Deutschland (eBook)
206 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76454-7 (ISBN)
Hans Maier, der am 18. Juni 2021 90 Jahre alt wird, kann auf eine glanzvolle Laufbahn als Professor, als Kultusminister und als Organist zurückblicken. In diesem Buch kehrt er noch einmal zurück zu zentralen Fragen seiner Arbeit. In gediegener Prosa umkreisen seine Essays Deutschlands spannungsvolles Verhältnis zum Westen, die Bedeutung der Konfessionen, Hitlers Platz in der Geschichte oder auch die Rolle des Grundgesetzes. Die faszinierende Geschichtsstunde endet mit einem zuversichtlichen Blick in die Zukunft: 'Die Bundesrepublik Deutschland verdient unser Vertrauen, sie hat sich in normalen Zeiten wie auch in wirtschaftlichen und politischen Krisen bewährt. So dürfen wir ihr mit jener bürgerlichen Loyalität begegnen, ohne die keine Demokratie existieren und gedeihen kann.'
Hans Maier seit 1962 Professor für politische Wissenschaft in München, war von 1970 bis 1986 bayerischer Kultusminister und ist seit 1999 Prof. em. für christliche Weltanschauung. Von 1976 bis 1988 war er Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.
Die Deutschen und der Westen
Seitdem der Schwede Rudolf Kjellén im Ersten Weltkrieg, unterstützt vom Beifall des akademischen Deutschland, die Ideen von 1914 den Ideen von 1789 gegenüberstellte,[1] ist das Thema «Deutschland und der Westen» bei uns nicht mehr zur Ruhe gekommen. Die Generation der Troeltsch, R. Eucken, Sombart, Th. Mann intonierte es mit selbstsicheren Fanfarenstößen: Englischer Liberalismus und französische Demokratie – die Weltanschauungen des «Händlers» und des «Bürgers» – wurden mit dem deutschen Willen zum Staat, zur Einordnung in das Volksganze konfrontiert; der Weltkrieg galt als «Weltbewährungsprobe deutscher Innerlichkeit», als Verheißung auf den kommenden «Tag des Deutschen», dem es aufgegeben sei, inmitten äußerlicher Zivilisation und Technik die «Kultur der Seele» zu retten.[2] Davon ist heute nur noch wenig übriggeblieben: zwei verlorene Kriege und die aus Vernunft und Not geborene Verbindung mit dem Westen haben jene Fanfare längst in eine Schamade verwandelt. Aber in der historisch-politischen Wissenschaft wirken die Weltanschauungskämpfe des Weltkriegs bis heute nach: Ihr Einfluss hat den Blick der Forschung lange Zeit einseitig auf das 19. Jahrhundert fixiert, in dem sich Distanz und Differenz des deutschen politischen Denkens zum Westen am schärfsten ausgeprägt haben, während die vorausgehende ältere deutsche Staatslehre kaum mehr behandelt, ja fast völlig aus dem Gedächtnis verloren oder verdrängt wurde.
Demgegenüber soll hier versucht werden, die ältere deutsche Staatslehre in eine Gesamtbetrachtung des deutschen politischen Denkens so einzubeziehen, dass ein reicheres und präziseres Bild dieses Denkens sowohl in seiner Entstehung und historischen Eigenart wie in seiner späteren Sonderung vom Westen entstehen kann. Ich stütze mich dabei auf Untersuchungen zur Geschichte der akademischen Lehre der Politik an den deutschen Universitäten und eine Studie über die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre vornehmlich des 17. und 18. Jahrhunderts.[3] Es kann sich hier nur darum handeln, einzelne Linien durch ein noch kaum erschlossenes Gelände zu ziehen; ich stelle in einem ersten Teil zunächst dar, worin westliche und deutsche Staatslehre im 16.–18. Jahrhundert ihren gemeinsamen Grund haben und nach welchen Hauptrichtungen beide sich später fortentwickeln. In einem zweiten Teil soll untersucht werden, in welchen Bereichen der eigentümliche Charakter der älteren deutschen Staatslehre, also das spezifisch Deutsche an ihr, sich besonders ausgeprägt hat; und zuletzt möchte ich fragen nach der Fortwirkung der geschilderten Formen der älteren deutschen Staatslehre im 19. und 20. Jahrhundert und nach ihrer Bedeutung in der Gegenwart.
