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Trostlose Vernunft? (eBook)

Vier Kommentare zu Jürgen Habermas' Konstellation von Philosophie und Geschichte, Glauben und Wissen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
247 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4016-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Trostlose Vernunft? -  Burkhard Liebsch,  Bernhard H. F. Taureck
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Als Aufklärer will Habermas nicht zu jenen »leidigen Tröstern« gehören, über die schon Kant seinen Spott aus gegossen hat. Vielmehr bekennt er sich wie bereits Hegel zur »prinzipiellen Trostlosigkeit« philosophischen Denkens und gibt auch jede Aussicht auf finale Versöhnung eines Geistes preis, der aus der Asche jeglicher Vernichtung »verjüngt« hervorgehen können sollte, um so Kapital aus dem Tod zu schlagen. Darüber hinaus verzichtet Habermas auch auf Glücks­, Sinn­ oder Erlösungsversprechen, die sublunare Wesen ?letztlich? vielleicht allein interessieren. Er legt einen weiten Weg der Ernüchterung zurück, an dessen vorläufigem Ende wir heute stehen, wo Philosophie durch rigorose Aufklärung da rüber, was sie vermag - und was nicht -, ihre eigene Auflösung zu gewärtigen hat. Burkhard Liebsch und Bernhard H. F. Taureck gehen in vier historisch und sozial­philosophisch ausgerichteten, reichhaltigen Kommentaren den Stationen dieser Ernüchterung nach und verdeutlichen, welche Potenziale Habermas' eigentümliche Konfiguration von Glauben und Wissen, Philosophie und Geschichte opfert.

Burkhard Liebsch lehrt als apl. Professor praktische Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Zuletzt hat er veröffentlicht: »Einander ausgesetzt. Der Andere und das Soziale« (zwei Bände, 2018) und (als Herausgeber) »Sensibilität der Gegenwart. Wahrnehmung, Ethik und politische Sensibilisierung im Kontext westlicher Gewaltgeschichte« (Sonderheft 17 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 2018).

1.Geschichte der Philosophie als Philosophie der Geschichte?


Philosophen, die ihre Berufung in weitgehend dekontextualisierter Begriffsanalyse sehen, wird nachgesagt, sie glaubten, ihr analytisches Tun mache Erinnerung an die Genealogie der von ihnen bearbeiteten Begriffe weitgehend überflüssig, Philosophie komme insofern ohne Geschichte aus. (Woraus Kontrahenten unnachsichtig den Schluss ziehen, in diesem Fall komme die Geschichte ohne Weiteres auch ohne solche Begriffsarbeiter aus.) Die gegenteilige Position besagt, Philosophie gehe in ihrer eigenen Geschichte auf. Philosophie und Geschichte der Philosophie wären dann im Grunde dasselbe – zumal wenn es sich nur um Fußnoten zu Platon handelt, wie manche meinen (1/432, 772 f.3). Zumindest seit Platon ›dreht sich‹ Philosophie demnach um das, was dieser in der Form einer Wiederholung fingierter sokratischer Dialoge vorgedacht hat, bietet seitdem aber »nichts Neues unter der Sonne«. Dieses noch von Hegel in seinen Vorlesungen über die Vernunft (in) der Geschichte in Anlehnung an das Buch Kohelet (1.10) wiederholte Diktum würden die Philosophen zumindest mit Blick auf die Geschichte ihrer Disziplin bis heute nur bestätigt finden.4 Was diese Geschichte inzwischen hervorgebracht hat, nimmt sich so gesehen aus, als sei es gleichsam vorgezeichnet gewesen in ihren Anfängen, die nachträglich als Ursprünge erscheinen.

