Als Mama mit der Lampe sprach (eBook)
216 Seiten
Lübbe (Verlag)
978-3-7517-0418-2 (ISBN)
Nelly ist erst vier, als ihr Vater stirbt. Von nun an ist sie allein mit ihrer Mutter. Doch Nellys Mutter ist krank, sie erteilt unsinnige Verbote, impft dem kleinen Mädchen Angst vor Infektionen und Entführern ein. Und sie spricht mit Michael, der in der Lampe wohnt, der eigentlich gar nicht da ist, aber trotzdem alles über die beiden weiß. Nellys Mutter leidet an Schizophrenie, nicht alles, was sie sieht und hört, existiert auch wirklich. Tapfer schlägt sich das Mädchen durch - und versucht zu verstehen, was 'wirklich' ist, und was nicht.
Nilüfer Türkmens Erfahrungsbericht ist ein berührendes Zeugnis einer Kindheit und Jugend. Und er lässt uns einen Blick in eine verborgene Welt werfen, die viel mehr Menschen betrifft, als wir gemeinhin glauben.
<p><strong>Nilüfer "Nelly" Türkmen</strong> schreibt die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend unter Klarnamen und mit Erlaubnis der Mutter. Die Studentin der Politik- und Rechtswissenschaften ist in der Aufklärungsarbeit zu psychischen Erkrankungen aktiv und besucht ihre Mutter regelmäßig in dem Heim für betreutes Wohnen, in dem sie heute lebt. Sie wünscht sich, dass wir alle netter mit psychisch kranken Menschen umgehen würden.</p>
Nilüfer "Nelly" Türkmen schreibt die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend unter Klarnamen und mit Erlaubnis der Mutter. Die Studentin der Politik- und Rechtswissenschaften ist in der Aufklärungsarbeit zu psychischen Erkrankungen aktiv und besucht ihre Mutter regelmäßig in dem Heim für betreutes Wohnen, in dem sie heute lebt. Sie wünscht sich, dass wir alle netter mit psychisch kranken Menschen umgehen würden.
1
Ich schließe meine Augen und hülle mich ein
Meine Eltern lernten sich vier Jahre vor meiner Geburt in Bremen kennen. Meine Mutter lebte zu der Zeit schon lange in Deutschland, sie war mit ihren Eltern und Geschwistern im Zuge der Gastarbeiterbewegung in den Siebzigerjahren aus der Türkei immigriert. Mein Vater war erst 1993 auf der Suche nach Arbeit aus Aydin nach Bremen gekommen. Eines Tages sprach er meine Mutter vor einem Blumenladen an. Anfangs war meine Mutter eher zögerlich, was ihn betraf. Einmal, als sie sich gerade erst kennenlernten, rief er sie an, doch sie war drauf und dran, aufzulegen, weil er so eine weibliche Stimme hatte. Sie erzählte mir, sie habe gedacht, jemand wolle sie auf den Arm nehmen. »Sie sind eine Frau, Sie sind nicht Ibrahim! Was wollen Sie denn von mir?«, sagte sie in den Hörer und beendete das Gespräch. Das fand ich ziemlich lustig. Ein Jahr später heirateten die beiden und lebten gemeinsam in einer Wohnung im Bremer Stadtteil Blockdiek.
Mehrere Monate nachdem ich im Herbst 1997 in Bremen geboren worden war, flogen wir in die Türkei, in das Dorf meines Vaters. Auch wenn ich noch sehr klein war, meine ich mich an das warme Gefühl zu erinnern, das mich umfing, als ich während des Hinflugs an der Brust meines Vaters schlief. Da wusste ich noch gar nicht, was mich alles erwartete. Ich wusste auch nicht, wer mich alles erwartete – der andere Teil meiner Familie nämlich, die Seite meines Vaters.
Mein Vater war bereits mit einer anderen Frau verheiratet, mit der er Kinder hatte, bevor meine Mutter und er sich kennenlernten. Das verstand ich erst, als ich älter war und meine Anneanne, meine Großmutter mütterlicherseits, mir erklärte, dass der Islam einem Mann bis zu vier Ehefrauen erlaube, auch wenn in der Türkei die Vielehe seit einer ganzen Weile offiziell verboten sei. Deshalb hatte ich auch noch einen Halbbruder aus der allerersten Ehe meines Vaters, aber der war schon groß und hatte seine eigene Familie.
