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Meine Mutter, die Rechten und der Mann im Garten (eBook)

Eine Familiengeschichte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
200 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2406-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Meine Mutter, die Rechten und der Mann im Garten -  Stella Leder
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Wie fühlt es sich für die Nachfahren der Opfer an, im Land der Täter zu leben? Stella Leder weiß es - etwa dann, wenn sie in einer Bahn voller 'Deutschland!'-grölender Fußballfans sitzt. Wenn sie ihren Wohnort verheimlichen muss, um Anfeindungen zu entgehen. Ihr Großvater und ihre Mutter protestierten gegen Biermanns Ausbürgerung - bis die Mutter selbst aus der DDR ausgebürgert wurde. Kam es jemandem in den Sinn, dass sie diese Affäre ganz anders erlebten als nichtjüdische Dissidenten? Stella Leder erzählt anhand ihrer Geschichte und jener ihrer Familie vom Leben auf gepackten Koffern, von einem Verfolgungstrauma und von Antisemitismus - und davon, dass Deutschland weder in Ost noch in West je einen richtigen Umgang mit beidem gefunden hat.Die persönliche Abrechnung mit einer Erinnerungskultur, die den Antisemitismus nie aus diesem Land getrieben hat.

STELLA LEDER, geboren 1982 in Berlin (West), studierte Kultur- und Literatur-wissenschaften in Berlin. Sie arbeitet für NGOs zu Antisemitismus, Gender und Rechtsextremismus, außerdem als freie Dramaturgin und ist Herausgeberin des Sammelbandes Über jeden Verdacht erhaben? Antisemitismus in Kunst und Kultur.

Stella Leder studierte Kultur- und Literaturwissenschaften in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene NGOs zu Antisemitismus, Gender und Rechtsextremismus, außerdem als Dramaturgin in Projekten kultureller Bildung. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8"auf Zeit online.

1

Eine Geschichte von Antisemitismus und Verrat


Als Kind hatte ich Angst, meine Mutter könnte sich das Leben nehmen, und so nahm ich mir vor, immer zu lächeln, um sie am Leben zu halten. Ich wollte ihr Freude bereiten. »Mein Sonnenschein«, sagte sie manchmal zu mir, für mich ein Wort wie eine Eins auf dem Zeugnis.

Ich erinnere mich nicht, wann ich vom Überleben meines Großvaters und meiner Tante erfahren habe, es ist, als habe ich schon immer von ihrer Verfolgung gewusst. Der Nationalsozialismus war der konkurrenzlose Mittelpunkt des Denkens meiner Mutter. Viele Kinder von Überlebenden bleiben ganz den Erfahrungen ihrer Eltern verbunden, widmen ihr Leben dem Versuch, zu verstehen, was passiert ist, sammeln Bücher und Geschichten, forschen. Damit treten sie – im Gegensatz zur dritten Generation, der ich angehöre – selten in die Öffentlichkeit, und wenn doch, dann meist nur, um über das Leiden anderer zu berichten und sich für sie einzusetzen. Darüber zu sprechen, was das Trauma der Shoah für sie selbst bedeutet, scheint ihnen nicht zuzustehen. Sie haben die Aufgabe, die Geschichte ihrer Eltern und Familien zu bewahren. Eine Generation von Archivar:innen, von denen viele zwischen ihren traumatisierten Eltern und ihren lauten Kindern geradezu unsichtbar bleiben.

In meiner Kindheit bildeten der Nationalsozialismus und seine Folgen einen integralen Bestandteil des Nachdenkens über die Gegenwart. Auch meine Mutter ist eine Archivarin der zweiten Generation. So viel sie mich über das Leiden anderer unterrichtete, so hartnäckig schwieg sie über sich selbst. Ich befragte sie nicht zu ihrer Einsamkeit, versuchte aber, auf Hinweise meiner Todesahnungen achtzugeben und zu verstehen, woher sie kamen – ergebnislos. Bald erfuhr ich, dass meine Mutter schon als Kind Selbstmordgedanken hatte. Als Jugendliche hatte sie Schlaftabletten genommen, wie mir meine Großmutter Gudrun erzählte. »Meine Schlaftabletten«, sagte die Großmutter verächtlich. »Dabei wusste Bettina, dass ich sie brauche, um einschlafen zu können. Und zum Sterben hat sie zu wenige genommen.« Immer machte meine Großmutter meiner Mutter ihre Verwurzelung in der Trauer zum Vorwurf. Sie teilte sie nicht. Und sie verachtete meine Mutter für ihre Melancholie.

