Anthropologie dekolonisieren (eBook)
224 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44716-2 (ISBN)
Marc Rölli ist seit 2015 Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) / Academy of Fine Arts Leipzig. Zuvor war er als Professor in Zürich und Istanbul tätig. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: »Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus« (2003, 2012, 2016) und »Kritik der anthropologischen Vernunft« (2011).
Marc Rölli ist seit 2015 Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) / Academy of Fine Arts Leipzig. Zuvor war er als Professor in Zürich und Istanbul tätig. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: »Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus« (2003, 2012, 2016) und »Kritik der anthropologischen Vernunft« (2011).
Anthropologie dekolonisieren. Einleitung
In der ›europäisch-westlichen‹ Denktradition existiert ein anthropologisches Bild des Menschen, das als ›kolonial‹ bezeichnet werden kann. Es trennt Menschen, die ihrem Begriff entsprechen, von solchen, die dies nicht tun. Ihr Unterschied voneinander wird im kolonialen Abstand zwischen Menschen, die sind, was sie sind, und Menschen, die als wesentlich anders gelten, anschaulich. Die einen verstehen sich als zivilisiert, vernunftbegabt, allseits gebildet und moralisch gefestigt. Ihr Ideal verkörpert der männliche, gesunde, erwachsene und in mancher Hinsicht normale Europäer. Es hebt sich heraus aus dem Dunkel der anderen, die in einer mythischen Wiederholung, ans Animalische grenzend, befangen erscheinen. Die epistemische Konstruktion des anderen, minderwertigen, unterlegenen oder rückständigen Menschen stellt einen entscheidenden Aspekt der kolonialen Praxis dar. Walter Mignolo spricht von einer »Exteriorität«, die stets die Idee der Humanität begleitet: »Barbaren« oder »Primitive«.1 Und Achille Mbembe bestimmt als »das Kennzeichen dieser Andersartigkeit die fehlende Menschlichkeit«2: Menschen, die keine (echten, wirklichen, eigentlichen) Menschen sind. Es ist dieser Widersinn, der im Innersten des anthropologischen Menschen-Bildes steckt.
Das zweifache Gesicht des Menschen wird in der anthropologischen Literatur verfertigt. Zwar gilt dies nicht ausschließlich, aber in erheblichem Maße. Bei dieser Textsorte handelt es sich um moderne Diskursphänomene, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehen. Sie kreisen um neue Wissensfelder, die sich in einer epistemischen Figur des Menschen aneinanderschließen. Zu denken wäre an Buffons Naturgeschichte des Menschen oder an Rousseaus Schilderung des Naturzustands, an die zunehmende Bedeutung der empirischen Physiologie und Seelenkunde oder auch an die aus der kolonialen Reiseliteratur hervorgehenden wissenschaftlichen Abhandlungen über die spezifischen Eigenschaften der Völker und der ›Rassen‹. Vor Augen liegt eine erstaunliche und weit verzweigte Wissensproduktion, die sich im dezidiert anthropologischen Begriff des Menschen auf eigentümliche Art und Weise integrieren lässt. Michel Foucault hat nicht zuletzt aus diesem Grund die epistemische Struktur der modernen Humanwissenschaften als »anthropologische« bezeichnet.3
Um ihren Status zu verdeutlichen kann an Buffon und an Kant erinnert werden. Buffons zwei Abteilungen der Naturgeschichte des Menschen behandeln nacheinander den »einzelnen Menschen« und »die Geschichte der Gattung«.4 Beide Abteilungen stützen sich auf eine generelle Überlegung über den Menschen, der sich prinzipiell von allen anderen Lebewesen, insbesondere von den Tieren unterscheidet. Den Tieren fehlen nicht »mechanische Kräfte« und »materielle Werkzeuge«, aber ihnen fehlt es »an der geistigen Kraft und an dem eigentlichen Vermögen zu denken.«5 Die Vernunft zeichnet das Wesen des Menschen aus, doch innerhalb der Naturgeschichte ist nicht sie das Thema der Untersuchung. Auch von Kant wird die streng philosophische Betrachtung des Menschen grundsätzlich von einer empirischen abgehoben. Zugleich verwirft er den älteren cartesianischen Denkansatz – dem Buffon mit seinen Ausführungen zur körperlich-geistigen Doppelnatur des Menschen noch folgte –, indem er mit kritischer Emphase auf einer Rechtfertigung der wissenschaftlichen Erkenntnis besteht. Nicht zuletzt für die Anthropologie ist dieser Schritt folgenreich.
