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Menschen ohne Obdach (Komplexe Krisen und Störungen, Bd. 5) (eBook)

Reihe: Komplexe Krisen und Störungen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12118-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Menschen ohne Obdach (Komplexe Krisen und Störungen, Bd. 5) -  Alex Füller,  Sarah Morr
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Wohnungslos und ausgegrenzt - wie kann geholfen werden? - Fallgeschichten zur Veranschaulichung - Konzepte und Möglichkeiten der Hilfe - Autoren mit langjähriger praktischer Erfahrung in der Obdachlosenarbeit Ziel dieses Buches ist es, den Leserinnen und Lesern einen Einblick in die Lebenslage wohnungsloser Menschen zu geben und Orientierung im Umgang mit ihnen zu bieten. Die Autoren beschreiben anschaulich die Dimensionen von Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit und die prekären Lebensverhältnisse der Betroffenen, die meist von Armut, Ausgrenzung und Erkrankungen geprägt sind. Sie beleuchten individuelle und gesellschaftliche Faktoren, die den Absturz in diese Lage begünstigen oder herbeiführen, und stellen Konzepte zur Verbesserung der Situation wohnungsloser Menschen vor. Fallbeispiele veranschaulichen die Möglichkeiten und Schwierigkeiten, die in der Arbeit mit dieser vulnerablen Personengruppe auftreten. Dabei wird deutlich, dass es sich bei dem Phänomen Wohnungslosigkeit um eine komplexe soziale Problemlage handelt, zu deren Bewältigung vielfältige Anstrengungen unterschiedlichster Akteure erforderlich sind. Dieses Buch richtet sich an: PsychotherapeutInnen, SozialmedizinerInnen, SozialarbeiterInnen, ÄrztInnen, Wohlfahrtsverbände, Sozialbehörden, Beratungsstellen, Kliniken, Pflegedienste und Beschäftigungsgesellschaften

Dr. Alex Füller, ehemaliger Vorstand von OBDACH e.V., arbeitete als Medizinsoziologe an der Universität Freiburg und war Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung der Stadt Heidelberg. Als Lehrbeauftragter beschäftigte er sich mit den Themen Armut und Obdachlosigkeit.

Dr. Alex Füller, ehemaliger Vorstand von OBDACH e.V., arbeitete als Medizinsoziologe an der Universität Freiburg und war Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung der Stadt Heidelberg. Als Lehrbeauftragter beschäftigte er sich mit den Themen Armut und Obdachlosigkeit. Sarah Morr war langjährig als Sozialarbeiterin in der ambulanten Wohnungslosenhilfe tätig, wo sie insbesondere mit der medizinischen Versorgung wohnungsloser Menschen betraut war. Seit 2018 ist sie in der Straffälligenhilfe tätig.

Vorwort von Christoph Butterwegge


Obdachlosigkeit ist neben dem (Ver-)Hungern, (Ver-)Dursten, dem (Er-)Frieren und dem Fehlen einer medizinischen Grundversorgung die krasseste Form der Armut, wobei die genannten Leidenszustände oft miteinander verbunden sind. Entgegen dem vorherrschenden Armutsbild gibt es nicht bloß in Ländern der sogenannten Dritten und Vierten Welt, sondern auch in Deutschland existenzielle Not. Umso mehr erstaunt die Verharmlosung des Problems durch Regierungsvertreter und etablierte Parteien: »Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie heute«, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2017 wiederholt verkündet. Was für viele Bürger/innen zutrifft, hätte man undifferenzierter und oberflächlicher im Hinblick auf die soziale Lage der Gesamtbevölkerung gar nicht ausdrücken können. Denn die Reichen sind in den vergangenen Jahren reicher und die Armen sind zahlreicher geworden.

Nach einem deutlichen Rückgang während der 1990er Jahre existierten 2018 laut Schätzungen der BAG Wohnungslosenhilfe in Deutschland wieder 678 000 Wohnungslose, darunter fast die Hälfte anerkannte Flüchtlinge. 41 000 Menschen, davon in manchen Großstädten fast die Hälfte osteuropäische EU-Bürger/innen, lebten dem Dachverband der Wohnungslosenhilfe zufolge auf der Straße. Darunter befinden sich immer weniger Berber oder Trebegänger, wie die »klassischen« Obdachlosen genannt wurden. Stattdessen steigt die Zahl der Mittelschichtangehörigen, von (Solo-)Selbstständigen, Freiberuflern und akademisch Gebildeten, die aufgrund sozialer Probleme »in die Gosse« abrutschen. Auch immer mehr gestrandete Arbeitsmigrant/innen und Geflüchtete teilen ihr Schicksal, ungeschützt der Witterung ausgesetzt zu sein.