Meine Großeltern – Gudrun und Stephan Hermlin – hatten sich Anfang der 50er-Jahre auf einer Lesereise meines Großvaters durch die noch junge DDR kennengelernt. Mein Großvater stand zu diesem Zeitpunkt am Beginn seiner Karriere als Schriftsteller, er war 1945 aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrt und wollte am Wiederaufbau eines neuen, »besseren« Deutschland mitwirken. Dass sich meine Großeltern ineinander verliebten, hatte vielleicht auch mit den gegenseitigen zeitlichen, gesellschaftlichen Projektionen zu tun: Gudrun war noch jung und hatte bis zur Gründung der DDR ein Bild Adolf Hitlers in der Brusttasche getragen. Nun war sie Feuer und Flamme für den neuen, sozialistischen Staat und den kommunistischen, jüdischen Mann aus dem Exil, der gerade dabei war, eine Figur des öffentlichen Lebens zu werden. Mein Großvater hingegen mag in ihr vielen seiner Hoffnungen begegnet sein, die er in die sozialistische Gesellschaft setzte, in die sich das Schlachthaus Deutschland verwandeln sollte.

In ihrem gemeinsamen Haushalt lebte auch Andrée, die 1938 im französischen Exil geborene jüdische Schwester meiner Mutter aus der ersten Ehe meines Großvaters. Gudrun konnte das Mädchen, das nur sechs Jahre jünger war als sie selbst, seine Mutter früh verloren und über Jahre Kinderarbeit hatte verrichten müssen, nicht akzeptieren.

In diese Konstellation wurde meine Mutter Bettina hineingeboren. Was genau zwischen diesen Menschen meiner Familie passiert ist, kann ich nicht auflösen. Andrée und Stephan blieben durch ihre Erfahrungen in einer Weise verbunden, die niemand teilen konnte. Meine Mutter, die – gefragt nach den Erinnerungen an ihren Vater – stets mit Erzählungen darüber antwortet, wie traurig und still er gewesen sei, wie versunken und weit entfernt, trug als Kind die Sehnsucht in sich, ihren Vater trösten zu können. Und das Wissen, dass dies nicht möglich sein würde. Gudrun hingegen wollte frohen Mutes in die Zukunft des sozialistischen Staates marschieren, nicht trauern. Und da hören meine Erklärungen auch schon auf.

In meiner Kindheit nannten wir Gudrun »Großemama«, nicht Oma. Das lag daran, sagte sie, dass mein Bruder sie früher für seine Mutter gehalten hatte. Vor der Ausbürgerung meiner Mutter und meines Bruders aus der DDR sei er so oft bei ihr gewesen, dass er angefangen habe, sie »Mama« zu nennen. Gudrun bestand darauf, die Einzige gewesen zu sein, auf die er sich habe verlassen können. Bettina habe immer nur an sich gedacht – bis es zu spät gewesen sei und sie die DDR verlassen mussten. Meine Mutter habe sich wegen ihres Vaters immer für etwas Besseres gehalten und nicht verstanden, dass für sie dieselben Regeln galten wie für alle anderen Menschen. Deshalb habe sie es verpasst, für den Kleinen da zu sein. Mein Bruder, meinte Gudrun, habe darauf bestanden, sie »Mama« zu nennen, eines Tages habe er zu ihr gesagt: »Du bist meine Mama, ich will, dass du meine Mama bist!« Um Bettina nicht zu verletzen, habe Gudrun meinem Bruder daraufhin vorgeschlagen, sie »Großemama« zu nennen. Sie hoffte, dass unsere Leben nun in geordneten Bahnen verliefen, sagte sie mir, denn wer solle denn auf mich aufpassen, wenn meine Mutter mal wieder eine ihrer Phasen habe, in denen sie nicht an ihre Kinder denke. Es schauderte mich, wenn ich diese Geschichten hörte.

