Der Marathon-Pater (eBook)
192 Seiten
bene! eBook (Verlag)
978-3-96340-104-6 (ISBN)
Pater Tobias Breer O. Praem., Jahrgang 1963, geboren in Werne an der Lippe. Seit 2008 ist er Pastor der Herz-Jesu Gemeinde in Duisburg-Neumühl. Die materielle und soziale Armut täglich vor Augen, gründete Pater Tobias 2007 das Hilfsprojekt LebensWert, für das er 2016 den Engagementpreis des Landes Nordrhein-Westfalen erhielt.
Pater Tobias Breer O.Praem, Jahrgang 1963. Seit 2006 ist er Pastor in Duisburg-Neumühl. Die materielle und soziale Armut täglich vor Augen, gründete Pater Tobias 2007 das Hilfsprojekt LebensWert, auch weil er weiß, wie sich Leid anfühlt: Seine Mutter ist früh gestorben. 2016 erhielt er den Engagementpreis NRW und wurde im darauffolgenden Jahr für den Deutschen Engagementpreis nominiert. Jutta Hajek, Jahrgang 1965, arbeitet als freie Journalistin und Übersetzerin. Als begeisterte Läuferin war es ihr ein Anliegen, die Geschichte von Pater Tobias aufzuschreiben. Mit ihrer Familie lebt die Autorin in Kelkheim im Taunus.
Kapitel 1
Bloß nicht aufgeben
Daniel Elke © Projekt Lebenswert
»Jesus ist 40 Tage durch die Wüste gelaufen, da werde ich wohl 6 schaffen«, flachse ich. Aber so locker, wie ich das sage, ist es nicht. Meine Anspannung wächst von Tag zu Tag.
Vom Veranstalter des Oman Desert Marathon habe ich eine Ausrüstungsliste bekommen. Und da ist einiges dabei, was sonst nicht zu meinem klassischen Laufgepäck gehört: Kompass, Signalspiegel, Trillerpfeife, ein scharfes Messer, Salztabletten, Antiseptika, eine Anti-Gift-Pumpe, eine Rettungsdecke und vieles mehr. Ich gehe die Liste gerade noch ein weiteres Mal durch und setze hinter jeden Ausrüstungsgegenstand, den ich bereits auf den Tisch gelegt habe, einen Haken.
Immer wieder schweifen meine Gedanken in die Ferne, am liebsten wäre ich schon unterwegs.
Auf dem Konferenztisch in meinem Büro in Duisburg-Neumühl türmen sich verschiedene Stöße von Materialien und Unterlagen, Dinge, die ich mit auf die Reise nehmen muss. Auch ein aktuelles EKG und eine Bescheinigung meines Arztes, dass ich wirklich topfit und gesund bin und die Tour auch bewältigen kann, sind ein absolutes Muss. Im Päckchen mit den wichtigen Papieren liegt auch ein Umschlag mit 200 Euro, die ich für den Rücktransport ins Camp in Bidiyah benötige, falls ich nicht weiterlaufen kann. Aber ich gehe nicht davon aus, dass ich davon Gebrauch machen muss. Positiv denken und Gottvertrauen gehören dazu. Ebenso wie ein Fläschchen Weihwasser. Damit werde ich mich vor dem Lauf einreiben, damit ich keine Blasen kriege und nicht von Skorpionen oder Schlangen gebissen werde. Aber auch dafür wäre ich im Notfall gut gerüstet.
