»Menschenökonomie« (eBook)
347 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44812-1 (ISBN)
Frank Becker ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen.
Frank Becker ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen.
1. Einleitung
»Menschenökonomie« – dieser Begriff bündelte zwei Jahrzehnte lang die Anstrengungen von deutschen Arbeitswissenschaftlern und Arbeitserziehern zur Veränderung der Arbeitswelt. »Menschenökonomen« gründeten 1925 in Düsseldorf das Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung (DINTA) und erhielten in der NS-Zeit die Gelegenheit, ihre Konzepte in großem Maßstab zu implementieren. »Menschenökonomie« war dabei ein mehrdeutiger Begriff: Gemeint war eine Ökonomie, die sich am vermeintlichen Wesen des Menschen orientierte, ja auf dieses Wesen in besonderer Weise Rücksicht nahm, aber auch eine ökonomische Auffassung des Menschen selbst, das heißt ein ökonomischer Umgang mit seinen Kräften und Fähigkeiten. In diesem Sinne definierte der Arbeitswissenschaftler Johannes Riedel die Menschenökonomie im Gründungsjahr des DINTA programmatisch als eine Ökonomie der Wirksamkeit des Menschen.1 Vor allem mit den Energiereserven des Werktätigen musste nach wirtschaftlichen Kriterien verfahren werden: Die Arbeitsenergie galt als Ressource, die nicht übernutzt werden durfte, sondern nachhaltig zu bewirtschaften war – was konkret bedeutete, dass Energie, die durch Arbeit verbraucht worden war, wieder ersetzt werden musste. Weil solche Prozesse von den unterschiedlichsten physiologischen, psychologischen und arbeitspraktischen Faktoren beeinflusst wurden, forderten sie auf dem Feld der Arbeitsgestaltung zu hochkomplexen Problemlösungsstrategien heraus.
Deren historische Rekonstruktion macht die Verknüpfung mehrerer Forschungsstränge nötig. Zuerst sind Studien zur Geschichte von Leistung und Ermüdung zu nennen. Das Arbeitsethos der Moderne, das in der Arbeit nicht nur den universellen Schlüssel zur Umgestaltung aller Verhältnisse erblickte, sondern auch die Währung, die dem Individuum seinen gesellschaftlichen Status zuordnete, machte das Leistungsvermögen – bzw. dessen Nachlassen oder sogar vollständigen Verlust – zu einer basalen Kategorie. Vor diesem Hintergrund entstanden in den letzten Jahren Studien zur Genese des Leistungsbegriffs, der Leistungspraktiken und Leistungswissenschaften;2 als Pendant dazu gerieten aber auch Schwäche und Ermüdung in den Blick.3 Da sich diese Forschungen zumeist auf den Zeitraum vom späten 19. bis zum mittleren 20. Jahrhundert beziehen, stecken sie für die vorliegende Untersuchung einen Rahmen ab, wobei die Engführung auf das Feld der Arbeitsgestaltung allerdings manche Konkretisierung erlauben wird. Zudem werden die Begriffe Leistung und Ermüdung durch Gesundheit und Wohlbefinden ergänzt,4 was auch auf semantischer Ebene für neue Perspektiven sorgt.
Der zweite Forschungsstrang bezieht sich auf die Rationalisierungsbestrebungen, die vor dem Ersten Weltkrieg einsetzten, aber in den 1920er Jahren breitenwirksam wurden. Sie erfassten sämtliche Industriestaaten; die Grundidee bestand darin, wissenschaftliche Erkenntnisse dazu zu nutzen, Arbeitsprozesse effizienter und damit für den Unternehmer profitabler zu gestalten, aber auch zu »humanisieren«, also für den arbeitenden Menschen erträglicher zu machen. Hierbei wurden unterschiedliche Wege beschritten – von der »humanen Betriebsführung« in den USA5 bis zu Lenins Parole »Sowjetmacht plus Elektrifizierung«, also der Einführung neuer Arbeitsmethoden unter sozialistischem Vorzeichen.6 In vielen Ländern entstanden »Musterbetriebe«, die fortschrittliche Formen der Arbeitsgestaltung modellhaft verkörperten; beispielhaft seien die Ford-Werke in Detroit, die Schuhfabrik von Thomas Bata in der Tschechoslowakei und der Schreibmaschinenhersteller Olivetti im norditalienischen Ivrea genannt. Diese Fertigungsstätten wurden – ebenso wie die Fortschritte in den Arbeitswissenschaften – international beobachtet und gaben auch außerhalb der jeweiligen Landesgrenzen viele Anstöße zur Nachahmung oder zur abwandelnden Integration in die eigenen Konzepte und Formen von Arbeitspolitik.7
Darüber hinaus spielten Rationalisierungsagenturen eine wichtige Rolle. Hierbei handelte es sich um Körperschaften, die Teilaspekte der Rationalisierung in besonderer Weise unterstützten. Um für Deutschland die wichtigsten zu nennen: Den Anfang machte 1908 der Deutsche Ausschuss für Technisches Schulwesen (DATSCH), eine vom Verein Deutscher Ingenieure und dem Verband Deutscher Maschinenbauanstalten gegründete Vereinigung zur Vereinheitlichung der industriellen Berufsausbildung;8 1913 folgte das Kaiser-Wilhelm-Institut für Arbeitsphysiologie (KWIfA), das den Energieverbrauch im Arbeitsprozess untersuchte;9 1921 entstand das Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit in Industrie und Handwerk (RKW),10 1924 der Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlungen (REFA).11
