Kafkas Kinder (eBook)
252 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11666-3 (ISBN)
Wolfgang Hantel-Quitmann, geboren 1950, ist Professor für Klinische Psychologie und Familienpsychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.
Wolfgang Hantel-Quitmann, geboren 1950, ist Professor für Klinische Psychologie und Familienpsychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.
Kapitel 1
Familie als Schicksal
Identifikation und Abgrenzung
Man wird mit der Geburt nicht nur in die Welt hineingeboren, in eine soziale Lage, eine Kultur und eine Zeit, sondern auch in eine Familie, die zu einem lebenslangen Schicksal werden kann. Leider können sich manche Menschen, die sich dies schon als Kinder wiederholt wünschten, keine andere Familie aussuchen. Sie können nur versuchen ihr eigenes Seelenheil und ihre Identität zu retten, indem sie sich von ihrer Familie abgrenzen.
Kinder haben verschiedene Möglichkeiten, sich von unliebsamen oder einfach nicht zu ihnen passenden Familienkulturen abzugrenzen und damit ihren individuellen Weg zu gehen: in den jugendlichen Reifungskrisen, wie Pubertät und Adoleszenz, in der Berufswahl, in der Wahl eines Partners bzw. einer Partnerin, der Erziehung der eigenen Kinder oder in der Ablehnung des Familienerbes. Individualität entsteht nicht nur aus einer einzigartigen Mischung eigener Fähigkeiten, Erfahrungen, Vorlieben, Werthaltungen, Kompetenzen oder Passionen, sondern auch aus den Unterschieden zu den engsten Vorfahren, Eltern und Geschwistern. Mit solchen individuellen Wegen sind nicht selten Folgekonflikte verbunden, denn damit werden Loyalitäten aufgekündigt oder infrage gestellt, Delegationen abgelehnt oder mehrgenerationelle Bindungen aufgelöst. Solche Abgrenzungen sind einerseits entwicklungsbedingt notwendig, andererseits werden sie von den Eltern als reale oder symbolische Ablehnungen verstanden und lösen entsprechend aggressive Reaktionen aus. Je persönlicher solche Abgrenzungen gemeint sind oder verstanden werden, desto schärfer werden die daraus resultierenden Konflikte. Manchmal eskalieren sie bis zu Erbschaftsfragen. Im Erbe sind nicht nur materielle, sondern vor allem ideelle, emotionale und symbolische Aspekte enthalten. Alle diese Aspekte kommen zusammen, wenn das Erbe ein Familienunternehmen ist.
Die Krise der Familie A.
Die Krise der Familie A. bricht aus, als der einzige Sohn im Alter von 18 Jahren erklärt, nicht den väterlichen Betrieb übernehmen zu wollen und eigene Pläne für seine Zukunft zu haben. Er möchte gern vergleichende Kulturwissenschaften studieren, zusammen mit seiner Freundin, mit der er seit zwei Jahren zusammen sei, und dabei möglichst viel von der Welt sehen und nicht wie sein Vater 70–80 Stunden in der Woche in seinem Restaurant stehen. Der Vater versteht die Pläne seines Sohnes als persönliche Zurückweisung, ja, als Aggression gegen sich. Die Stimmung ist geladen und sie haben nicht mehr miteinander gesprochen, seit sich der Sohn erklärt hat.
Herr A., der Vater, hat Koch gelernt in der norddeutschen Provinz und sich in jahrelangen Mühen in überhitzten Küchen mit endlosen Arbeitszeiten bei despotischen Küchenchefs hochgearbeitet bis zum stellvertretenden Küchenchef, hat immer sparsam gelebt, viel auf die hohe Kante gelegt und sich selbst nichts gegönnt, keine freien Wochenenden und keine überflüssigen Urlaube. Als eine entfernte Tante starb, erbte er einen Teil eines alten Hauses und versuchte sich seinen Lebenstraum, ein eigenes Restaurant, zu verwirklichen. Lange zahlte er an den Schulden ab, um die anderen beiden Miterben auszuzahlen, bis er endlich am Ziel war: ein eigenes Restaurant mit gutbürgerlicher deutscher Küche in der Nähe der Innenstadt in einem eigenen Haus. Mehr als zwanzig Jahre seines Lebens hat er darauf hingearbeitet und seine Ehefrau hat mitgearbeitet, soweit ihr dies als Grundschullehrerin möglich war.
Der Vater hatte als Koch viel Arbeit für wenig Geld, aber auch wenig Zeit, sein Geld auszugeben. Er hat bis Anfang zwanzig bei seiner alleinerziehenden Mutter gelebt. Auch er hatte seinen Vater früh verloren und musste für seine Mutter mitsorgen, die an Rheuma litt. Diese konnte ihrem Beruf nicht mehr nachgehen, blieb zu Hause, litt unter chronischen Schmerzen und der Sohn sorgte für beide. Sein Vater habe die Familie nach der Krankheitsdiagnose seiner Frau verlassen. Um ihn habe er sich nicht mehr gekümmert, und deshalb sei es für Herrn A. besonders schwer zu ertragen, dass er als sorgender Vater sich immer so sehr um seinen Sohn gekümmert habe und dieser es ihm heute so danke. Der Sohn merkt an, dass sein Vater schon immer versucht habe, ihn mit seiner schweren Kindheit und Jugend zu erpressen und ihm Schuldgefühle zu machen. Er könne nachvollziehen, dass der Vater es schwer gehabt habe, aber das gebe ihm nicht das Recht, ihn zur Übernahme des Restaurants verpflichten zu wollen. Dass er als Vater gut für ihn gesorgt habe und er damit vielleicht ein besserer Vater war als sein eigener, sei lobenswert, aber daraus könne doch keine Verpflichtung abgeleitet werden, die er als Sohn zu erfüllen habe, indem er das Restaurant weiterführe.