Während ich die Mini-Pumpe auf den Tisch lege, die einen starken Unterdruck erzeugen kann, mit dem man im Notfall – nach dem Biss einer Schlange oder eines Skorpions – das Gift aus der Wunde zieht, denke ich an eine Situation vor einigen Tagen. Eine Szene, hier im Büro …
Die Pupillen von Barbaras grauen Augen weiten sich, während ich die Gebrauchsanweisung der Pumpe laut vorlese: »Binden Sie das Bein bzw. den Arm rasch drei bis neun Zentimeter oberhalb der Wunde ab, um die Verteilung des Giftes zu verhindern. Setzen Sie nun die Pumpe mit der Saugglocke an, ziehen Sie den Griff ganz nach oben und saugen Sie das Gift heraus. Entfernen Sie den Sauger, reinigen Sie die Wunde vorsichtig und begeben Sie sich unmittelbar in ärztliche Behandlung.«
Meine engste Mitarbeiterin Barbara starrt auf das Kunststoffteil in meiner Hand, als wäre ich jetzt völlig verrückt. Es ist, als ob ihr plötzlich bewusst wird, dass der Lauf wirklich gefährlich werden kann.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, doch Barbara findet das Ganze überhaupt nicht witzig und schüttelt energisch den Kopf: »In der Wüste im Oman kriechen Skorpione und Schlangen herum, die so giftig sind, dass ihr Biss tödlich sein kann. Einen Arzt aufsuchen – wie soll das gehen, mitten im Nichts? Bis im Notfall Hilfe vor Ort ist, könnte es Stunden dauern, wenn du dich nicht bemerkbar machen kannst. Weißt du überhaupt, worauf du dich da einlässt?«, schleudert sie mir entgegen. »Und wie soll es hier mit deiner Arbeit weitergehen, wenn dir in der Wüste etwas passiert, wenn du vielleicht überhaupt nicht mehr wiederkommst? Das ganze Vorhaben mit diesem Ultramarathon ist doch der schiere Wahnsinn! Hast du jemals mit einem Rucksack einen derart weiten Lauf auf sandigem Untergrund in steilem Gelände absolviert? Oder hast du Erfahrung mit Tropenmedizin? Das ist alles eine Nummer zu groß.«
»Reg dich nicht auf, es wird schon gut gehen«, versuche ich Barbara zu beschwichtigen. Aber sie beruhigt sich nicht.
Natürlich nehme ich die Gefahren ernst, die mein Vorhaben mit sich bringt. Lange Strecken durch die Wüste zu laufen, das Verhalten beim Umgang mit gefährlichen Tieren oder Astronauten-Nahrung als Verpflegung für mehrere Tage – das habe ich alles tatsächlich bislang noch nie getestet. Wie auch? Ein Restrisiko bleibt immer. Aber die eigenen Grenzen auszuloten gehört für einen Extremsportler einfach dazu.
In der Oman-Wüste bin ich schon einmal gelaufen, wenn auch »nur« einen normalen Marathon. Und ich habe mehrere kleinere Läufe unter ähnlichen Bedingungen in anderen Regionen absolviert. Trotzdem nehme ich die Bedenken meiner langjährigen Mitarbeiterin Barbara sehr ernst. Sie hat ja recht.
Sanft landet der Flieger in der Hauptstadt des Oman im Nordosten des Landes. Mascat liegt in einer felsigen Bucht am Golf von Oman zwischen dem Meer und dem Hadschar-Gebirge. Vor knapp vier Jahren war ich schon einmal hier, zum Maskat Marathon. In raschen Schritten gehe ich unter Palmen, die seitlich in Pflanzkübeln aufgereiht sind, über den polierten Steinboden des Flughafengebäudes in Richtung Ausgang. Männer in langen, weißen Gewändern eilen an mir vorbei, runde, bestickte Kappen auf dem Kopf, um die viele ein Tuch gewickelt haben. Frauen sind in schwarze Umhänge gehüllt. Solche Bilder sind mir vom ersten Besuch bereits vertraut, trotzdem muss ich mich neu daran gewöhnen, dass hier alles anders aussieht als in heimischen Breiten.
Beim Verlassen des klimatisierten Gebäudes steht die trockene Hitze, die ich sonst so liebe, plötzlich vor mir wie eine undurchdringliche Wand. Nach wenigen Minuten fühlt sich mein Shirt klebrig an. Erleichtert steige ich in ein klimatisiertes Taxi, das mich zur Unterkunft bringt.
Mein Adrenalinspiegel steigt, je näher das Ereignis rückt, denn der Oman Desert Marathon ist das Extremste, was ich mir bisher zugemutet habe: 172 Kilometer an sechs Tagen. Bei mörderischer Hitze führt der Lauf mitten durch eine riesige Wüste.
Am nächsten Tag lädt der Veranstalter alle 105 Teilnehmenden zum Informationstreffen ein. Ich muss ein aktuelles EKG abgeben und werde noch einmal von einem Sportmediziner untersucht. Anschließend wird kontrolliert, ob wir alle vorgeschriebenen Ausrüstungsgegenstände und Medikamente dabeihaben. Als ich an die Reihe komme, denke ich mir nichts, schließlich bin ich die Ausrüstung zu Hause wieder und wieder durchgegangen. Bis zum Artikel 13 auf meiner Liste verläuft der Check auch reibungslos. Doch dann bekomme ich einen Schreck, als ich den aufgerufenen Ausrüstungsgegenstand in meinem Rucksack nicht finden kann. »Where is your headlight?«
Das gibt es doch nicht. Die Stirnlampe fehlt.
