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Kritik des Moralismus (eBook)

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2020 | 1., Originalausgabe
490 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76672-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kritik des Moralismus -
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In politischen Debatten und den Medien ist regelmäßig zu hören und zu lesen, man solle das Moralisieren lassen, denn es führe zu nichts, bringe die Menschen nur gegeneinander auf und sei damit sogar unmoralisch. Doch stimmt das? Und was ist überhaupt Moralismus? Wann moralisieren wir und wann machen wir anderen berechtigte moralische Vorwürfe? Der Band versammelt Originalbeiträge, die sich diesen Fragen auf unterschiedliche Weise nähern - einige kritisieren den Moralismus, andere verteidigen den Bedarf an moralistischer Kritik. Gemeinsam ist ihnen das Ziel, die philosophischen Grundlagen für eine differenziertere Betrachtung des Moralisierens in öffentlichen Debatten zu erschließen.



<p>Christian Neuh&auml;user ist Professor f&uuml;r Praktische Philosophie an der TU Dortmund. Zuletzt erschienen: <em>Unternehmen als moralische Akteure</em> (stw 1999) und<em> Reichtum als moralisches Problem</em> (stw 2249).</p> <p>Christian Seidel ist Professor f&uuml;r Philosophische Anthropologie am Karlsruher Institut f&uuml;r Technologie (KIT).</p>

9Christian Neuhäuser und Christian Seidel

Kritik des Moralismus.
Eine Landkarte zur Einleitung


Die Praxis der Moral und das Phänomen des Moralismus


Moral ist ohne Zweifel wichtig. Man sollte sie also auch wichtig nehmen. Aber man kann sie auf verschiedene Weise wohl auch zu wichtig nehmen – etwa indem man unerbittlich auf jede noch so kleine Verfehlung hinweist, anderen ihr Fehlverhalten stets vor Augen führt, die rigorose Einhaltung moralischer Prinzipien predigt, auf ebensolchen Prinzipien herumreitet oder sich selbst moralischer Heldentaten rühmt (und andere damit ins schlechte Licht rückt). Macht man jede Alltagsentscheidung zu einer moralischen Gewissensfrage, wird man vor lauter Skrupeln schnell handlungsunfähig und beraubt sich aller Lebensfreuden. Auch wer umgekehrt übermütig moralischen Aktivismus an den Tag legt, kann, geblendet von dem Wunsch, moralisch Gutes zu tun, schnell einigen Schaden anrichten. Wer kennt nicht Menschen, die den Abend im Freundeskreis zielsicher mit der Frage verderben, ob der Genuss des Weines angesichts der weltweiten Armut nicht ein unvertretbarer Luxus sei; die ihre Kolleg*innen nach Reisen aller Art mit der Frage zu konfrontieren pflegen, wie das denn angesichts des Klimawandels zu rechtfertigen sei; oder die ihre Bekannten vorzugsweise mit Büchern wie Vegetarismus, Fair Trade und regionale Produkte. Ein Leitfaden für bewusste Konsument*innen und solche, die es noch werden sollten beglücken möchten?

Oft nennt man solche Menschen und ihr Verhalten »moralistisch«. Die Vielfalt der Beispiele zeigt bereits, dass sich Moralismus auf sehr unterschiedliche Weisen ausdrücken kann. Wenn man versucht, genauer auf den Punkt zu bringen, worin Moralismus in solchen Fällen eigentlich besteht, dann erhält man ein Knäuel ganz verschiedener Ansatzpunkte:

  • Manchmal scheint Moralismus in einer Art unangemessener Komplexitätsreduktion zu bestehen: Jemand vereinfacht eine 10komplexe Situation auf grobe Weise mit einem pauschalen Moralurteil oder übt starke moralische Kritik, obwohl die zugrunde liegenden deskriptiven oder moralischen Überzeugungen sehr unsicher sind. Dieses Verhalten (das anderen oft zu viel abfordert) beschreibt man manchmal als Prinzipienreiterei, Rigorismus oder auch als Fetischisierung eines moralischen Grundsatzes.

  • Manchmal äußert sich Moralismus auch in einer Art übertriebener Selbstbezogenheit: Es geht der urteilenden Person gar nicht um die Sache, sondern nur um sich selbst – entweder darum, sich der eigenen Rechtschaffenheit zu vergewissern, oder darum, sich selbst über andere zu erheben. Bezeichnungen wie »Gutmenschentum«, »moralische Nabelschau« oder »moralischer Aktionismus« verweisen auf die erste Spielart dieses Egozentrismus (die einen auch für bestimmte Aspekte blind machen und so zu vorschnellem Handeln führen kann), während »Selbstgerechtigkeit«, »Selbstbeweihräucherung« oder »moralische Ostentation« eher auf die zweite Spielart des Egozentrismus – den Ausdruck der eigenen moralischen Überlegenheit – verweisen.

