Die Welt als unsicherer Ort (Leben Lernen, Bd. 328) (eBook)
160 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11708-0 (ISBN)
Prof. Dr. med. Luise Reddemann ist Nervenärztin, Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. Seit gut 50 Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Trauma und Traumafolgestörungen. Von 1985 bis 2003 war sie Leiterin der Klinik für Psychotherapie und psychosomatische Medizin des Ev. Johannes-Krankenhauses in Bielefeld und entwickelte dort ein Konzept zur Behandlung von Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen, die »Psychodynamisch imaginative Traumatherapie« (PITT). Luise Reddemann führt zahlreiche Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen durch. Im Rahmen ihrer Honorarprofessur an der Universität Klagenfurt für medizinische Psychologie und Psychotraumatologie widmet sie sich den Arbeitsschwerpunkten Resilienz sowie Folgen von kollektiven Traumatisierungen. Luise Reddemann war Mitglied im Weiterbildungsausschuss der Deutschen Akademie für Psychotraumatologie, im Wissenschaftlichen Beirat der Lindauer Psychotherapiewochen und in der wissenschaftlichen Leitung der Psychotherapietage NRW. Luise Reddemanns Bücher und CDs im Verlag Klett-Cotta haben auch bei Betroffenen weite Verbreitung gefunden und vielen Menschen geholfen, mit einer traumatischen Erfahrung besser fertig zu werden. Weitere Informationen zu Luise Reddemann finden Sie unter: www.luise-reddemann.de
Prof. Dr. med. Luise Reddemann ist Nervenärztin, Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. Seit gut 50 Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit Trauma und Traumafolgestörungen. Von 1985 bis 2003 war sie Leiterin der Klinik für Psychotherapie und psychosomatische Medizin des Ev. Johannes-Krankenhauses in Bielefeld und entwickelte dort ein Konzept zur Behandlung von Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen, die »Psychodynamisch imaginative Traumatherapie« (PITT). Luise Reddemann führt zahlreiche Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen durch. Im Rahmen ihrer Honorarprofessur an der Universität Klagenfurt für medizinische Psychologie und Psychotraumatologie widmet sie sich den Arbeitsschwerpunkten Resilienz sowie Folgen von kollektiven Traumatisierungen. Luise Reddemann war Mitglied im Weiterbildungsausschuss der Deutschen Akademie für Psychotraumatologie, im Wissenschaftlichen Beirat der Lindauer Psychotherapiewochen und in der wissenschaftlichen Leitung der Psychotherapietage NRW. Luise Reddemanns Bücher und CDs im Verlag Klett-Cotta haben auch bei Betroffenen weite Verbreitung gefunden und vielen Menschen geholfen, mit einer traumatischen Erfahrung besser fertig zu werden. Weitere Informationen zu Luise Reddemann finden Sie unter: www.luise-reddemann.de
Kapitel 1
Soziologische und historische Blicke auf die Krise
1.1 Die Zerbrechlichkeit des Sozialen
Überlegungen des Soziologen Andreas Reckwitz (2020) können für eine Psychotherapie ergänzend wichtig sein: Er spricht von der »Zerbrechlichkeit des Sozialen« (o. S.), die uns nun gerade durch das Virus bewusst werde. Die Zerbrechlichkeit des Sozialen zeigt sich jetzt mit einer Wucht – denn es gab sie schon länger (vgl. dazu Tony Judts wunderbares Buch »Dem Land geht es schlecht«, 2014) –, die extrem beunruhigend wirken und die persönliche Zerbrechlichkeit verschärfen kann.10
Reckwitz (2020), Jahrgang 1970, meint auf die Frage des SRF: »Was haben Sie als Soziologe aus der Corona-Krise bislang gelernt?«, dass es ihn persönlich betroffen gemacht habe, wie zerbrechlich die Gesellschaft sein kann, denn seine Generation habe die Gesellschaft als etwas Stabiles erlebt. Eine Aussage, die mich eher verwundert, denn als ab Mitte der 90er-Jahre der Neoliberalismus bei uns Einzug hielt, habe ich, Jahrgang 1943, die Gesellschaft keinesfalls als stabil erleben können. Es erscheint mir wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, dass jede Generation eine eigene Sicht auf Erfahrungen – und damit auf die Zukunft – entwickelt (vgl. ebd., o. S.).11
Reckwitz betont, dass alles das, was wir dem autonomen Subjekt gerne zuschreiben, etwas sei, was man eigentlich erst könne, wenn man einen Subjektivierungsprozess in der Gesellschaft durchgemacht habe. Nun aber gebe es große Fragezeichen in diesem »Subjektivierungsprozess«. So hätten ja viele gelernt, anzunehmen, dass »alles« immer größer, besser, vollkommener werden könne, vorausgesetzt, man strenge sich nur genug an (vgl. kritisch hierzu Cabanas & Illouz, 2019; Sennett, 1998).