Exakte Zahlen dazu gibt es nicht. Statistiker/innen des Bundes und der Länder erfassen eher, wie viele Bergziegen und Zwerghasen es hierzulande gibt, als dass sie verlässliche Angaben darüber liefern müssten, wie viele Menschen ohne Wohnung dastehen. Umso notwendiger ist es, für eine solide Datengrundlage zu sorgen, die es bisher nur in zwei Bundesländern gibt. Wenn eine bundeseinheitliche Wohnungsnotfallstatistik geschaffen wird, kann man die zuständigen Behörden und die politisch Verantwortlichen leichter zwingen, das Problem mit der erforderlichen Konsequenz anzugehen.

Eine überraschende Betriebsschließung, die Kündigung des Arbeitsverhältnisses sowie Beziehungskrisen, Ehekonflikte und Suchterkrankungen sind zwar Auslöser, nicht jedoch Ursachen der zunehmenden Wohnungslosigkeit, die man in den bestehenden Gesellschaftsstrukturen, den herrschenden Eigentumsverhältnissen und sich häufenden sozioökonomischen Krisenerscheinungen suchen muss. Da Wohnungen ebenso wie Würstchen, Wandteppiche und Wegwerftaschentücher als Waren be- und gehandelt werden, können sich Menschen ohne bzw. mit geringem Einkommen auf dem entsprechenden Markt nicht behaupten.

Die gegenwärtige Wohnungsmisere und der »Mietenwahnsinn« sind ebenso wenig vom Himmel gefallen wie prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne, sondern vielmehr durch politische Entscheidungen zugunsten von Kapitaleigentümern, Immobilienkonzernen und Großinvestoren erzeugt worden. So schafften CDU, CSU und FDP zum 1. Januar 1990 das Wohngemeinnützigkeitsgesetz ab. Damit hatte der Staat z. B. genossenschaftlichen Wohnungsbaugesellschaften bis Ende der 1980er Jahre bestimmte Steuervorteile gewährt, sie dafür jedoch zur Beschränkung auf eine Kostenmiete und zur Begrenzung von Gewinnausschüttungen verpflichtet. Vorher preisgebundene Wohnungsbestände gelangten daraufhin auf den Immobilienmarkt, wo es primär um hohe Renditen ging.

Parallel dazu wurde das Mietrecht mehrfach liberalisiert und der in Deutschland für Vermieter traditionell relativ strenge Kündigungsschutz gelockert. Die rot-grüne und die erste Große Koalition schufen die rechtlichen Voraussetzungen für neue Geschäftsmodelle, welche im Immobilienbereich zu »Mietmonopoly« und zum Klassenkampf auf dem Wohnungsmarkt führten.

Großstädte wie Dresden haben, dem neoliberalen Zeitgeist gehorchend, teilweise ihren gesamten kommunalen Wohnungsbestand – häufig zu Schleuderpreisen – an US-amerikanische Investmentgesellschaften, internationale Finanzinvestoren und börsennotierte Immobilienkonzerne verkauft, die – wenn sie überhaupt lange gehalten wurden und noch in ihrem Bestand sind – heute damit hohe Profite machen. Seit 2015 gehört der von »Deutsche Annington« in »Vonovia« umbenannte Immobilienriese zu den 30 wertvollsten Konzernen, die sich im Deutschen Aktienindex (Dax) befinden. Seine exorbitanten Profite erwirtschaftete das Unternehmen durch Wertsteigerungen seines wachsenden Immobilienbestandes, rüde Methoden der »Entmietung« und gesetzlich erlaubte Mieterhöhungen von bis zu 11 bzw. 8 Prozent nach Modernisierungsmaßnahmen.

Da zahlreiche Kapitalanleger nach der globalen Finanz-, Weltwirtschafts- und europäischen Währungskrise weitere Bankpleiten und Börsenzusammenbrüche fürchteten, wurde »Betongold« immer beliebter. Finanzinvestoren haben fortan besonders gern mit Immobilien spekuliert und diesen für die ganze Bevölkerung existenzwichtigen Lebensbereich noch stärker ihrer Profitlogik unterworfen.

Obdachlose sind die »marktfernsten« Gesellschaftsmitglieder, denen aus diesem Grund im Zeichen der neoliberalen Globalisierung bzw. Modernisierung nur sehr geringe Ressourcen und wenige Unterstützungsmaßnahmen wie Notunterkünfte, Nachtasyle und Kältebusse zur Verfügung stehen. Nicht zuletzt deshalb sind über 300 Obdachlose seit der Vereinigung von BRD und DDR der Kälte zum Opfer gefallen, ohne dass Regierung, Verwaltung und (Medien-)Öffentlichkeit mehr als nur sporadisch Notiz von diesen menschlichen Tragödien genommen hätten.

