Briefe an einen jungen Therapeuten (eBook)
192 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-12125-4 (ISBN)
Victor Chu, Dr. med., ist Arzt und Diplom-Psychologe und arbeitet als Psychotherapeut, Tai-Chi-Lehrer und Ausbilder in Gestalttherapie und gestalttherapeutischem Familienstellen.
Victor Chu, Dr. med., ist Arzt und Diplom-Psychologe und arbeitet als Psychotherapeut, Tai-Chi-Lehrer und Ausbilder in Gestalttherapie und gestalttherapeutischem Familienstellen.
Wofür lebst Du?
Zur Wahrhaftigkeit als Therapeut
Ich lese gerade in Albert Camus’ »Der Mythos von Sisyphos«. Das Buch beginnt mit den Sätzen: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: der Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie.« (Camus 1968, S. 9)
Dies regt mich an, Dich zu fragen: Wofür lebst Du?
Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend, nicht nur für Dein eigenes Leben, da sie Dir Ziel und Richtung vorgibt, sondern auch für Deine therapeutische Arbeit. Denn das, was Du als das Wichtigste im Leben ansiehst, wird durch jede Deiner therapeutischen Interventionen durchscheinen. Sie entscheidet darüber, ob Du Dir die Mühe machst, einem lebensmüden Klienten zu helfen, sich aus seiner Depression herauszuarbeiten, oder ob Du ihn in seinem Lebensüberdruss bestätigst. Deine Lebenshaltung entscheidet darüber, ob Du eine frustrierte Ehefrau darin bestärkst, sich endlich von ihrem Partner zu trennen, oder ob Du versuchst, sie zur Versöhnung und zu einem Neubeginn zu bewegen.
Deine Lebenseinstellung und -haltung, Deine Lebensphilosophie schimmern hinter jeder Äußerung von Dir durch. Selbst wenn Du versuchst, Dich in Deinen verbalen Meinungen zurückzuhalten, wird der Klient aus dem Klang Deine Stimme, aus Deiner Mimik und Deinen Gesten ablesen können, wie Du zu seinen Problemen stehst. Abstinenz ist in diesem Sinne zwecklos. Du kannst Deine Meinungen und Einstellungen niemals verstecken.
Darum ist es wichtig, Dir darüber klar zu werden, was Dir im Leben wichtig ist. Wofür lebst Du? Was ist das Wichtigste in Deinem Leben? Und auch: Wie bist Du selbst durchs Leben gekommen? Welche sind Deine Freuden und Glücksmomente? Worunter leidest Du am meisten? Was sind Deine Überlebensstrategien? Welche Hindernisse hast Du im Leben überwunden? Vor welchen Herausforderungen schreckst Du zurück? Kannst Du zu Deiner Lebensgeschichte stehen? Siehst Du darin eine Entwicklungslinie und einen Sinn? Welche Werte verkörperst Du, welche stellen für Dich eher Lippenbekenntnisse dar? Wie wichtig ist Dir Dein Leben überhaupt? Und, den Gedanken Camus’ aufnehmend, ist der Freitod für Dich eine Option?
Je klarer Du weißt, wer Du bist, desto deutlicher stehst Du in Deiner therapeutischen Arbeit. Wenn Du Dich hingegen davor scheust, zu Deinem eigenen Leben mit all Deinen Stärken und Schwächen zu stehen, wirst Du in den Augen Deiner Klienten schwammig erscheinen. Sie fänden keinen verlässlichen Halt in Dir. Vor allem wirst Du sie nicht unterstützen können, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Möglicherweise würdet Ihr beide bei heiklen Fragen schwanken und keinen Boden unter die Füße bekommen. In diesem Fall möchte ich Dir empfehlen: Gehe selbst in Therapie und bringe erst Dein eigenes Leben in Ordnung. Sonst läufst Du Gefahr, dass Du Deine Schwierigkeiten in Deine Klienten projizierst und Deine Probleme durch sie bearbeiten lässt. Damit löst Du Deine eigenen Probleme nicht. Überdies würde ich fragen: Weshalb hast Du diesen Beruf gewählt, wo es darum geht, dass Menschen zu sich finden? Benutztest oder missbrauchtest Du nicht die therapeutische Tätigkeit dazu, um Dich besser oder überlegener zu fühlen als Deine Klienten?
Einen festen Standpunkt im Leben einzunehmen, auch in der therapeutischen Arbeit, heißt nicht, dass Du dem Klienten Deine Meinung aufzwingen sollst. Es bedeutet nur, klar zu formulieren, wie Du zu einem Thema stehst. Du kannst und darfst Deinen Standpunkt klar aussprechen. Das heißt nicht, dass Dein Klient ihn übernehmen soll. Wenn wir die Ich-Du-Beziehung ernst nehmen, geht es darum, dass beide Seiten klar Stellung beziehen: Wie denke ich darüber? Welche Meinung vertrittst Du? Hier kann durchaus eine Grenze zwischen beiden Ansichten bestehen. Eine Ich-Du-Beziehung bedeutet: für mich selbst klar Stellung zu beziehen, gleichzeitig mein Gegenüber in seiner Position zu respektieren, mir seine Argumente anzuhören und sie in mir zu bewegen. Daraus kann sich eine fruchtbare Auseinandersetzung ergeben.