Dazu wiederum am 2. 10. 2020 Tim Leberecht (vgl. Steingart, 2020), Unternehmer, Bestsellerautor (»Business-Romantiker«) und Vordenker für einen neuen Humanismus in der Wirtschaft in einem Interview: Wir können verlieren, ohne Verlierer zu sein. Wer eine menschlichere Wirtschaft wolle, der komme um das Verlieren nicht herum: »Unsere Erfolgsgeschichten sind immer auch die Verlustgeschichten der anderen. Wir ahnen durch Corona, dass die Ära des Gewinnens vorbei ist, dass wir in Zukunft immer mehr und immer wieder verlieren werden.« (ebd., o. S.)
»Verlieren ist die Schlüsselkompetenz der Zukunft. Wir müssen daher lernen, in einer weniger aggressiven, einer sanfteren Art zu wirtschaften, zu arbeiten und zu leben. Wir werden lernen müssen, zu verlieren, abzugeben, aufzugeben, nachzugeben und uns hinzugeben.« (ebd., o. S.; Hervorhebung L. R.)
Leberecht (ebd.) macht hier deutlich, dass Corona uns auch zu innerer Umkehr einladen kann. »Abgeben, aufgeben, nachgeben« werden oft als Verlusterfahrungen erlebt, mir scheint es jedoch ebenso möglich, dass sie uns bereichern können und Hingabe genau dadurch möglich wird. Nicht nur in einem paradoxen Sinn, sondern weil wir uns wieder als fähig, zu geben und zu teilen erleben können. Jenseits einer Doktrin, die uns weismachen will, dass es so gut wie immer um eigennützige Ziele zu gehen habe (vgl. hierzu Göpel, 2020). Daraus folgt auch, dass wir die Erfahrung unseres Nichtwissens, unsere Hilf- und Ratlosigkeit in Bezug auf das Virus, mehr und mehr akzeptieren sollten. Wie z. B. Menschen im Dreißigjährigen Krieg, sowie zuvor und danach, werden wir heute wieder mit großer existentieller Unsicherheit konfrontiert. Etwas, das Andreas Gryphius in seinem Vanitas-Gedicht zum Ausdruck gebracht hat: Im Jahr 1643, also während des Dreißigjährigen Krieges, schrieb Gryphius: »Es hilft kein weises Wissen, Wir werden hingerissen, Ohn einen Unterscheid« (Gryphius, 1634/1985, S. 273). Dies wiederum kann uns Verbundenheit vermitteln. Wenn es uns dann auch noch gelingt, Verbundenheit über gemeinsam geteilte Freude zu erfahren, verfügen wir möglicherweise über genügend Stärke, die Krise zu überwinden.
Vielleicht geht es um eine Chance eines Neubeginns, einer anderen Begegnung mit allem, was uns vertraut erschien oder aber uns nicht interessierte. Ich beobachte an mir selbst, dass ich mich um Dinge kümmere, die mich zuvor in keiner Weise interessiert haben. Und ich staune. Es erscheint mir sehr bedeutsam, dass wir uns unserer Verantwortung für unser aller Leben bewusster denn je werden. Um dies zu können, benötigen wir ein Bewusstsein unserer selbst und Offenheit für Andere, ja für die Welt.
Hierzu erscheint mir der Hinweis von Wilhelm Heitmeyer, Manuela Freiheit und Peter Sitzer (2020) hilfreich, dass bei krisenhaften Ereignissen autoritäre Versuchungen eher zunehmen. Entsicherte Zustände seien selten gute Zeiten für Solidarität, breites demokratisches Engagement oder mutige Experimente mit neuen ökonomischen Konzepten oder Modellen der demokratischen Repräsentation. Auch gehen die AutorInnen davon aus, dass »politische, administrative und kontrollierende Institutionen« (S. 296) am Erhalt ihrer Eingriffsrechte interessiert bleiben und Machtzuwachs behalten wollen und dass autoritär eingestellte Bevölkerungsteile dies sogar begrüßen würden. Diese Beschreibung teile ich. Heitmeyer, Freiheit und Sitzer (2020) zitieren außerdem Heribert Prantl (2020), der davon ausgeht, dass Grundrechtseingriffe möglicherweise beibehalten werden. Auch diese Sorge teile ich und sie wird auch von anderen geteilt.