I
Wer den Versuch macht, in die ältere deutsche Staatslehre einzudringen, sie wissenschaftlich zu untersuchen, sieht sich zunächst fast unüberwindlichen äußeren Schwierigkeiten gegenüber. Denn weder editorisch noch bildungsgeschichtlich ist diese Tradition ein Besitz, auf den man einfach zurückgreifen kann; sie muss erst aus dem Staub der Bibliotheken befreit und einer fast völligen, wenngleich unverdienten Vergessenheit entrissen werden. Wenige Gebiete unserer Literatur sind editorisch so vernachlässigt worden wie dieses. Die Bergungsarbeiten der Philosophie auf den Gebieten der Renaissance- und Barockliteratur sind ihm kaum zugutegekommen. So gut wie keiner der bedeutenderen politischen Schriftsteller des 16.–18. Jahrhunderts – wenn man von den Reformatoren, Osse und Althusius absieht – liegt in einer kritischen Neuausgabe vor: von Pufendorf, dessen Rechts- und Soziallehre weit in den angelsächsischen Bereich hineingewirkt hat (bis hin zu den Vätern der amerikanischen Verfassung), von Oldendorp und Thomasius liest allenfalls der Jurastudent einige Auszüge im Quellenbuch von Erik Wolf; im allgemeinen Bewusstsein sind sie ebenso verschollen wie Seckendorffs «Teutscher Fürstenstaat», das Grundbuch der territorialen Staatsverwaltung bis zur Rheinbundzeit, und die ihm vorausgehende und folgende lange Reihe von Staatsschriften der österreichischen, preußischen und sächsischen Kameralisten.[4] Erst ganz am Ende des Zuges, bei den jüngeren Naturrechtslehrern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, beginnt sich das Bild etwas aufzuhellen – wohl vor allem deshalb, weil man in neuester Zeit deren Verwandtschaft mit unserer gegenwärtigen Staats- und Rechtsproblematik wieder deutlicher zu erkennen beginnt; erinnert sei an die verdienstlichen Forschungen und Editionen von Conrad, Kleinheyer, Weber, Buyken und Herold zur Geistesgeschichte der preußischen und österreichischen Kodifikation sowie zu den Ursprüngen der Toleranzgesetzgebung und der Gewissens- und Religionsfreiheit in Deutschland.[5]
Mit dem Mangel an Editionen und Forschungen hängt ein weiteres zusammen: das Fehlen einer verbürgten, im öffentlichen Bewusstsein haftenden Ordnung in der literarischen Geltung und Bewertung jener Schriften. Ein literarischer Kanon, wie er sich in den angelsächsischen Ländern, aber auch in Frankreich gebildet hat, wo die politischen Klassiker in einen gültigen, allgemein akzeptierten Zusammenhang, eine Hierarchie des literarischen Ranges und der politischen Bedeutung eingereiht wurden, ist in Deutschland nicht entstanden. Auch dem durchschnittlich gebildeten Engländer ist, schon von der Schule her, der ungefähre Gang der politischen Lehren von Hooker und Hobbes zu Locke vertraut; die Gegensätze der absolutistischen und freiheitlichen Staatslehre, des Patriarchalismus und des civil government ergeben ein einprägsames Bild, in das alles Übrige eingeordnet werden kann. Und mit wie scharfer Zeichnung stehen im französischen Bildungsbewusstsein Autoren wie Bodin und Hotman, Du Bos und Boulainvilliers, Bossuet und Fénelon einander gegenüber! Bis zu Montesquieu und Rousseau, ja darüber hinaus reicht diese zu fester literarischer Figur gewordene Reihe politischer Antagonisten, mannigfach abgestuft nach literarischer Wirkung, persönlicher Überzeugungskraft und künstlerischem Rang. Nichts oder nur wenig davon bei uns. Man vergleiche nur etwa, was bei Blackwell und in der Oxford University Press oder in der Pléjade an klassischen politischen Schriften von stilbildendem Rang gesammelt ist, mit dem für die Zwischenkriegszeit gewiss repräsentativen deutschen Unternehmen der «Klassiker der Politik». Die sehr viel engeren Auswahlkriterien – die durchweg am jüngeren aktiv-praktischen und untheoretischen Politikbegriff orientiert sind – fallen dabei ebenso ins Auge wie die Unsicherheit in der Bewertung der einzelnen Figuren, die letztlich immer wieder auf den allzu bequemen Maßstab des jeweiligen machtpolitischen Erfolgs hinauskommt.
Wie aber und auf welchen Wegen dringen wir angesichts des reichlich trümmerhaften Zustands dieser Tradition und der entsprechenden Lückenhaftigkeit und Zufälligkeit unserer Erkenntnisse in die ältere deutsche Staatslehre ein?
Am besten wohl so, dass wir nicht den Versuch machen, uns im Stil einer geistesgeschichtlichen Höhenwanderung an den einzelnen spärlichen Gipfeln entlangzutasten,[6] sondern uns vielmehr an die breite Basis, den Durchschnitt, das repräsentative Mittel der älteren politischen Lehrtradition halten. Dieses finden wir vor allem – wie ich an anderer Stelle nachzuweisen versuchte[7] – im Bereich der akademischen Lehre der Politik an den Universitäten und Gymnasien, vorwiegend der protestantischen, vom 16.–18. Jahrhundert – genau gesprochen in der Zeit zwischen den Melanchthon’schen Universitäts- und Schulreformationen und dem Wirksamwerden des kameralistischen Unterrichts, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts von den fürstlichen Akademien zu den Universitäten vorzudringen beginnt.
Überblicken wir diesen Bestand, so wird zunächst etwas Wesentliches sichtbar, das ich an den Anfang stelle, weil es die Grundlage für das Folgende bildet: Bis zum späten 18. Jahrhundert zeigt das deutsche politische Denken in seinen lehr- und schulmäßigen Ausformungen eine überwiegend konservative Gestalt. Von Melanchthon auf der Basis eines philologisch angereicherten und verfeinerten Aristotelismus erneuert, tradiert es fast zwei Jahrhunderte lang ohne große Veränderungen die alten Lehrgehalte der praktischen Philosophie mit Einschluss der Ökonomik und des öffentlichen Rechts. Seine innere Entwicklung und Fortbildung bewegt sich in dieser Zeit entlang älterer Problemkomplexe und Streitfragen – im Vordergrund steht ein bereits ...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Allgemeines / Lexika |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Bundesrepublik • Bürgertum • Demokratie • Deutschland • Erinnerung • Essays • Europa • Geschichte • Gesellschaft • Grundgesetz • Historiografie • Hitler • Kultur • Loyalität • Nation • Neuankömmling • Politik • Prosa • Religion • Verfassung • vertauen • Wirtschaft • Zukunft |
ISBN-10 | 3-406-76454-1 / 3406764541 |
ISBN-13 | 978-3-406-76454-7 / 9783406764547 |
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