Manchmal ging sie zu weit. »Deine Mama«, erzählte sie, »hat vor ihrer Ausbürgerung deinen Bruder einmal ganz und gar vergessen, tagelang war er allein in der Wohnung und wäre fast verhungert. Fast hätte sie ihn sterben lassen. Da war er nicht einmal zwei Jahre alt.« Sie, die zufällig in die Wohnung gekommen sei, habe ihn gefunden und gerettet. »Du weißt ja, wie deine Mama ist«, ergänzte Gudrun mitleidig, »sie steckte mal wieder Hals über Kopf in irgendeinem Drama. Da hat sie ihn eben vergessen, so ist sie.«

Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, woher mein Misstrauen gegenüber meiner Großmutter stammte, warum ich spürte, dass sie log, während alle anderen ihr zu vertrauen schienen. Es wäre möglich gewesen, ihren Geschichten Glauben zu schenken. Meine Mutter war ein verträumter Mensch, in ihrem Kokon aus Einsamkeit manchmal weit weg von uns. Sie schien vieles nicht mitzubekommen und auf ihrer Version der Realität zu beharren. Aber ich fühlte mich von ihr geliebt und wusste auch, dass sie meinen Bruder liebte. So versponnen meine Mutter manchmal auch wirkte – ich war sicher, sie könnte alles vergessen, aber niemals uns Kinder. So waren es gerade die schlimmsten Geschichten über meine Mutter, mit denen meine Großmutter mich auf ihre Seite ziehen wollte – wie jene über den eben noch verhinderten Hungertod meines Bruders –, die einen Keil zwischen uns trieben.

Einmal träumte ich, ich sähe mich von oben nachts im Bett liegen, unruhig und mit einem schrecklichen Albtraum ringend. Ich wachte auf, und meine Großmutter saß an meinem Bett mit ihren stets frisch gefärbten roten Haaren. Es war taghell. Aber sie war gar nicht meine Großmutter. Sie war riesig, ihr Kopf stieß fast an die Decke, ihre übereinandergeschlagenen, seitlich angewinkelten Beine reichten bis zu der dem Bett gegenüberliegenden Zimmertür. Die rechte Hälfte ihres riesigen, über mich gebeugten Gesichts zuckte, sie hatte mich im Schlaf beobachtet, sah mich an und sagte leise lächelnd: »Du Mamakind.«

Ich versuchte, bei den Begegnungen mit meiner Großmutter an der Inszenierung eines normalen Verhältnisses mitzuwirken, ich spürte, dass dies von mir erwartet wurde. Manchmal empfand ich unsere Kommunikation als so aufgesetzt, dass ich mir vorstellte, sie würde im nächsten Moment ausrufen: »Also, jetzt mal im Ernst, Schluss mit dem Theater, wir müssen ja nicht so tun, als ob!« Dann würde sie mir die Wahrheit sagen und mich aus ihrer Wohnung jagen, nicht ohne einen ihrer Hassausbrüche, die sich normalerweise gegen meine Mutter richteten.

Als ich ein Kind war, zogen wir oft um, von Berlin nach Bremen, von Bremen nach Hessen, innerhalb Berlins, innerhalb Bremens, innerhalb Hessens, unfähig, irgendwo anzukommen, auf der Suche nach einem guten Leben. Aber es half nichts, die bedrohliche Trauer lauerte an jeder Ecke, in jeder Wohnung, in jeder Stadt – bis meine Mutter eines Tages, als ich 13 Jahre alt war, in die Gauck-Behörde fuhr, um ihre Stasi-Akten einzusehen. Sie brachte Kopien von mit Schreibmaschine getippten Texten mit, außerdem ein Foto von mir an der Friedrichstraße, an das ich seitdem immer denke, wenn ich mich an unsere Besuche im Osten erinnere. »Schau mal, wie süß du da bist«, sagte sie und zeigte es mir.

IM Gudrun heißt meine Großmutter Gudrun in den Akten. Als Bettina in der Gauck-Behörde eintraf, nahm eine Mitarbeiterin sie in Empfang. Sie müsse ihr etwas sagen, bevor sie anfange zu lesen.

»Ich...

Erscheint lt. Verlag 18.10.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Anschläge • Antisemitismus • BRD • DDR • Erinnerungskultur • Familie • Familientrauma • Gauland • Halle • Hermlin • Höcke • Israel • Juden • Jüdisches Museum • Leipzig • Nazis • Neonazis • Ofarim • Rechtsradikale • Rechtsradikalismus • Stasi • Synagoge • Thüringen • Trauma
ISBN-10 3-8437-2406-7 / 3843724067
ISBN-13 978-3-8437-2406-7 / 9783843724067
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