Psychodynamische Therapie mit Kindern und Jugendlichen in der Praxis (eBook)
248 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12131-5 (ISBN)
Prof. Dr. Eva Rass ist Honorarprofessorin der Hochschule Mannheim und Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Buchen/Odenwald. Sie übt Lehrtätigkeiten an verschiedenen Institutionen aus: Ärztliche Akademie für Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen e.V. München, Hochschule Mannheim (Fakultät Sozialwesen), Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Heidelberg, Institut für Psychoanalyse und Analytische Psychotherapie Würzburg e.V.
Prof. Dr. Eva Rass ist Honorarprofessorin der Hochschule Mannheim und Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Buchen/Odenwald. Sie übt Lehrtätigkeiten an verschiedenen Institutionen aus: Ärztliche Akademie für Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen e.V. München, Hochschule Mannheim (Fakultät Sozialwesen), Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Heidelberg, Institut für Psychoanalyse und Analytische Psychotherapie Würzburg e.V.
Kapitel 1
Der psychologische Blick auf die Entwicklung von Kindern als Grundlage zum Verständnis psychischer Phänomene
Mit Sigmund Freud begann Anfang des vergangenen Jahrhunderts, die Entwicklungs- und Tiefenpsychologie zu einer wissenschaftlichen Disziplin zu werden. In der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eröffneten zudem neue Erkenntnisfortschritte im Feld der Entwicklungspsychologie komplexe Zugänge und Einsichten zur Entfaltung des Menschen und zu der Bedeutung der Umgebungsfaktoren. John Bowlby legte in den 1960er Jahren mit seiner Forschung das Fundament der Bindungstheorie, die derzeit als die am gründlichsten und sorgfältigst evaluierte Entwicklungspsychologie gilt. Weltweit veröffentlichen Forscher in fast nicht mehr überschaubarem Ausmaß ihre Erkenntnisse. In Deutschland ist es u. a. Karl Heinz Brisch, der mit seinen Tagungen und Veröffentlichungen an der Verbreitung dieser Theorie beteiligt ist.
Neben der durch die Videographie höchst präzise gewordenen Beobachtung können bildgebende Verfahren Einblicke in hirnorganische Prozesse eröffnen. Weiter haben Messungen am Körper (z. B. Herzschlag, Hautwiderstand, Speichelüberprüfung zur Erfassung des Stresspegels) der Entwicklungspsychologie ein wissenschaftlich nachvollziehbares Fundament unterlegt, sodass inzwischen der Wechsel von einer »weichen« zu einer »harten« Wissenschaft vollzogen werden konnte. Die Hirnforschung, insbesondere die Neurobiologie, ist zu einer Hilfswissenschaft der Entwicklungs- und Tiefenpsychologie geworden.
Entwicklung ist u. a. ein biologisches, ein psychobiologisches und mentales Phänomen und bezieht sowohl das Körperliche als auch das Psychische mit ein. Die Entwicklungspsychologie präsentiert sich dabei als eine multidisziplinäre Theoriengruppe. Die Phänomene des Lebens lassen sich nicht mehr nur unter einem Aspekt erklären. Nun erlaubt der breit gefächerte Wissenszuwachs in den vergangenen 50 bis 60 Jahren – und insbesondere der Zeitraum zwischen 1990 und 2000 (dieser Zeitraum wird als die »Dekade des Gehirns« bezeichnet) –, strukturelle Sequenzen im Entwicklungsverlauf wahrzunehmen, mit deren Hilfe die Komplexität der menschlichen Entwicklung konzeptuell erfasst werden kann.