Das Haus, in dem wir fortan wohnten, hatte mein Vater eigenhändig gebaut. Und man muss dazusagen: Mein Vater war weder Ingenieur noch Bauarbeiter. Es war ein mitgenommenes, schiefes graues Haus mit Rissen in den Wänden. Auch war es ziemlich klein und hatte nur ein Stockwerk. So richtig bewusst wurde mir das aber erst, als ich zehn Jahre später Kontakt zu der Familie meines Vaters aufnahm und die Vergangenheit Revue passieren ließ. Als Kleinkind war es mir egal, wie brüchig und arm unser Haus aussah. Um mich sicher zu fühlen, brauchte ich nur meine Eltern. Mein Vater war einfach mein Superheld, und ich war stolz, dass er unser Haus selbst errichtet hatte. Mir fiel es damals auch gar nicht auf, wie beengt die Räume waren. Logisch, ich war ja selbst klein. (Obwohl, eigentlich bin ich es immer noch mit meinen eins dreiundfünfzig, würden meine Freunde jetzt sagen …)
Während ich heranwuchs, dachte ich nie darüber nach, ob das Haus in der Türkei für immer mein Zuhause bleiben würde. Aber damals wünschte ich es mir. Das Haus lag in einem kleinen Dorf südöstlich von Izmir, nahe der Stadt Aydin. Die Umgebung gab nicht viel her: eine Grundschule, ein paar kleine Läden und eine Apotheke im Nachbardorf. Die Landschaft war hügelig, die Mauern heruntergekommen und einige Häuser, so wie auch unseres, einsturzgefährdet.
Ein paar Stufen hinaufklettern, und schon stand ich vor der Haustür. Der Flur war lang. Der erste Raum auf der rechten Seite war die Küche. Der Tisch stand direkt am Küchenfenster. Links in der Ecke war die Küchenzeile. Durch das Fenster hatte man den Blick in den Garten. Gegenüber der Küche befand sich das Schlafzimmer meines Vaters. Dort schlief auch die Mutter meiner Halbgeschwister. Das war schwer auszuhalten für meine Mutter, wie sie mir Jahre später erzählte. Mein Halbbruder Abi Tahir, meine Halbschwester Abla Elif, meine Mutter und ich schliefen gemeinsam in einem anderen Zimmer. Es war weiß und kahl, Matratzen lagen auf dem Boden verteilt. Geradeaus den Flur entlang gelangte man zu einem Abstellraum.
Schon bald hatte ich Freunde im Dorf – zwei Zwillingsmädchen in meinem Alter, Yonca und Yade. Die beiden wohnten nicht weit von uns, aus dem Haus heraus und an der roten Mauer entlang auf der rechten Seite. Ihr Haus war nicht so stabil gebaut wie unseres. Kartons, Bleche und Holz schützten vor Regen und Wind.
Ganz in der Nähe lebte auch Babaanne, meine Großmutter väterlicherseits. Meist aßen wir bei ihr, doch meine Mutter pflegte ihr gegenüber Misstrauen. »Sie hat dir und Baba tagelang nichts zu essen gegeben und dir alles weggegessen, du wärst fast verhungert und gestorben«, schimpfte sie. Diesen Eindruck hatte ich gar nicht, ich fühlte mich wohl in Babaannes Gegenwart.
Anders als bei der Mutter meiner Halbgeschwister. Da spürte ich bald, dass wir nicht willkommen waren. Ich war ein ziemlich überdrehtes Kind, das nicht lange stillsitzen konnte und immer draußen spielen wollte. Vor allem spielen! Das ging ihr abends natürlich gegen den Strich. Ich wollte raus, aber sie schrie mich an und sagte, dass es regne und gewittere. Als ich nicht lockerließ, schickte sie mich vor die Tür in den kalten Regen und ließ mich nicht wieder rein. Dort stand ich so lange, bis meine Mutter es mitbekam und mich reinholte.
Doch auch wenn ich die andere Frau meines Babas nicht mochte, hatte meine Mutter ein viel größeres Problem mit ihr. Sie stritten sich um Baba. Beide waren mit ihm verheiratet, und beide liebten ihn, wollten ihn aber für sich allein. Das konnte ich erst nachvollziehen, als ich älter war.
Wegen der ganzen Streitereien, die bei uns tagtäglich herrschten, versuchte ich oft, mit Baba allein zu sein oder mich anderweitig zu beschäftigen. Das Nokia-Handy meines Halbbruders Tahir faszinierte mich. Es hatte ein grün leuchtendes Display und eine Tasche, die man sich an den Gürtel schnallen konnte. Ich durfte damit spielen, auch wenn ich gar nicht wusste, wie es funktionierte. Ich drückte einfach irgendwelche Tasten, das reichte mir schon als Beschäftigung.
Meine Halbschwester Elif hatte leider nicht viel Zeit für mich, weil sie vormittags zur Schule musste. Manchmal weinte ich, weil ich mitwollte. Ich versuchte ihr hinterherzurennen, aber jedes Mal hielt mich ihre Mutter davon ab. Kaum war ich losgerannt, fing sie mich wieder ein und trug mich zurück ins Haus. Die Haustür blieb so lange verschlossen, bis meine Halbschwester nicht mehr zu sehen war. Wenn sie mittags wiederkam, machte ich große Freudensprünge und rief: »Ablam geliyor – meine Schwester kommt!« Doch auch am Nachmittag konnte Elif nur selten mit mir spielen, da sie ihre Hausaufgaben machen musste.
