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Wittgenstein (eBook)

Das Handwerk des Genies

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
688 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11669-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wittgenstein -  Ray Monk
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Die beste Wittgenstein-Biographie: überarbeitet und neu aufgelegt Aus der minutiösen Recherche, aus vielen Korrespondenzen und Tagebüchern entsteht das Leben des Philosophen, wie man es so nicht kannte - keine Kultfigur, sondern ein Mensch, der sich einer permanenten Selbstprüfung unterwarf. Durch einzigartiges erzählerisches Geschick fesselt Ray Monk von der ersten bis zur letzten Seite. Er schuf damit die beste Wittgenstein- Biographie überhaupt - nun gibt es sie in einer überarbeiteten Neuausgabe. »Die Biografie versteht zu faszinieren wie der Meister selbst.« Matthias Frings, SFB2 »Nur selten hat man wie bei Monk das Gefühl, dass es einem Biographen gelungen ist, den Motor gefunden zu haben, der das Leben und Schaffen einer Person in Gang hielt.« Michael Hampe, Frankfurter Rundschau »Monk lichtet etwas vom fabulösen Nebel um eine der faszinierendsten Gestalten dieses Jahrhunderts.« Matthias Kross, Der Tagesspiegel

Ray Monk, geb. am 15. Februar 1957 in London, ist ein britischer Philosoph und Schriftsteller. Er unterrichtete von 1992 bis 2018 an der Universität von Southampton. Seine umfassende Biographie Ludwig Wittgensteins gilt als die beste und gelungenste und schildert ebenso eindringlich wie anschaulich die wilde Lebensgeschichte des österreichischen (Anti-)Philosophen. Ray Monk gelingt es, Leben und Werk des Genies zu verzahnen und viele rätselhafte Gedanken Wittgensteins zu erhellen.

Ray Monk, geb. am 15. Februar 1957 in London, ist ein britischer Philosoph und Schriftsteller. Er unterrichtete von 1992 bis 2018 an der Universität von Southampton. Seine umfassende Biographie Ludwig Wittgensteins gilt als die beste und gelungenste und schildert ebenso eindringlich wie anschaulich die wilde Lebensgeschichte des österreichischen (Anti-)Philosophen. Ray Monk gelingt es, Leben und Werk des Genies zu verzahnen und viele rätselhafte Gedanken Wittgensteins zu erhellen.

1.

Das Labor der Selbstzerstörung


»Warum soll man die Wahrheit sagen, wenn es einem vorteilhafter ist zu lügen?«[1]

Um dieses Thema kreisten die ersten überlieferten philosophischen Reflexionen Ludwig Wittgensteins. Im Alter von acht, neun Jahren blieb er im Haus vor einer Tür stehen, um darüber nachzudenken. Da er keine zufriedenstellende Antwort fand, schloss er, dass es unter solchen Umständen keine Schande sei zu lügen. Später beschrieb er den Vorfall als »ein Erlebnis, welches, wenn nicht richtungsgebend, so doch für mein damaliges Wesen charakteristisch war«.

In gewisser Hinsicht kennzeichnet die Episode sein ganzes Leben. Anders als beispielsweise Bertrand Russell, der sich von der Philosophie erhoffte, grundlegende Zweifel durch Gewissheit zu ersetzen, wurde Wittgenstein in sie verstrickt, weil ihn solche Fragen zwanghaft quälten. Die Philosophie kam – könnte man sagen – zu ihm, nicht er zur Philosophie. Er empfand philosophische Probleme als lästige Störungen, als Rätsel, die sich aufdrängten, ihn gefangen hielten, lebensuntauglich machten, bis er sie durch eine befriedigende Lösung überwinden konnte.

