, was man lernt, gewissermaßen schon weiß und gewissermaßen doch nicht weiß. Widersinnig ist es nämlich nicht, wenn man das, was man lernt, gewissermaßen schon weiß, sondern nur, wenn man es in der Beziehung und in der Weise schon wusste, in der man es lernt.
Man glaubt dann eine Sache voll und nicht im sophistischen Sinne in bloß nebensächlicher Weise zu wissen, wenn man die Ursache zu kennen glaubt, durch welche die Sache ist, sodass jene die Ursache von dieser ist und dass sich dies nicht anders verhalten kann. Es ist klar, dass das Wissen solcher Art ist, denn von den Nicht-Wissenden und Wissenden glauben jene und wissen diese, dass dasjenige, was sie vollständig wissen, sich unmöglich anders verhalten kann. Ob es nun noch eine andere Art des Wissens neben dem Wissen aufgrund eines Beweises gibt, werde ich später sagen; jetzt sage ich, dass es auch ein Wissen aufgrund eines Beweises gibt. Unter Beweis verstehe ich aber einen wissenschaftlichen Schluss, und wissenschaftlich nenne ich den, gemäß dem wir dadurch, dass wir ihn besitzen, wissen. Wenn nun das Wissen so ist, wie ich hier angenommen habe, so muss notwendig die beweisbare Wissenschaft aus Sätzen hervorgehen, welche wahr sind und welche die ersten und unvermittelt und bekannter und früher sind und welche die Gründe für den Schlusssatz sind; denn so werden sich auch die eigentümlichen obersten Grundsätze für das Bewiesene verhalten. Ein (logischer, deduktiver) Schluss kann allerdings auch ohne solche Grundsätze zustande kommen, aber nicht ein Beweis; denn er wird keine Erkenntnis bewirken. Diese Bestimmungen müssen also wahr sein, weil man das Nicht-Seiende nicht wissen kann, wie z.B. die Messbarkeit der Diagonale des Quadrats durch die Seite desselben; sie müssen ferner oberste und unbeweisbare Bestimmungen sein, denn sonst müsste man die Kenntnis ihres Beweises haben, um sie zu wissen, da das Wissen der Dinge, wofür ein Beweis und zwar nicht bloß in nebensächlicher Beziehung vorhanden ist, darin besteht, dass man ihren Beweis innehat. Ferner müssen jene Bestimmungen die Gründe bilden und bekannter und früher sein; und zwar die Gründe deshalb, weil man etwas erst dann weiß, wenn man seine Ursache kennt, und sie müssen früher sein, weil sie Ursachen sind, und vorher bekannt, nicht bloß in der Weise eines Verstehens, sondern auch in der Weise des Wissens, dass sie sind. Denn das der Natur nach Frühere ist nicht dasselbe mit dem Früheren für uns und ebenso ist das der Natur nach Bekanntere nicht dasselbe mit dem für uns Bekannteren. Unter dem für uns Früheren und Bekannteren verstehe ich das, was der sinnlichen Wahrnehmung näher liegt; unter dem schlechthin Früheren und Bekannteren das davon Entferntere. Am entferntesten ist das am meisten Allgemeine; am nächsten das Einzelne; beide sind einander entgegengesetzt. Aus dem Ersten abgeleitet ist das, was aus seinen eigentümlichen obersten Grundsätzen abgeleitet ist; denn Erstes und oberster Grundsatz sind dasselbe. Ein oberster Grundsatz ist der unvermittelte Vordersatz eines Beweises und unvermittelt ist ein Vordersatz, dem kein anderer vorausgeht. Vordersatz ist die Aussage des einen von zwei entgegengesetzten Sätzen, wodurch etwas einem anderen Gegenstand beigelegt wird; er ist dialektisch, wenn von diesen beiden Sätzen der eine oder der andere beliebig angenommen wird; er ist beweisend, wenn einer von beiden bestimmt als der wahre hingestellt wird. Aussage ist der eine oder der andere von diesen entgegengesetzten Sätzen. Ein Gegensatz sind solche zwei Sätze, welche kein Drittes zwischen sich gestatten. Teile eines Gegensatzes sind jeder dieser beiden Sätze, von denen der eine etwas von einem Gegenstand bejaht und der andere es verneint. Den unvermittelten Obersatz eines Schlusses, der nicht zu beweisen ist, nenne ich These, wenn der Lernende ihn nicht innezuhaben braucht; wenn aber der, welcher irgendetwas lernen will, ihn notwendig inne haben muss, so ist es ein Axiom. Solcher Art gibt es einige und man hat sie gewöhnlich mit diesem Namen bezeichnet. Nimmt man beliebig einen von den beiden Teilen eines Gegensatzes als Obersatz, z.B. wenn ich sage, dass Etwas ist oder dass es nicht ist, so ist dies eine Hypothese; diejenige dagegen ohne dies ist eine Definition, denn die Definition ist zwar eine These, so lautet z.B. die arithmetische Definition, dass die Eins das der Größe nach Unteilbare sei; aber eine Hypothese ist dies nicht, denn die Angabe, was die Eins ist und die Angabe, dass die Eins ist, sind nicht dasselbe.
Da die Überzeugung und die Erkenntnis in Bezug auf einen Gegenstand darauf beruht, dass man dafür einen solchen logischen Schluss hat, welchen man Beweis nennt, und ein solcher Schluss es dadurch ist, dass die Sätze, aus denen er sich ableitet, wahr sind, so muss man die obersten Grundsätze entweder sämtlich oder einige vorher nicht bloß kennen, sondern auch in einem höheren Grade kennen; denn das, durch welches ein anderes ist, ist immer in höherem Grade; so liebt man dasjenige, weshalb man ein anderes liebt, in höherem Grade. Wenn also unsere Überzeugung und unser Wissen auf den obersten Grundsätzen ruht, so wissen wir diese auch in höherem Grade und vertrauen ihnen in höherem Maß, weil wir erst durch diese Grundsätze das Weitere wissen. Es ist nämlich nicht möglich, dasjenige, was man nicht weiß, und das, wozu man sich nicht besser verhält, als wenn man es wüsste, mehr zu wissen, als das, was man wirklich weiß. Dies würde aber geschehen, wenn man nicht schon ein Wissen vor demjenigen Wissen hätte, auf welches man aufgrund des Beweises vertraut. Notwendig muss also den obersten Grundsätzen, entweder den sämtlichen oder einigen, mehr vertraut werden als der Schlussfolgerung. Wer also ein Wissen mittels des Beweises erwerben will, der muss nicht bloß die obersten Grundsätze...
Erscheint lt. Verlag | 1.11.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie Altertum / Antike |
Schlagworte | Antike Philosophen • Antike Philosophie • Aristoteles • eBooks • Ethik • griechischer Gelehrter • Logik • Menschenbild • Metaphysik • Naturphilosophie • Nikomachische Ethik • Philosophie • Philosophie der Lebenskunst • Poetik • Politik • Rhetorik • Werke Aristoteles |
ISBN-10 | 3-641-28394-9 / 3641283949 |
ISBN-13 | 978-3-641-28394-0 / 9783641283940 |
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