Mein Herz steht gefühlt einen Moment lang still. Das kann nicht sein. Ich kippe den Rucksack aus, durchwühle mit feuchten Händen meine Sachen. Was, wenn ich die Lampe wirklich vergessen habe?
Mir wird richtig heiß. Salzige Tropfen sammeln sich auf meiner Stirn, rollen über mein zusammengekniffenes Gesicht auf die Päckchen mit Trockennahrung, die sich auf dem Tisch vor mir stapeln. Ohne Lampe werden sie mich morgen nicht starten lassen. Das weiß ich, denn die vorletzte Etappe des Ultramarathons ist ein Nachtlauf. Und wo soll ich heute noch eine Stirnlampe auftreiben?
Doch ich habe Glück: Da ist sie! Meine Hände zittern, als ich das gesuchte Teil endlich finde. Die Lampe hatte sich an einem anderen Gegenstand verhakt, und ich hatte sie schlicht übersehen. Der Assistent grinst und setzt einen weiteren Haken auf seiner Liste. Alles komplett.
Unterwegs auf dem Oman Desert Marathon: 172 Kilometer in sechs Tagen mitten durch die Wüste des Oman
Foto: Oman Desert © Pater Tobias Breer
Wie schnell die letzten Tage vergangen sind. Jetzt geht es endlich los! Ein Konvoi von Allradfahrzeugen bringt uns nach Al Wasil. Dort herrscht große Aufregung, denn alle Einwohner der kleinen Stadt sind irgendwie involviert, wenn hier Jahr für Jahr der Oman Desert Marathon losgeht. Einige Bewohner werden uns auf den ersten Kilometern begleiten und dann umkehren. Mit einem Zug von Musikanten, Pressevertretern und Zuschauern werden wir zum Starttor geleitet. Dann stehe ich mit knapp über 100 anderen Läufern vor dem großen Bogen. Jeder Name wird einzeln aufgerufen. Mein Herz vollführt regelrechte Freudensprünge, weil wir in Kürze aufbrechen werden.
Vorher nehme ich noch kurz einen großen Schluck aus der Wasserflasche. Denn es ist brüllend heiß, und ich muss die Flüssigkeit, die ich herausschwitze, möglichst bald wieder zuführen. Das hat mir mein Arzt zu Hause eingeschärft: »Wenn dein Körper austrocknet, kannst du einpacken.«
Also: trinken, trinken, trinken. Auch die Kalorienzufuhr darf ich nicht vernachlässigen. An jedem Tag des Wüstenlaufs werde ich rein rechnerisch etwa 2500 Kalorien zusätzlich verbrennen. Um die Energiereserven aufzufüllen, muss ich reichlich Kohlenhydrate zu mir nehmen.
Schon bald nach dem Start zieht sich das Teilnehmerfeld in die Länge. Die schnellsten Läufer sind schon davongezogen. Ich setze einen Fuß vor den anderen, nehme mir vor, mich bloß nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und mein eigenes Ding zu machen. Bald finde ich meinen Laufrhythmus. Meine Laufuhr zeigt Herzfrequenzen von 175 Schlägen pro Minute an. Das passt, weiter so.
Am zweiten Tag der Tour färbt beim Wasserlassen ein dünnes Rinnsal den Sand rot. Blut im Urin.
Eine Welle der Verzweiflung schießt heiß durch meinen Körper. Bin ich ernsthaft krank – oder woher kommt das Blut?
Okay, sage ich mir, jetzt gilt es Ruhe bewahren! Aber was mache ich am besten? Wenn ich das mit dem Blut im Urin dem begleitenden Arzt sage, nimmt der mich vermutlich direkt aus dem Rennen, um erst einmal abzuklären, was los ist. Aber dann wäre alles umsonst gewesen: die ganze Vorbereitung, die viele Zeit, die es gekostet hat, bis hierher zu kommen....
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
Schlagworte | Armut • Autobiografie • autobiografie sport • Biografie • Christentum • Christliche Bücher • Duisburg • Erfahrungen und wahre Geschichten • Erfahrungsberichte • Erinnerungen • Familie • Flüchtlinge • Glaube modern • Glaubenserfahrung • Gott • Hilfsprojekt Lebenswert • Integration • interreligiöser Dialog • Jesus-Botschaft • Joggen • Katholische Kirche • Kirche • Laufen • Lebensgeschichten • Marathon • marathon buch • Ruhrgebiet • Soziales Engagement • spirituelle Biografie • Spirituelle Erfahrung • Sport • wahre geschichten bücher |
ISBN-10 | 3-96340-104-4 / 3963401044 |
ISBN-13 | 978-3-96340-104-6 / 9783963401046 |
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