Hier geht es darum, zwei Dinge zu unterscheiden. Erstens beginnt an diesem Punkt ein philosophisches Denken, das für die Entwicklung der Wissenschaften vom Menschen eine orientierende Relevanz beansprucht. Sie entfaltet sich mit und in einem philosophischen Diskurs der Anthropologie, der tatsächlich mit Kant beginnt. Gerade die Frage nach dem Wesen des Menschen, die das Tier auf Abstand hält, setzt in ihrem Kern zugleich ältere humanistische Traditionsbestände fort, insbesondere ein hierarchisches Verhältnis von Geist und Natur. Zweitens steht die kritische Wende für eine Neuausrichtung alles empirischen Wissens, das nicht auf der Grundlage mathematisch-physikalischer Methoden abgesichert ist. Biologie, Kultur und Geschichte bezeichnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts Wissensgebiete, deren Theoriegrundlagen wenigstens problematisch sind. Für die Psychologie hatte bereits Kant die Konsequenzen gezogen; sie sind im Grunde dieselben wie diejenigen, die ihn dazu brachten, die Anthropologie als lediglich pragmatische Disziplin aufzufassen.6
Mit anderen Worten: bei Kant taucht die Anthropologie nicht nur einmal, sondern gleich zweimal auf. Es gibt sie als unausgeführte Philosophie, die sich auf das Wesen des Menschen bezieht, wenngleich sie dieses lediglich in kritischer Perspektive in den Blick nehmen kann. Dann gibt es sie als ausgeführte empirische Wissenschaft im Sinne einer populären Philosophie, die aber keinen Anspruch darauf erhebt, die Frage nach dem Wesen zu stellen oder zu beantworten. Es ist nur diese Anthropologie, die Kant in seinen Vorlesungen seit 1772 in fester Regelmäßigkeit behandelt und die in der Buchfassung von 1798 unter dem Titel einer Anthropologie in pragmatischer Hinsicht erscheint. Sie setzt damit ein Wesen des Menschen voraus – und bringt es in ihrem systematischen Entwurf zugleich zur Geltung.7 Das Wesen artikuliert sich im ersten Teil als »Person« und im zweiten Teil als »reiner Charakter«.8 Auf diese Weise bestimmt es den Begriff vom Menschen, wenngleich sich Kant in dieser seiner Anthropologie lediglich ›pragmatisch‹ mit den Vermögen und den Charakteren beschäftigt.9 Es ist leicht zu sehen, wie sowohl die pathologischen und pädagogischen Aspekte der anthropologischen Vermögenslehre (Erkennen, Fühlen, Begehren) als auch die Darstellung des empirischen Charakters (Geschlecht, Volk, Rasse) an einer wesentlichen Norm ausgerichtet sind, an der die Kranken und die Kinder ebenso wenig partizipieren wie die Frauen, die nicht-europäischen ›Rassen‹ oder der ›Pöbel‹.
Diese Ambivalenz zwischen dem Wesen oder der höheren Natur des Menschen und seinem empirisch darstellbaren Leben lässt sich durch disziplinäre Einteilungen nicht vollständig beseitigen. Deutlich wird diese Ambivalenz bereits bei Buffon, wenn er zwischen Mensch und Tier einen »unermeßlichen Abstand« feststellt und doch erklärt, dass der menschliche Körper dem der »Tiere gleicht und man in einem Verzeichnis aller natürlichen Wesen genötigt ist, ihn an die Spitze der Tierklasse zu setzen.«10 Hier ist nicht allein eine methodische Differenz am Werk, vielmehr wird der prinzipielle Unterschied zwischen Mensch und Tier in die allzu selbstverständliche Annahme übersetzt, dass eben der Mensch an der Spitze der verschiedenen Lebewesen steht. Warum eigentlich, wäre zu fragen, wenn der metaphysische Stellenwert des menschlichen Wesens im Gebiet der Naturgeschichte wirklich keine Rolle spielte? Bei Kant spiegelt sich das theoretische Gefüge seiner systematischen Philosophie in der begrifflichen Struktur der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) wider. Es gibt im Feld der empirischen Menschenkenntnis eine quasi philosophisch-anthropologische Reflexion mit epistemologischem Gewicht. Dies wird nach Kant in der Ausbildung des philosophischen Anthropologiediskurses im beginnenden 19. Jahrhundert immer deutlicher. Und das zeigt seine integrative Kraft, indem in ihm eine Vielzahl nicht-philosophischer wissenschaftlicher Entwicklungen in den Grundlagen ihrer Theoriebildung zusammengeführt werden: in physiologischen und später auch biologischen Diskursen, in Psychologie, Anthropometrie, Medizin und Pädagogik, aber auch in historischen oder ethnologischen Arbeiten, die sich auf Kulturen und Religionen beziehen, sowie in den Wissensfeldern von Kunst, Politik und Ökonomie. Es ist kein Wunder, dass in allen genannten Bereichen spätestens in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Anthropologien entstehen, die in besonderem Maße den fachwissenschaftlichen Blick mit allgemeineren (philosophischen) Fragen des menschlichen Lebens vermitteln.11
Die aktuell vieldiskutierte Kolonialität der Macht ist nicht zuletzt ein epistemisches Problem. Es lässt sich nicht auf die Geschichte der Anthropologie einschränken. Aber diese bietet eine gute Angriffsfläche, eine Reihe von Schlüsselthemen zusammen in den Blick zu nehmen. Wenn Aníbal Quijano im Rassismus eine »mentale Konstruktion« erkennt, »in der sich die elementare Erfahrung kolonialer Herrschaft ausdrückt«12,...
Erscheint lt. Verlag | 10.2.2021 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Andere • Anthropologie • Dekolonisierung • Kant • Kritik • Postkoloniale Philosophie • Rassismus |
ISBN-10 | 3-593-44716-9 / 3593447169 |
ISBN-13 | 978-3-593-44716-2 / 9783593447162 |
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