Wir werden mit unserer Unsicherheit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit konfrontiert auf eine Art, die man brutal nennen könnte. Es gibt die Krankheit, die das Virus auslösen kann, und es gibt Angst und Panik aufgrund der daraus sich ergebenden Unsicherheiten und getroffenen Maßnahmen, die manche in Verzweiflung stürzen können. Und auch wir PsychotherapeutInnen sind nicht mehr auf sicherem Gelände – selbst wenn wir das gerne glauben würden. Wir kommen nicht mehr umhin, die Welt »neu zu denken« (vgl. Göpel, 2020), unsere Gewohnheiten genau anzusehen und vielleicht auch in Frage zu stellen. Dies gibt uns auch Würde!
Ich wünsche mir, dass wir uns alle von den sich im Kontext der Corona-Pandemie zeigenden sozialen – und psychischen – Problemen angesprochen fühlen (sollten). Nicht wenige von uns sind auch persönlich von Ängsten betroffen. Wie bereits erwähnt, kann sich Altes, das gut bearbeitet schien, wieder zeigen. Ebenso können wir von sozialen Verwerfungen betroffen sein.
Vielen Menschen hilft, sich durch Theorien abzusichern. Leider gibt es derzeit herzlich wenig gesichertes Wissen und daher in diesem Bereich wenig gesicherte Handlungsoptionen. Meine Annäherungen geschehen daher nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Sicher scheint mir, dass manche Patientinnen und Patienten jetzt unsere Hilfe benötigen und nicht darauf warten können, dass es irgendwann einmal genügend gesichertes Wissen zum Umgang mit Menschen gibt, die von der Pandemie bis ins seelische Mark getroffen sind.
Auch ist mir wichtig hervorzuheben, dass es ja nicht so ist, dass wir keinerlei Erfahrung im Umgang mit Angst und großer Unsicherheit hätten. Und wir wissen, was Menschen in Not vor allem brauchen: Nämlich mitfühlende Andere.
Mitgefühl in Psychotherapien zu zeigen ist erst neuerdings explizit gefragt. Ich werde diesem Thema später hier ein Kapitel widmen. Es ist auch nicht so, dass wir keine Ahnung haben, wie Verzweiflung, Not, Sichverlassenfühlen begegnet werden kann. Wir sollten nicht vergessen, hinter die Kulissen von Corona zu schauen, denn es begegnen uns Menschen mit ihren Nöten, die wir schon lange kennen! (vgl. Wampold, Imel & Flückiger, 2018) Es begegnen uns aber auch Visionäre, deren Ideen wir prüfen können und sollten.
Einladung zum Innehalten
Niemand kann uns daran hindern, Momente der Freude, vielleicht sogar des Glücks, bewusst wahrzunehmen und intensiv zu erleben. Dazu empfehle ich – gerade jetzt – das Führen eines Freudetagebuchs.
1.2 Der historische Blick
Für mich hatte der historische Blick schon immer eine hohe Bedeutung. Er hilft mir, tiefer zu verstehen und mich verbunden zu fühlen – mit dem Leiden der Menschen in früheren Zeiten und wie sie versuchten und wie es ihnen gelang, damit umzugehen. Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass es bereits Pandemien gab, die die Menschheit überlebt hat – wenngleich teilweise mit unfassbaren Opfern. Zu diesem Gesichtspunkt verhalf...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2021 |
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Reihe/Serie | Hilfe aus eigener Kraft |
Leben lernen | Leben Lernen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Corona • Corona-Krise • Covid-19 • COVID-19-Pandemie • Existentielle Psychotherapie • gesellschaftliche Krisen • Irvin Yalom • Klimakrise • Kriegsängste • Krise • Krisenintervention • Mitgefühl • Pandemie • PITT • Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie • Ressourcen • Selbstmitgefühl • Trauma • Traumatisierte Menschen in Krisenzeiten • Trost |
ISBN-10 | 3-608-11708-3 / 3608117083 |
ISBN-13 | 978-3-608-11708-0 / 9783608117080 |
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