Bei einem Streit hat der Sohn dem Vater gesagt, er wolle etwas Besseres als nur Koch werden. Anschließend hat er sich aus der Beziehung zu dem aus seiner Sicht dominanten Vater immer mehr zurückgezogen, von seiner Freundin und seinen Studienplänen habe der Vater erst vor einigen Wochen erfahren.
Auch Franz Kafka hatte ein distanziertes Verhältnis zu seinem dominanten Vater, es gab keine vertraulichen Gespräche über persönliche Themen, obwohl sie viel zu lange gemeinsam in einer Wohnung lebten.
Familie K.
Franz Kafkas Familie war – im Laufe der Zeit zunehmend – relativ gut situiert, aber es herrschte ein Familienklima der Angst und Unterordnung, unter dem Franz Kafka zeitlebens gelitten hat. Franz war ein einsames und ängstlich zurückgezogenes Kind, und das lag nicht nur an seinem autoritären Vater, sondern auch an den ständig wechselnden Bezugspersonen, die ihn betreuten, während beide Eltern im Laden arbeiteten. Kinder brauchen sichere und verlässliche frühe Bindungen, um mit Selbstvertrauen die Welt zu explorieren. Dann bauen Bindungssicherheit von außen und innere Selbstwirksamkeitserfahrungen eine stabile Persönlichkeit aus, die von Selbstvertrauen durch die Konflikte des Lebens getragen wird. Franz Kafka hat dies so nicht erlebt, denn sein Vater beherrschte seine Familie wie die Angestellten seines Galanteriewarenladens. Viel später, als 29-jähriger Mann, hielt er in seinem Tagebuch fest: »Meine Mutter ist die liebende Sklavin meines Vaters und der Vater ist ihr liebender Tyrann« (T2, 29. 12. 1912). Der Tyrann Hermann Kafka machte keine Unterschiede zwischen privat und beruflich, Priorität hatten das Überleben und Wachstum des Ladens und die Familie hatte sich dessen zeitlichem Rhythmus und wirtschaftlichen Erfordernissen anzupassen. Und Widerspruch wurde nicht geduldet. Das Patriarchat war allerdings nur die interne Sicht auf die Familie, in der Franz groß wurde, die sie umgebende Kultur war vielschichtig und sorgte für weiteren Druck.
Die Prager Kultur am Ende des 19. Jahrhunderts war auf mehrfache Weise widersprüchlich und dies hatte erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Familie Kafka. Obwohl der Anteil der Deutschen an der Bevölkerung Prags nur 7 % ausmachte, besetzten die Deutschen die wirtschaftlichen und politischen Machtzentren, während die Tschechen das Proletariat stellten. Die jüdische Bevölkerung versuchte in diesem fragilen Gefüge erfolgreich zu sein und zugleich die eigenen Traditionen zu wahren. Auch die Familie Kafka bewegte sich entlang der Grenze zwischen erforderter Anpassung und versuchter Autonomie. Herrmann Kafka sah diese Gratwanderung als seine Lebensaufgabe an und setzte all seine Kraft dazu ein, erfolgreich zu sein. Den Kindern muss diese Strategie nicht als Sorge, sondern als willkürliche Despotie erschienen sein. Die Juden nahmen in diesem fragilen Gefüge eine besondere Stellung ein: Sie grenzten sich ab und trafen ihre eigenen Entscheidungen. Auch die Familie Kafka ist auf dieser Grenze zwischen erforderter Anpassung und versuchter Autonomie gewandelt, so dass ein doppelter Druck auf die jüdischen Familien entstand, politisch von außen und wirtschaftlich von innen. Hermann Kafka sah diese Gratwanderung als seine Lebensaufgabe an und setzte all seine Macht dazu ein, erfolgreich zu sein. Den Kindern muss diese Herrschaft immer wieder nicht als Sorge, sondern als willkürliche Despotie erschienen sein. Heute würde man vielleicht versuchen, den Kindern ab einem bestimmten Entwicklungsalter diese fragile Lebenssituation der Familie zu erklären, aber die Grenzen des Verstehens sind nicht nur intellektuelle. Man kann Kindern nur das erklären, was man selbst halbwegs verstanden hat. Soweit wir wissen, hat Hermann Kafka nicht einmal den Versuch gemacht, seinem ersten und einzigen überlebenden Sohn Franz dieses Vorgehen als notwendig oder sinnvoll in turbulenten Zeiten zu erklären. Man erklärte den Kindern...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Beziehungen • Beziehungskonflikte • Beziehungsstörungen • Das Urteil • Der menschliche Makel • existenziell • Familientherapie • Kafka • Paartherapie • Psychologie • Psychotherapie • Scham • Schuld |
ISBN-10 | 3-608-11666-4 / 3608116664 |
ISBN-13 | 978-3-608-11666-3 / 9783608116663 |
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