Habermas schließt sich weder der einen noch der anderen Richtung an. Weder will er ahistorische Begriffsanalyse betreiben noch auch die Philosophie, die ihm vorschwebt, in deren Geschichte aufgehen lassen. Vielmehr glaubt er, dass sie originäre, in unserer Gegenwart sich stellende Probleme aufwirft, deren Vorlauf seine Geschichte der Philosophie zu rekonstruieren unternimmt. Letztere entspringt auf diese Weise einer nachträglichen Deutung dessen, was die Anfänge der Philosophie freigesetzt haben. Von diesen Anfängen her lassen sich allerdings vielfältige Geschichten der Philosophie nacherzählen. Der bestimmte Artikel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie unvermeidlich selbst vom Plural affiziert wird. Wie die Vielzahl der bereits vorliegenden Philosophiegeschichten in der Einheit einer philosophischen Geschichte aufgehen können soll, weiß offenbar niemand anzugeben. Die Geschichte der Philosophie, die alle bereits erzählten Geschichten der Philosophie(n) in sich aufheben würde, gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Letztere erweisen sich als genauso inkompossibel wie plurale Perspektiven, die sich nicht zum Gesamtbild einer Stadt oder gar des Universums zusammensetzen lassen (wie es einst Leibniz vorschwebte). Habermas hält sich mit verschiedenen Geschichten von diversen Philosophien allerdings gar nicht erst auf. Vielmehr liegt ihm an einer normativen Rekonstruktion einer Vorgeschichte des gegenwärtig als richtig Eingesehenen, das er als geschichtlich orientierungswirksam zur Geltung bringen möchte, also so, dass es in gegenwärtig sich abspielende und zukünftige Geschichte eingreifen kann. Ohne den geringsten, ohnehin nicht zu erfüllenden Anspruch auf Vollständigkeit des historisch Vergegenwärtigten will Habermas Letzteres in praktischer Absicht so rekonstruieren, dass es reale Geschichte rational auszurichten erlaubt. Was unter dem Titel Auch eine Geschichte der Philosophie präsentiert wird, zielt in Wahrheit geschichtsphilosophisch auf Rationalitätsansprüche, denen weiterführende geschichtliche Prozesse gerecht werden sollen, sofern sie eine Angelegenheit menschlicher Praxis und Willensbildung sind.

Aber ist das Attribut ›geschichtsphilosophisch‹ nicht ganz und gar obsolet? Bezieht es sich nach klassischem Verständnis nicht auf die Einheit einer alles und jeden umfassenden Geschichte, die (ungeachtet diverser Rehabilitierungsversuche) längst zerfallen bzw. nicht mehr glaubwürdig darzulegen ist? Heute hat alles (s)eine Geschichte. Die Wassermühle als überholte Technik ebenso wie das Wasser selbst, transnationale Machtgefüge ebenso wie jeder Einzelne, ja sogar das angeblich infolge eines »Urknalls« entstandene Universum und auch die sogenannte Dunkle Materie und Energie, aus der es nach aktuellem physikalischem Erkenntnisstand überwiegend besteht. Sind nicht selbst die kleinsten subatomaren Partikel aus Anderem entstanden? Die entsprechenden Genealogien bewahrheiten sich indessen erst heute, in unserer Gegenwart.

Heute gilt als weitgehend unbestritten, dass es lange keine ›Geschichte‹ im Singular gab, allenfalls Geschichten. Reinhart Kosellecks Rede von einem Kollektivsingular Geschichte ist in diesem Zusammenhang die Standardreferenz.5 Vor der Geschichte gab es demnach Geschichten und vor diesen wiederum nur Ahistorisches. Geht man von komplexen Geschichtsvorstellungen auf deren elementarere ›Vorläufer‹ wie die parataktische Annalistik zurück6 und fragt dann, was ihnen wiederum vorausging, so ist damit zu rechnen, dass sich früher oder später alle Spuren verlieren in einer hunderttausende von Jahren währenden Zeit der Anthropogenese, deren Anfänge nichts Schriftliches und nicht einmal Höhlenmalerei, sondern nur Knochen, gewisse Fragmente und Relikte hinterlassen haben. Genauer: Hinterlassen haben sie streng genommen gar nichts. Relikte etc. sind nur übrig und erhalten geblieben.7 So zeugen sie von immer neuem, schierem Untergang, dessen mineralische Produkte die obersten Schichten der Erde ausmachen.8