Die frühe Kindheit stellt das Fundament des Lebens dar, und die neurobiologische Forschung kann belegen, dass die Schwangerschaft und die ersten 18 Monate Prägungscharakter haben – d. h., dass die dort gemachten Erfahrungen unauslöschlich in die hirnorganische Struktur eingeprägt sind. Daher ist es von großer Bedeutung, welche Erfahrungen der kleine Mensch während der Schwangerschaft und in der frühen Kindheit macht, und es ist mehr als plausibel, dass gute Bedingungen in der Kindheit präventiven Charakter haben. Wer in seiner frühen Lebensphase gute Beziehungs- und Bindungserfahrungen machen kann, begibt sich besser ausgerüstet auf den langen Lebensweg. Jemand, der nur unzureichend gute Erfahrung hat machen können, wird einen dornenreicheren Weg zu beschreiten haben. Es gibt zwar Möglichkeiten, durch spätere bessere Beziehungs- und eventuelle therapeutische Erfahrungen an diesem Basalen eine Reorganisation vorzunehmen, doch ist es nicht einfach, diese in das bis dahin entwickelte neuronale Netz zu integrieren, wenn die frühen Jahre mit übermäßigen Belastungen einhergingen.
Sowohl die psychische als auch die hirnorganische Strukturbildung geht mit Bindungserfahrungen einher, die in die fortwährenden Aktionen des Kindes mit seinen Fürsorgepersonen eingebettet sind. Realer Traumatisierung – dazu gehört auch eine Akkumulation von Minimaltraumata durch chronische Überlastung, z. B. fortwährende Belastungsfaktoren in der Familie, kontinuierliche Überforderung in spezifischen Lebensbereichen – wird eine größere Bedeutung bei der Entstehung psychischer, psychosozialer und psychosomatischer Störungen als fantasierten unbewussten Konflikten eingeräumt. Damit bekommen die frühen realen Interaktionserfahrungen als Wegbereiter der späteren Entwicklung ein wesentliches Gewicht. Diese interdisziplinären Befunde sind wichtig, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie frühe affektive Erfahrungen unausweichlich die gesamte Entwicklung und somit insbesondere die der sich früh entwickelnden rechten Hemisphäre und der damit einhergehenden regulierenden Strukturen beeinflussen. Die rechte Hemisphäre ist in den ersten Jahren die dominante, und diese ist besonders intensiv in den Ausbau der Stressregulation, des kardiovaskulären Systems, des Immunsystems sowie des Hormonsystems involviert. Die linke Hemisphäre, der im Wesentlichen die Kognition und die Sprache zugeordnet werden, gerät erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres in einen bedeutsamen Wachstumsschub. Regulierende Bindungs- und Beziehungserfahrungen prägen sich in die entstehenden neuronalen Strukturen ein. Die Forschung spricht daher von der »sozialen Konstruktion des menschlichen Gehirns«.
Regulierte und beruhigende affektive Interaktionen mit einer vertrauten, vorhersagbaren und primären Bezugsperson schaffen nicht nur das Gefühl von Sicherheit, sondern auch eine positiv aufgeladene Neugier, die es der entstehenden Persönlichkeitskonfiguration ermöglicht, ihre sozioemotionale physikalische Umwelt zu erforschen. Es ist wichtig zu betonen, dass das entwicklungsgeschichtliche Phänomen eines wirksamen Selbstsystems, das verschiedene Erregungs- und psychobiologische Zustände zu regulieren vermag, sich nur in einer stützenden und emotionalen Umgebung entwickeln kann. Dies bedeutet, dass sich ein zuverlässiges Stressverarbeitungssystem intern nur dann entfalten kann, wenn zuvor extern durch beruhigende und sicherheitsgebende Fürsorgepersonen eine Milderung der Stresszustände erlebt werden konnte. Diese regulierenden Momente fördern die Erweiterung der Anpassungsfähigkeit des Kindes, und diese Sicherheit der Bindungsbeziehung ist der größte Schutz gegen eine durch Trauma herbeigeführte Psychopathologie. Je mehr sich in den frühen Jahren den Bedürfnissen des Kindes angepasst wurde, desto stabiler können sich Anpassungskompetenzen, die im späteren Leben von größter Bedeutung sind, entwickeln.