Nirgendwo versagt das kapitalistische Wirtschaftssystem so eklatant wie bei der Wohnungsversorgung. Da sich der Markt als unfähig erwiesen hat, eine adäquate Wohnungsversorgung für alle Bevölkerungsschichten sicherzustellen, muss sie als öffentliche Aufgabe begriffen werden und es muss vom Staat aus Gründen der sozialen Verantwortung für seine Bürger/innen gewährleistet werden, dass niemand wegen seines geringen Vermögens und seines zu niedrigen Einkommens auf der Strecke bleibt.

Mit einer halbherzigen »Mietpreisbremse« für Teilwohnungsmärkte, wie sie die zweite Große Koalition zum 1. Juni 2015 eingeführt hat, war das Problem des Wohnungsmangels für Einkommensschwache nicht zu lösen. Wohngeld hilft als Maßnahme der »Subjektförderung« letztlich weniger bedürftigen Familien als den Eigentümern jener Häuser, in denen sie zur Miete leben, und ist daher eine staatliche Fehlsubvention. Wirkungsvoller wäre die sogenannte Objektförderung: Der soziale Mietwohnungsbau, seit den 1980er Jahren immer stärker eingeschränkt, müsste im großen Stil wieder aufgenommen und zügig vorangetrieben werden, um Geringverdienern, Alleinerziehenden und großen Familien eine angemessene Bleibe zu bieten. Nötig wären eine Wiederbelebung des öffentlichen Wohnungsbaus und eine Wiederherstellung der Wohnungsgemeinnützigkeit, womit die Aktivitäten genossenschaftlicher und kommunaler Wohnungsbaugesellschaften stimuliert würden. Letztlich müssen die Kommunen in die Lage versetzt werden, verstärkt selbst zu bauen, wie das mit den Wiener Gemeindebauten in der österreichischen Hauptstadt seit fast 100 Jahren geschieht.

Die teilweise geradezu skandalösen Zustände auf dem Mietwohnungsmarkt sollten Anlass sein, über eine soziale Wende in der Wohnungspolitik nachzudenken. Da sich Räumungsklagen, Zwangsräumungen und Wohnungsnotfälle mehren, ist die Verankerung eines »Grundrechts auf Wohnraum« in unserer Verfassung überfällig, für das der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Beginn der 1990er Jahre in seiner juristischen Dissertation Das polizeiliche Regime in den Randzonen sozialer Sicherung. Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung über Tradition und Perspektiven zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit plädiert hat. Staat und Behörden müssten, forderte Steinmeier damals, per Grundgesetzauftrag »zum Bau und Erhalt preisgünstigen Wohnraums für breite Bevölkerungskreise« verpflichtet werden, und es dürfe, so Steinmeier weiter, keine Wohnung z. B. wegen aufgelaufener ...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2021
Reihe/Serie Komplexe Krisen und Störungen
Komplexe Krisen und Störungen
Vorwort Christoph Butterwegge
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte abrutschen • „Aktion Arbeitsscheu“ • Alkohol • Arbeitsamt • Arbeitslosigkeit • Arbeitsstörungen • Ausgrenzung • Ausweglosigkeit • Bagatelldelikte • besondere soziale Schwierigkeiten • Bettler • Delinquenz • Depression • Diakonische Einrichtungen • Diskriminierung • Drogen • Ersatzunterkünfte • Finanzielle Hilfen • Gesellschaft • Gesundheitshilfe vor Ort • Gesundheitssystem • Gewalterfahrungen • „Hotel Mama“ • Housing First • Hygiene • Jugendarbeit • Jugendhilfe • Kriminalisierung • Landstreicher • Medical Streetwork • Medizinische Versorgung • Menschen- und Grundrechte für Nichtsesshafte und Wohnungslose • Mobile Duschen • Morbidität wohnungsloser Menschen • nichtsesshaft • Nichtsesshaftigkeit • Notunterkunft • Obdach e.V. • Obdachlosigkeit • ohne Krankenversicherung • Ordnungsrechtliche Unterkünfte • Penner • Platte machen • Polizei- und Ordnungsrecht • prekäre Beschäftigungsverhältnisse • Projekte und Initiativen • Psychische Störung • Psychologie • Psychologische Beratung • Psychotherapie • Sandler • soziale Angst • Sozialgesetzgebung • Sozialstruktur der Wohnungslosigkeit • Stadtstreicher • Stigmatisierung • „Straßenvisite“ • street work • Sucht • Suizidalität • Tafel • unter der Brücke schlafen • Unterstützung und Hilfe für wohnungslose Menschen • Vereinsamung • von der Hand in den Mund leben • Wanderarbeiter • „Waschen ist Würde“ • Wohlfahrtsamt • wohnraumsicherung • Wohnungslos • Wohnungslosenhilfe • Wohnungslosigkeit • wohnungsnotfall • Wohnungsversorgung
ISBN-10 3-608-12118-8 / 3608121188
ISBN-13 978-3-608-12118-6 / 9783608121186
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