Gewiss ist die Gründung des DINTA 1925 auch in diesem Kontext zu sehen, doch zu den Rationalisierungsagenturen bestanden einige gravierende Unterschiede. Dem Düsseldorfer Haus ging es nicht nur um die Verbesserung von Technik und Organisation, sondern – im Sinne der Menschenökonomie – auch um die Rolle des Werktätigen. Deshalb setzte es sich in erster Linie mit den direkt auf den Menschen bezogenen Teildisziplinen der Arbeitswissenschaft, Arbeitsphysiologie und Arbeitspsychologie auseinander. Überdies bettete es sein Tun in eine umfassende Weltanschauung ein. So galt es die Arbeiterschaft in neuer Weise zu integrieren, weil der Paternalismus des Kaiserreichs nicht über die Revolution von 1918/19 hatte hinübergerettet werden können. Die sozialistische Arbeiterbewegung erklärte den Betrieb zur Keimzelle des Klassenkonflikts – das DINTA dagegen stilisierte ihn zum Modell für neue Arbeitsbeziehungen und eine neue Arbeitskultur, die dafür sorgten, dass der Beschäftigte durch die Garantie seines Wohlbefindens an das Unternehmen gebunden wurde. Oberstes Ziel dabei war die dauerhafte Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit – um nicht noch einmal erleben zu müssen, was gegen Ende des Ersten Weltkriegs eingetreten war: ein kollektives Ausbrennen der Menschen an der Front und in der Heimat, ein Erschöpfungszustand, der bis in die Weimarer Jahre hinein fortwirkte.
Die Bedeutung des DINTA, das sich also durchaus einem umfassenden »Social Engineering« verpflichtet sah,12 ist in der Forschung schon verschiedentlich hervorgehoben worden, hat sich aber noch nicht in einer monografischen Darstellung der Geschichte des Hauses und seiner vielfältigen Aktivitäten niedergeschlagen. Stattdessen finden sich nur verstreute Aufsätze auf der einen,13 Kapitel bzw. Abschnitte in Büchern zur Industrie- und Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik auf der anderen Seite.14 Auch die vorliegende Untersuchung leistet keine Gesamtdarstellung, schon gar nicht im Sinne einer Institutionengeschichte. Sie will aber den Wissensstand zum DINTA durch die Analyse der in Düsseldorf entwickelten Konzepte zur Arbeitsgestaltung unter Einbeziehung von deren kurz- wie mittelfristiger Wirkung erweitern.
Die Einschätzung der älteren Forschung, den Arbeitsphysiologen und Arbeitspsychologen sei es in den Jahren der Weimarer Republik kaum gelungen, die deutsche Industrie zur Implementierung ihrer Forschungsergebnisse zu bewegen,15 muss dabei deutlich eingeschränkt werden. Für das gesamte Selbstverständnis des DINTA spielte es eine maßgebliche Rolle, dass die Erkenntnisse der Arbeitswissenschaften nicht nur rezipiert, sondern auch in die Praxis überführt wurden. Das Institut war geradezu als Scharnier zwischen Theorie und Praxis, zwischen Forschung und betrieblicher Anwendung konzipiert; sein Leiter Carl Arnhold, ein praxiserprobter Betriebsingenieur, der gleichzeitig Kontakte zu fast allen zeitgenössisch führenden Arbeitswissenschaftlern pflegte und deren Ideen in zahllosen eigenen Vorträgen und Publikationen aufgriff und verbreitete, personifizierte dieses Konzept.
Ein zentrales Instrument zur Überführung von arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen in die betriebliche Praxis war die Arbeitserziehung. Das DINTA griff die Idee der Berufsausbildung in eigenen »Lehrwerkstätten« auf und goss sie in eine neue Form. Diese Initiative hat schon seit den 1960er Jahren das Interesse historisch arbeitender Pädagogen bzw. der historischen Bildungsforschung geweckt;16 die einschlägigen Studien konzentrieren sich folglich auf die Erziehungsziele und -maßnahmen, legen jedoch auf Fragen von Industriepolitik und Arbeitsgestaltung, Wissenschafts- und Wissensgeschichte weniger Gewicht. Hier kann eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung noch Neuland betreten.
Mit dem dritten Forschungsstrang sind...
Erscheint lt. Verlag | 18.8.2021 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 |
Schlagworte | Amt für Berufserziehung und Betriebsführung • Angestellte • Arbeit • Arbeiter • Arbeitsgemeinschaft • Arbeitsphysiologie • Arbeitspsychologie • Arbeitswelt • Arbeitswissenschaft • Arbeitswissenschaften • Berufsausbildung • Betrieb • Betriebsfrieden • Betriebsgemeinschaft • Burnout • Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung • DINTA • Erwerbsleben • Fabrik • Gemeinschaftserlebnisse • Gewerkschaften • Industrie • Kraft durch Freude • Lehre • Leistungsbereitschaft • Nationalsozialismus • NSDAP • NS-Staat • Sozialgeschichte • Volksgemeinschaft • Volksgenossen • Weimarer Republik • Wirtschaft • Wirtschaftsgeschichte • Wirtschaftspolitik • Wohlbefinden |
ISBN-10 | 3-593-44812-2 / 3593448122 |
ISBN-13 | 978-3-593-44812-1 / 9783593448121 |
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