Doch in einem anderen Sinne ist Wittgensteins jugendliche Antwort auf gerade diese Frage für ihn ganz untypisch. Sein vorschnelles Hinnehmen der Lüge lässt sich nicht mit dem rastlosen Streben nach Wahrhaftigkeit vereinbaren, für das er als Erwachsener bewundert und gefürchtet wurde. Vielleicht entsprach es auch nicht seinem stark ausgeprägten Gefühl, Philosoph zu sein. »Nenn’ mich einen Wahrheitssucher[2]«, schrieb er später seiner Schwester (die ihn in einem Brief einen großen Philosophen genannt hatte), »und ich will’s zufrieden sein.«

Darin äußert sich nicht bloß ein Meinungsumschwung, sondern eine Charakterveränderung – die erste in einem von solchen Wandlungen geprägten Leben, das an Krisensituationen reifte, getragen von der Überzeugung, dass die Krise im eigenen Selbst wurzelte. Sein Leben erscheint als ständiger Kampf mit der eigenen Natur: Wenn er etwas erreichte, so stets in dem Gefühl, sich gegen die eigene Natur durchgesetzt zu haben. In diesem Sinne wäre es das höchste Ziel gewesen, sich selbst völlig zu überwinden – eine Wandlung, die alle Philosophie überflüssig gemacht hätte.

Viel später, als Norman Malcolm ihm einmal schrieb, G. E. Moores »Unkenntnis der menschlichen Natur« sei diesem »hoch anzurechnen«, wandte er ein: »Dass es ihm ›hoch anzurechnen‹ sei,[3] kindlich zu sein – das kann ich allerdings nicht verstehen; es sei denn, dass es auch einem Kind hoch anzurechnen ist. Denn Du sprichst nicht von der Unschuld, um die ein Mensch gerungen hat, sondern von einer Unschuld, die der naturgegebenen Abwesenheit einer Versuchung entspringt.«

Diese Bemerkung verweist auf eine Selbsterkenntnis. Seine Persönlichkeit – die von Freunden und Studenten als zwingend, kompromisslos und dominant dargestellt wird – war etwas, worum Wittgenstein ringen musste. Als Kind neigte er dazu, lieb und nachgiebig zu sein – wollte gefallen, war bereit, sich anzupassen und, wie wir sahen, die Wahrheit hintanzustellen. In den ersten 18 Jahren seines Lebens rang er, kämpften die inneren und äußeren Kräfte vor allem darum, diesen Wandel zu erzwingen.

Ludwig Josef Johann Wittgenstein wurde am 26. April 1889 als das achte und jüngste Kind einer der wohlhabendsten Familien im Wien der Habsburger geboren. Name und Reichtum der Familie veranlassten manche Biographen, eine Verwandtschaft Wittgensteins mit dem deutschen Adelsgeschlecht Sayn-Wittgenstein anzunehmen. Diese besteht jedoch nicht, denn die Familie führte den Namen erst seit drei Generationen. Er stammte von Ludwigs Urgroßvater Moses Meier, der als Gutsverwalter bei der Fürstenfamilie gearbeitet hatte: Aufgrund eines napoleonischen Dekrets von 1808, demzufolge sich auch Juden einen Familiennamen zulegen mussten, wählte er den Namen seiner Arbeitgeber.

Einer Familienlegende nach soll Moses Meiers Sohn – Hermann Christian Wittgenstein – der uneheliche Abkomme eines Grafen gewesen sein (ob aus dem Hause Wittgenstein, Waldeck oder Esterhazy, hängt von der Version ab), aber nichts spricht dafür. Die Legende klingt äußerst zweifelhaft, zumal sie aus einer Zeit zu datieren scheint, als die Familie (erfolgreich, wie wir später sehen werden) versuchte, sich dem Zugriff der Nürnberger Gesetze zu entziehen.

Gewiss hätte die Legende Hermann Wittgenstein gefallen, der den zweiten Vornamen »Christian« annahm, um sich von seiner jüdischen Herkunft zu distanzieren. Er brach alle Kontakte zur Jüdischen Gemeinde ab, verließ seinen Geburtsort Korbach und zog nach Leipzig, wo er ein erfolgreicher Wollhändler wurde, der ungarische und polnische Ware nach England und Holland verkaufte. Hermann heiratete die Tochter einer bedeutenden jüdischen Familie Wiens, Fanny Figdor, die jedoch vor der Hochzeit 1838 ebenfalls zum Protestantismus konvertiert war.