Wenn meine Halbgeschwister keine Zeit für mich hatten, ging ich manchmal zu meiner Großmutter Babaanne, half ihr beim Kochen und fütterte mit ihr die Hühner.
Hühner, so fand ich, waren lustige Wesen. Außer wenn sie mir das Futter aus der Hand pickten. Sie erinnerten mich komischerweise an die andere Ehefrau meines Vaters. Auch wenn sie sich vom Äußeren her überhaupt nicht ähnelten, war es dieses ständige Picken, was sie gemeinsam hatten. Das tat weh und war lästig. So fühlte sich das immer an, wenn sie fies zu mir war. So distanziert. Als könnte sie mich gar nicht leiden. Mir gefiel der Gedanke, sie mit einem Huhn zu vergleichen. Und das tat ich dann auch. So war es für mich einfacher, mit ihr zusammenzuleben.
Im Stillen dachte ich oft, dass sie die Dinge, die sie zu mir sagte, in Wirklichkeit gar nicht so meinte. Wenn meine Mutter in der Nähe war, war sie ausgesprochen nett zu mir. Aber wenn meine Mutter nur einmal wegsah, machte sie einen vollkommen anderen Gesichtsausdruck, so böse und hinterlistig. Genau wie die Hühner, bevor sie nach mir pickten. Die taten das auch nur dann, wenn meine Großmutter Babaanne nicht hinsah – dachte ich jedenfalls.
Am liebsten lag ich bei Baba in seinem Krankenbett. Mein Vater war schon vor meiner Geburt erkrankt, aber so schlimm wie in den Jahren nach seiner Rückkehr in die Türkei war es noch nie gewesen. Er hatte immer stehen und gehen können, doch jetzt mussten wir ihm einen Rollstuhl besorgen, weil er auf einmal gar nicht mehr laufen konnte. So kam es, dass ich die meiste Zeit des Tages bei ihm in seinem Bett verbrachte. Wir redeten viel. Mein Vater schrieb Gedichte und Balladen, von denen er mir erzählte. Er sagte mir oft, dass wir unsere Träume und Wünsche mit ins Grab nehmen würden.
Ich verstand noch nicht, was er damit meinte. Aber mir gefiel der Gedanke, etwas zu haben, mit dem man zusammen starb. Wie einen Teddy, mit dem man sich beerdigen ließ, so stellte ich mir das vor. Jahre später dachte ich über die Worte meines Vaters nach und fand es schade, seine Wünsche und Träume mit ins Grab zu nehmen, statt sie zu leben. Ich fragte mich, was seine Träume gewesen waren und was er sich im Leben oder vom Leben gewünscht hatte …
Baba und ich redeten auch viel über meine Mutter, die damals bereits sehr krank war. Ich hatte selbst bemerkt, dass mit ihr irgendetwas anders war als mit den Menschen, die ich bisher kennengelernt hatte. Schon als Kind beobachtete ich viel, und Unehrlichkeit fiel mir sofort auf. Einmal hatten mein Vater und ich Hunger und baten sie, uns etwas zu essen einzukaufen. Sie trat vor die Haustür und blieb dort eine Weile stehen, wie wir durchs Fenster beobachten konnten. Irgendwann kam sie wieder herein und sagte, dass alle Läden geschlossen hätten. So verbrachten wir den Tag ohne Essen, und hinterher behauptete sie, mein Vater sei schuld, weil er uns hintergangen habe. Das verstand ich nicht.
Dafür gab es dann am nächsten Tag riesige Melonen, die ich ganz allein mit meinem...
Erscheint lt. Verlag | 30.4.2021 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie | |
Schlagworte | Alkoholiker • Alkoholkranker Kinderheimleiter • angehörige psychisch erkrankter • angehörige von psychisch kranken • Auf sich gestellt • Behördenversagen • Bremen • Erfahrungsbericht • Erfahrungsbücher • Erinnerung • Erinnerungen • Erkrankung • Gedanken • Hilfe • Jugendamt • junge SPD-Politikerin • Kinderheim • Kindheit • Kindheitsgeschichte • Krankheit • Lebensgeschichte • Migrationshintergrund • Mutter und Tochter • Paranoia • Psychiater • Psychische Erkrankung • Realitätsverlust • Schicksal • Schizophrenie • Studentin der Rechtswissenschaften • türkische Wurzeln • Vernachlässigung • Wahnvorstellungen |
ISBN-10 | 3-7517-0418-3 / 3751704183 |
ISBN-13 | 978-3-7517-0418-2 / 9783751704182 |
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