Heute wissen wir: Wir sind aus Toten/m zusammengesetzt. Aber das allein macht keine Geschichte aus. Vielmehr setzt dieser Begriff im üblichen Verständnis einen Anfang voraus, der sich auf ein Ziel oder Ende zubewegt (hat), sei es auch nur ein Abbruch oder Untergang, von dem man wenigstens nachträglich erzählen kann, ohne dabei das jeweils Spätere als im Vorangegangenen präformiert oder determiniert ausgeben zu müssen. Solange eine Geschichte im Gang ist, muss vorläufig unentschieden bleiben, worin sie mündet. Und davon sollte auch eine nacherzählte Geschichte noch etwas ahnen lassen, die die Kontingenz dessen, was hätte anders kommen können, nicht einfach unterdrückt, sei es durch nachträgliches Teleologisieren, sei es durch Retrodiktionen, die deutlich machen, ›wie es kommen musste‹, sei es durch einen (un-)happy endism, der das (un-)glückliche Ende schon im Voraus kennt.9

So weit geschichtliche Überlieferung zurückreicht, bezeugt sie das Interesse der Menschen an nachvollziehbaren Konfigurationen von Anfängen und Enden – sei es im Mythos, sei es in narrativen Praktiken der Verknüpfung von res gestae in der Form einer historia rerum gestarum. Aber von einfachen Fabelkompositionen, die Aristoteles in seiner Politik als mythos bezeichnete, über das historisch reflektierte Erzählen, wie wir es bei Thukydides finden, bis hin zur Etablierung einer Geschichte, die nicht nur ganze Ethnien und politische Lebensformen, Dynastien, Imperien und Weltreiche, sondern schließlich die Menschheit im Rahmen einer Welt- und Universalgeschichte umfassen sollte, war es ein weiter Weg. Und dieser Weg scheint sich insofern als Sackgasse erwiesen zu haben, als man nicht wissen kann, ob diese Geschichte nicht nur diverse Anfänge (ohne bereits absehbares Ende) erkennen lässt, sondern darüber hinaus einen Ursprung und ein Ziel hat, wie es noch Karl Jaspers für denkbar hielt.10 Von einer Geschichtsphilosophie, die quasi kraft Amtes diese Fragen entscheiden könnte, weil man ihr höhere oder tiefere Einsicht in die entscheidenden geschichtlichen Zusammenhänge zutraut, kann keine Rede mehr sein und konnte wohl nie die Rede sein, wenn Karl Löwith, Habermas’ wichtigster Gewährsmann in dieser Hinsicht (1/597 ff.), recht hat mit seiner Behauptung, dass es sich zu keiner Zeit je um Fragen philosophischen Wissens, sondern stets nur um Fragen des Glaubens gehandelt haben kann.11 Theologisch motivierter Glaube habe dazu verleitet, auch auf die Geschichte als zu einem guten Ende führende zu bauen, die sich nicht darin erschöpfen sollte, einfach so katastrophal wie bisher weiterzugehen oder abzubrechen, zu verkümmern oder zu versanden (um das Mindeste zu sagen), sondern Rettung und Heil verspricht.

Löwith ging es in seinem Klassiker Weltgeschichte und Heilsgeschehen nicht darum, den Ursprung religiösen Glaubens aufzuzeigen, sondern darum, zu entlarven, wie er zu einem Glauben an die Geschichte führen konnte, der im Wesentlichen zwei Deutungen zulässt: Entweder führt ›die‹ Geschichte für jeden Einzelnen, das eigene Volk oder alle Menschen zu einem guten, Rettung und Heil versprechenden Ende, das ›nach‹ ihr oder im Anderen der Zeit eintreten wird, oder aber sie realisiert selbst dieses gute Ende und entpuppt sich, allen widersprechenden Evidenzen zum Trotz, ihrerseits als ein Heilsgeschehen, das so oder so, auch unter ›säkularisierten‹ Bedingungen, zu quasi paradiesischen Zuständen führen wird.12 Löwith hielt es für unbestreitbar, dass sich nichts dergleichen wissen lässt und dass der entsprechende Glaube an die Geschichte seine Glaubwürdigkeit längst vollkommen eingebüßt hat, so dass...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2021
Reihe/Serie Blaue Reihe
Blaue Reihe
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Geschichte der Philosophie • Habermas • Jürgen • Phänomenologie • Religionsphilosophie • Sozialphilosophie
ISBN-10 3-7873-4016-5 / 3787340165
ISBN-13 978-3-7873-4016-3 / 9783787340163
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