Als sie in den fünfziger Jahren nach Wien umzogen, betrachteten sich die Wittgensteins vermutlich nicht mehr als Juden. Hermann Christian tat sich sogar als Antisemit hervor und verbot seinen Kindern streng, Juden zu heiraten. Die Familie war groß – acht Töchter und drei Söhne –, und die meisten Kinder respektierten das Verdikt des Vaters; sie ehelichten Protestanten aus der Wiener Gelehrtenschicht. So bildete sich ein Netzwerk von Richtern, Rechtsanwälten, Professoren und Geistlichen, auf deren Dienste die Wittgensteins bei Bedarf zurückgreifen konnten. Die Familie assimilierte sich so rückhaltlos, dass Hermanns Tochter Milly ihren Bruder Louis einst fragte, ob die Gerüchte über ihre jüdische Herkunft zuträfen. Darauf er: »Pur sang, Milly, pur sang.«

Die Lage entsprach der vieler anderer berühmter Familien Wiens: Wie sehr sie auch in die Wiener Mittelschicht integriert war, wie klar sie mit ihrer jüdischen Herkunft gebrochen hatte – sie blieb auf mysteriöse Weise »durch und durch« jüdisch.

Die Wittgensteins gehörten (anders als beispielsweise die Freuds) keiner jüdischen Gemeinde an – sofern man nicht ganz Wien auf hintergründige, aber bedeutsame Weise als solche ansehen konnte; auch spielte das Judentum in der Erziehung keine Rolle. Kulturell empfanden sie ganz deutsch. Fanny Wittgenstein entstammte einer Kaufmannsfamilie, die eng mit dem kulturellen Leben Österreichs verbunden war. Zu den Freunden ihrer Familie gehörte Franz Grillparzer, und bei den österreichischen Künstlern war sie als eine Familie begeisterter, anspruchsvoller Sammler bekannt. Einer von Fannys Neffen war der berühmte Violinvirtuose Joseph Joachim, dessen Entwicklung sie und Hermann entscheidend förderten. Sie hatten ihn im Alter von zwölf Jahren aufgenommen und zu Felix Mendelssohn in die Lehre geschickt. Als der Komponist fragte, was er dem Jungen noch beibringen solle, antwortete Hermann: »Lassen Sie ihn nur die Luft atmen, in der auch Sie leben!«

Durch Joachim wurde die Familie mit Johannes Brahms bekannt, dessen Freundschaft sie höher schätzte als alle anderen. Brahms gab den Töchtern Hermanns und Fannys Klavierunterricht und besuchte später regelmäßig die Musikabende bei den Wittgensteins. Mindestens eines seiner bedeutendsten Werke – das Klarinettenquintett – wurde dort uraufgeführt.

So lebten die Wittgensteins in einer kultivierten, von Respekt und Behaglichkeit geprägten Atmosphäre, in die nur manchmal der üble Geruch des Antisemitismus eindrang, der sie stets an ihre »nicht-arische« Herkunft erinnerte.

Viele Jahre später griff Ludwig Wittgenstein die Bemerkung seines Großvaters gegenüber Mendelssohn auf, als er einen Studenten in Cambridge, Maurice Drury, drängte, die Universität zu verlassen: »In Cambridge gibt es für Sie keinen Sauerstoff.«[4] Er meinte, dass es für Drury besser wäre, in die Arbeitswelt einzutreten, wo die Luft gesünder sei. Angesichts seiner eigenen Entscheidung, in Cambridge zu bleiben, nimmt die Metapher eine interessante Wendung: »Mir macht es nichts aus«, sagte er zu Drury, »denn ich produziere meinen Sauerstoff selbst.«

Sein Vater,...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2021
Übersetzer Hans Günter Holl, Eberhard Rathgeb
Zusatzinfo mit zahlreichen sw-Abbildungen
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Analytische Sprachphilosophie • Bertrand Russell • Cambridge • Frege • Genie • Homosexualität • Linguistik • Ludwig Wittgenstein • Mathematik • Moderne • Österreich • Philosophie • Politische Einstellung • pragmatische Sprachphilosophie • Sprache • Sprachspiele • Tractatus logico philosophicus • Wien • Wiener Kreis
ISBN-10 3-608-11669-9 / 3608116699
ISBN-13 978-3-608-11669-4 / 9783608116694
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