Essstörungen (griffbereit) (eBook)
368 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-11693-9 (ISBN)
Thorsten Heedt, Dr. med. MHBA, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Zertifizierter EMDR-Therapeut. Leitender Oberarzt der MediClin Klinik am Vogelsang. Klinische und wissenschaftliche Schwerpunkte: Depression, Trauma, insbesondere Behandlung mit EMDR, Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Thorsten Heedt, Dr. med. MHBA, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Zertifizierter EMDR-Therapeut. Leitender Oberarzt der MediClin Klinik am Vogelsang. Klinische und wissenschaftliche Schwerpunkte: Depression, Trauma, insbesondere Behandlung mit EMDR, Borderline-Persönlichkeitsstörung.
4 Anorexia nervosa
4.1 Symptomatik
Bei der Anorexia nervosa besteht die Unfähigkeit, ein normales Körpergewicht zu halten. Affektiv ist die Angst vor Gewichtszunahme (Gewichtsphobie) kennzeichnend. Selbst bei erheblichem Untergewicht fühlen sich die Betroffenen zu dick (Cash & Deagle 1997; Heilbrun & Witt 1990). Die Patienten nehmen weniger zu sich (restriktiver Typus) oder üben zu viel Sport aus, erbrechen oder nehmen Laxanzien ein (beim Binge-Eating/Purging-Typus). Subjektiv hingegen sehen sich die Patienten als besonders diszipliniert an und werten die Gewichtsabnahme als positiv.
Kognitiv zeigt sich eine fehlende Krankheitseinsicht, zwanghaft wird über das Essen nachgedacht, es zeigen sich eine besondere Leistungsorientierung sowie ein übertriebener Perfektionismus, außerdem besteht häufig ein niedriges Selbstwertgefühl (Jacobi et al. 2000).
Auch zeigen die Patienten bizarre Verhaltensweisen, wie das Zerschneiden des Essens in winzigste Stücke, oder sie kauen lange und spucken die Nahrung dann doch aus. Im Sinne der sogenannten »altruistischen Abtretung« werden hochkalorische Mahlzeiten für andere hergestellt, sodass sie selbst umso mehr auf die eigene Verzichtsleistung stolz sein können. Übermäßig häufiges Wiegen, langes Joggen oder vielstündiges Spazierengehen gehören ebenfalls zum üblichen Verhaltensrepertoire (Holtkamp et al. 2004).
Auch die Wahrnehmung verändert sich, schon die Aufnahme geringer Nahrungsmengen kann zu Völlegefühl und Unwohlsein führen, und Hunger wird nicht mehr wahrgenommen (Papezová et al. 2005; Legenbauer & Vocks 2014). Die AN beginnt meist mit strenger Diät in der Adoleszenz und manifestiert sich dann vor dem Hintergrund eines belastenden Lebensereignisses.
Fallbeispiel
Ich hatte ein wirklich gutes Gefühl. Eine Woche lang in drei Einzelgesprächen und einer Gruppenstunde tiefsinnige Erkenntnisse über die psychodynamischen Zusammenhänge in der Lebensgeschichte der Patientin gewonnen. Ich hatte immer besser verstanden, wie das alles zusammenhängt. Die Patientin war aus meiner Sicht hochmotiviert. Wir hatten das Vorgehen im Detail besprochen, alles war bisher reibungslos verlaufen.
Die Waage zeigte 44 Kilogramm an, ein Kilogramm weniger als letzte Woche. »Ich versteh das auch nicht«, jammerte sie, »ich hab mich doch an alles gehalten! Ich will doch unbedingt zunehmen, das können Sie mir glauben!«
4.1.1 Hyperaktivität bei Anorexia nervosa
Viele der Patientinnen sind erschreckend hyperaktiv. Södersten und Kollegen (Södersten et al. 2019) fordern eine radikale Abkehr vom bisherigen Mainstream-Denken in der Anorexieforschung. Die zentrale Annahme der Körperbildstörung als zentrales kausales Agens vernachlässige die Hyperaktivität als Kernsymptom. Ruhelosigkeit und fortgesetzte motorische Aktivität seien konstitutiv für die AN. Ruhelosigkeit wurde schon in den ersten Beschreibungen der Krankheit stark hervorgehoben, sie wurde aber später zunehmend als sekundäres Phänomen hingestellt. Dies sei umso überraschender, als dass Hyperaktivität schon lange vor der AN-Symptomatik bestehe (Davis et al. 2005). Schon der berühmte Urvater der modernen Psychiatrie Pierre Janet stellte fest, dass die übertriebene motorische Aktivität oft der Nahrungsverweigerung vorausgeht (Janet 1901). Diese übertriebene Aktivität würde das Gefühl der Euphorie befördern, wie man es bei ekstatischen Heiligen kenne, was dann Nahrungsaufnahme überflüssig mache (Janet 1907). Hier wurde bereits in jüngerer Zeit ein pharmakologischer Versuch unternommen, diesen tückischen Teufelskreis von restriktivem Essverhalten und exzessiver Aktivität zu durchbrechen, und zwar mit der Off-Label-Behandlung mit Metreleptin. Hierbei handelt es sich um rekombinantes menschliches Leptin. Möglicherweise könnte es in der Zukunft eine Rolle bei der Behandlung der AN spielen (Hebebrand & Herpertz-Dahlmann 2019).