Ein junger Klient, mit dem ich einige Jahre lang recht fruchtbar gearbeitet habe, der aber in einigen Dingen sehr streng und rigide war, sagte auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise: »Wenn die (gemeint waren die Flüchtlinge) kommen, werde ich mein Heim und meine Familie mit allen Mitteln verteidigen!« Er sah dabei sehr grimmig und entschlossen aus. Ich musste ziemlich schlucken, weil ich in der Flüchtlingsfrage ganz anders eingestellt bin. Zunächst fragte ich ihn, ob er denn überhaupt Kontakt mit Flüchtlingen habe. Er verneinte. Nach einer kurzen Schweigepause, in der ich abwog, wie ich unser Gespräch fortführen sollte, erzählte ich ihm, dass ich ja selbst als Fremder nach Deutschland gekommen und dankbar sei, dass ich von den meisten Einheimischen freundlich aufgenommen worden bin. Dann ging ich auf die aktuelle Situation über und schilderte ihm, wie meine Familie und ich uns seit drei Jahren um vier geflohene afghanische Männer in einem Flüchtlingsheim bei uns in der Gemeinde kümmerten. Ich beschrieb die Höflichkeit dieser jungen Männer (einige von ihnen im Alter meines Klienten), ihren Respekt den hiesigen Frauen gegenüber sowie ihre Liebe für Kinder. Mein Klient hörte mit großen Augen zu. Er wurde recht nachdenklich.
Mir war bewusst, dass ich möglicherweise mit meiner Enthüllung, dass ich selbst Flüchtling gewesen bin und dass ich aktive Flüchtlingsarbeit machte, in meinem Ansehen ihm gegenüber ein Stück sinken würde. Jedoch war es mir wert, dass er aus erster Hand erfuhr, wie die meisten Flüchtlinge in der Realität sind und wie sie sich verhalten. Wichtig war dabei, dass ich mir der Tragfähigkeit unserer Beziehung sicher war, selbst wenn wir in dieser Frage konträre Stellungen bezogen.
Umgekehrt wäre es mir unerträglich gewesen, in unserem Gespräch nur seine Ansichten gelten zu lassen, ohne meinen eigenen Standpunkt deutlich zu machen. Dann hätte sich in mir womöglich eine unsichtbare Trennwand zwischen uns hochgezogen. Ich wäre innerlich ein Stück von ihm abgerückt. Eine solche Entfremdung hätte unsere Arbeitsbeziehung beeinträchtigt. Indem ich meine Meinung nicht nur offen darlegte, sondern auch mit konkreten Erfahrungen unterfütterte, kamen wir miteinander ins Gespräch, ohne dass wir zu Gegnern wurden.
Für mich sind Wahrhaftigkeit und Transparenz vonseiten des Therapeuten eine grundlegende Voraussetzung für eine gute therapeutische Beziehung, ebenso Respekt vor der Meinung meines Gegenübers und die Bereitschaft, mich ernsthaft mit ihm auseinanderzusetzen.
Man könnte dagegen einwenden, dass der Therapeut in den Augen der meisten Klienten eine Autorität darstellt. Dadurch fällt es diesen möglicherweise schwer, den Therapeutinnen und Therapeuten zu widersprechen. Das ist richtig. Jedoch gilt dies vorwiegend für die Anfangsphase einer Therapie. Je weiter die Therapie voranschreitet, desto selbstbewusster wird sich hoffentlich der Klient fühlen, sodass er irgendwann auch wagt, sich gegenüber dem Therapeuten zu wehren oder ihn zu kritisieren. Wichtig ist nur, dass der Therapeut die Emanzipation des Klienten zulässt und fördert. Es ist klar: Jeder Widerspruch vonseiten des Klienten stellt die Autorität des Therapeuten infrage und kann kränkend auf ihn wirken. Ein narzisstisch eingestellter Therapeut, der die Überlegenheit der Therapeutenrolle braucht, um sein eigenes Selbstbewusstsein zu stützen, könnte in Versuchung kommen, die Eigenständigkeit des Klienten als »Widerstand« zu interpretieren, der gebrochen werden müsse. Dies würde jedoch nur die Unterwürfigkeit und die Anpassung des Klienten fördern. Möglichweise würde er mit seiner persönlichen Meinung hinter dem Berg halten. Aber sobald ein Klient gegenüber dem Therapeuten unehrlich wird und sich nicht mehr so zeigt, wie er in Wirklichkeit ist, ist die Therapie gescheitert (▶ S. 42).
Man könnte es auch ganz anders ansehen:
Die allmähliche Emanzipation des Klienten von seinem anfänglichen blinden Vertrauen und Gehorsam gegenüber dem Therapeuten ...
Erscheint lt. Verlag | 17.4.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Balance Beruf und Privatleben • Beruf Therapeut • Gestalttherapie • Innenansichten • Psychologie • Psychotherapeuten • Psychotherapie • Therapeutische Beziehung • Therapeut-Patient-Beziehung |
ISBN-10 | 3-608-12125-0 / 3608121250 |
ISBN-13 | 978-3-608-12125-4 / 9783608121254 |
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