Der Säugling ist in Erregungszuständen auf die zustandsmodulierten Interventionen der Pflegeperson angewiesen, um die psychobiologische Homöostase wiederherzustellen. Der Fokus bei der Entstehung von Störungen liegt demnach auf den psychischen Nachwirkungen realer Interaktionen, die die Bedürfnisse des Kindes nicht befriedigen konnten; nicht etwa auf konflikthaften intrapsychischen Binnenbeziehungen zwischen Wunschfantasien und fantasierten Objekten. Nur durch regulatorische Erfahrungen kann in der neurobiologischen Ausstattung ein Stressverarbeitungssystem aufgebaut werden, und es ist daher von größter Notwendigkeit, dass beruhigende Fürsorgepersonen sich dem erregten Kind in diesen Zuständen unmittelbar und kontinuierlich zur Verfügung stellen. Die biologische Regulation ist somit das Basisgeschehen, aus dem heraus sich im Laufe der Kleinkindzeit Affekte, Emotionen und Gedankengänge entwickeln können. Die Steuerung von Affekten jedweder Art stellt somit eine Schlüsselfunktion dar.
Der Mensch hat von Anfang an Entwicklungsaufgaben zu durchlaufen, und in jedem Alter stehen spezifische Entwicklungsthemen im Vordergrund. Im ersten halben Jahr geht es insbesondere um die grundlegenden Regulierungsprozesse im Organismus des Kindes; bis zum Ende des ersten Lebensjahres und weitergehend bis zum dritten Lebensjahr steht die Bindungsentwicklung im Vordergrund. Aufbauend auf diesem Prozess werden die Autonomieentwicklung und die Exploration des Kindes ermöglicht. Der Impulskontrolle im Allgemeinen und der Interaktionsgestaltung in der Gleichaltrigengruppe kommen große Bedeutung zu. Ab dem Schulalter rückt die körperliche Leistungs- und Sozialkompetenz in den Vordergrund, was ab dem Jugendalter durch die Identitätsbildung und die Bildung außerfamiliärer Beziehungen erweitert wird. Jede neue Entwicklungsaufgabe gleicht einer Schwellensituation, in der neue Reifungsschritte zu bewältigen sind. Übergänge gehen häufig mit normativen Krisen, in denen das Stressverarbeitungssystem die Stabilität der vorherigen gemeisterten Entwicklungsschritte »abklopft«, einher. An auftauchenden längerfristigen Irritationen kann deutlich werden, dass es in der Vorgeschichte offenbar Entwicklungshindernisse gegeben hat. Diese Krisen sind große Chancen – insbesondere die der langen Adoleszenz –, da in ihnen durch bessere Lebenserfahrungen und neue Bewältigungsstrategien Reorganisationsmöglichkeiten bestehen.
Insbesondere mit Blick auf die Kindheit ist wichtig zu betonen, dass ein Kind mehrere wichtige Entwicklungsaufgaben fast nie...
Erscheint lt. Verlag | 18.1.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | AD(H)S • ADHS • Adoleszenz • ADS • Affektregulation • Aggression • Ängste • Angststörung • Angststörungen • Aufmerksamkeitsstörungen • Betreuung • Bindungsstörung • Erzieher • Erziehung • Familie • Familienberatung • Familientherapie • Jugendamt • Kinderheim • Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie • Kindheit • Kindheitstraumatisierung • Neurobiologie • Neuroendokrinologie • Panik • Panikattacke • phobische Angst • Psychiatrie • Psychische Störung • Psychodynamische Therapie • Psychologie • Psychologische Beratung • Psychotherapie • Pubertät • Ressourcen • Schulprobleme • Schwer erziehbar • soziale Angst • Tiefenpsychologie • Verhaltensstörungen |
ISBN-10 | 3-608-12131-5 / 3608121315 |
ISBN-13 | 978-3-608-12131-5 / 9783608121315 |
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