Fallbeispiel
Als ich in der psychiatrischen Fachklinik begonnen hatte, musste ich als junger Assistenzarzt feststellen, dass die anorektischen Patientinnen nach dem Mittagessen eine halbe Stunde »Nach-Ruhe« einzuhalten hatten. Ich dachte mir: »Was soll denn das? Ist ja wie im Gefängnis hier!« Anschließend erfuhr ich, dass die Patienten, die zur Gewichtszunahme hier sein sollten, regelmäßig 5-mal die Woche 1,5 Stunden lang auf dem Spinning-Fahrrad trainierten. Eine Patientin, die zur Aufnahme anstand, rannte 100-mal die Treppe rauf und runter, eine andere stundenlang ziellos in einem Affenzahn durch die Innenstadt, natürlich aus Angst vor Gewichtszunahme – oder »weil’s halt gesund ist«.
Binge eating/Purging bei der AN
Essanfälle kommen nicht nur bei der Binge-Eating-Störung und der Bulimie vor, sondern auch bei einem Subtypus der Anorexia nervosa, dem Binge-Eating/Purging-Typus, wenn innerhalb der letzten drei Monate Essanfälle oder kompensatorisches Verhalten wie Erbrechen oder Abführmittelmissbrauch vorkommen. Der restriktive Typus liegt hingegen vor, wenn vorrangig durch Diäten, Fasten und übermäßige körperliche Betätigung Gewichtsabnahme erzielt wird.
4.1.2 Intimität
Dass die Anorexie weit mehr als ein Problem der Nahrungsaufnahme ist, zeigt sich z. B. am Erleben von Intimität: Maier und Kollegen (Maier et al. 2018) untersuchten das Erleben von Intimität bei AN-Patienten. Dies ist relevant, da Intimität und psychosexuelle Entwicklung eines der Kernprobleme bei der Anorexia nervosa darstellen. Bei der Untersuchung mit fMRI ergab sich, dass AN-Patienten intime Stimuli (Zeigen entsprechender intimer, aber nicht primär sexuell gefärbter Bilder) anders als Normalpersonen erlebten. Das Prozessieren erotischer Themen durch den Parietalkortex scheint bei der AN defizitär zu sein.
4.1.3 Dysmorphophobische Ängste
Unter laufender Behandlung können die Mehrzahl der AN-Patienten eine teilweise Recovery erreichen (Wiederherstellung des Gewichts), aber die Raten einer vollständigen Recovery sind gering, und es gibt eine hohe Anzahl von Rückfällen, sodass man AN als chronische Erkrankung betrachten kann, die charakterisiert ist durch viele biopsychosoziale Faktoren (Beilharz et al. 2019; Herzog et al. 1999).
Ein hoher Risikofaktor für den Rückfall beinhaltet auch das Auftreten dysmorphophobischer Ängste (Keel et al. 2005). Dies tritt auf, wenn sich die Patientin um ein entstelltes Aussehen sorgt, was im Allgemeinen durch andere nicht beobachtet wird oder anderen unbedeutend erscheint (Cash & Hrabosky 2003). Es beinhaltet Abnormalitäten darin, wie sich die Patientinnen subjektiv erleben und ihren Körper im Vergleich zum neutralen Beobachter sehen (Mancuso et al. 2010).
Dysmorphophobe Ängste kommen auch bei anderen Störungen vor, bei Depressionen und Schizophrenie, aber vor allem bei der AN und bei der körperdysmorphen Störung (Body dysmorphic disorder, BDD) (Konstantakopoulos et al. 2012). Bei der BDD sorgt man sich um erlebte Defekte beim Aussehen, die anderen kaum auffallen, aber erheblichen Stress beim Patienten verursachen und das Alltagsfunktionieren nachhaltig behindern.
Zwischen 26 und 46 % von AN-Patienten haben möglicherweise eine komorbide BDD, was dann mit größeren funktionalen Einschränkungen einhergeht (Cerea et al. 2018). In einer Studie von Beilharz (Beilharz et al. 2020) zeigte sich, dass zwei Drittel der AN-Teilnehmer dysmorphophobe Sorgen im Sinne einer BDD hatten. Größere dysmorphophobe Ängste sind stark mit Essstörungssymptomatologie und Sorgen um Gewicht und Aussehen verbunden.
Dysmorphophobe Sorgen sind Ausdruck eines tiefen Gefühls, nicht in Ordnung zu sein, und mit Scham verbunden (Weingarden et al. 2018). Wenn AN-Patienten eine objektivere Weltsicht gewinnen könnten, könnte das hilfreich sein, denn ein gestörtes Körperbild ist ein Prädiktor für einen Rückfall (Keel et al. 2005). Techniken, die zur Reduktion...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2021 |
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Reihe/Serie | griffbereit | griffbereit |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
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ISBN-10 | 3-608-11693-1 / 3608116931 |
ISBN-13 | 978-3-608-11693-9 / 9783608116939 |
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