  • Manchmal tritt Moralismus auch eher als eine Art kategorial deplatziertes moralisches Urteil in Erscheinung: Moralische Erwägungen werden in einem Bereich geltend gemacht, in dem moralische Erwägungen nicht einschlägig sind – womit etwas zu einer moralischen Angelegenheit aufgeladen wird, das keine moralische Angelegenheit ist. So wird in der Theorie internationaler Beziehungen zwischen Staaten seitens des sogenannten Neorealismus gern darauf hingewiesen, dass internationale Politik eine Sache der Staatsräson und nicht der Moral sei. Auch in der Ästhetik findet sich die Position, Kunst habe mit Moral nichts zu tun. Aus Sicht von Vertreter*innen dieser Position ist Moral in der internationalen Politik bzw. Kunst immer fehl am Platz und ein Verweis auf moralische Erwägungen entsprechend moralistisch.

  • Und schließlich erscheint Moralismus manchmal auch als eine Art Kompetenzüberschreitung der urteilenden Person: Eine Person, die gar nicht zuständig oder kritikberechtigt ist, urteilt moralisch über andere oder übt moralische Kritik. Derartiges Verhalten kommt uns moralisch übergriffig, anmaßend oder – 11wenn die Person selbst das tut oder getan hat, was sie kritisiert – auch heuchlerisch und scheinheilig vor.

Angesichts dieses Facettenreichtums kann man sich fragen, ob und wie diese heterogenen Erscheinungsformen des Moralismus zusammenhängen: Gibt es einen gemeinsamen Kern? Vielleicht kann man sich einem solchen Kern – so es ihn denn geben sollte – mit zwei Beobachtungen nähern: Zum einen scheint Moralismus dort ins Spiel zu kommen, wo ein Akteur auf das (gegebenenfalls auch nur fiktive) Verhalten anderer Akteure »moralisch reagiert«, indem er die moralische Qualität dieser Akteure (oder ihres Verhaltens) zum Thema macht. Oft geschieht das durch an konkrete Akteure gerichtete Vorwürfe oder Kritik oder durch ein coram publico vorgebrachtes negatives moralisches Urteil (über die Akteure, über deren Verhalten, über eine Praxis oder Institution). Es kann aber auch indirekter geschehen durch eine bloße moralische Handlungsanweisung (»Sie muss endlich …«), durch moralisch motivierte Interventionen oder durch in Mimik, Gestik oder Intonation bekundeten moralischen Unmut.[1]  Zum anderen legen Moralistinnen dabei einen eigentümlichen Mangel an Urteilskraft an den Tag: Mit überzogenen Urteilen, unangebrachten Vorwürfen, anmaßender Kritik etc. machen sie etwas falsch, das heißt, ihre moralische Reaktion ist in bestimmter Hinsicht defizitär.[2]  Welche Hinsicht das 12ist bzw. worin genau der Fehler besteht, dafür liefern die obigen Gesichtspunkte erste Ansätze. Vielleicht lässt sich nicht mehr sagen, als dass die moralische Reaktion der Moralist*innen insofern defizitär ist, als sie den Gegenstand, auf den sie sich richtet, »de-kontextualisiert«: Wer die Komplexität der Situation, in der A H tut, unangemessen reduziert, stellt As Handlung in einen anderen, unpassenden Kontext.[3]  Wem es bei der moralischen Reaktion nicht um die Sache geht, sondern nur um sich selbst, verschiebt den Kontext von einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem beurteilten Gegenstand zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit der beurteilenden Person. Wer kategorial deplatziert moralisch urteilt, macht aus einem außermoralischen Kontext einen moralischen. Und wer mit dem Urteil seine eigenen Kompetenzen überschreitet, missversteht, dass jemand etwas in einem Kontext tut, der die beurteilende Person nichts angeht oder für den sie nicht zuständig ist. So gesehen kann man Moralismus rudimentär charakterisieren als die – aufgrund einer De-Kontextualisierung – defizitäre moralische Reaktion auf die moralische Qualität eines Gegenstands (ein moralischer Akteur, eine Handlung, Praxis oder Institution), mit der diese moralische Qualität (öffentlich) thematisiert wird.

Das macht Moralismus zu einem relevanten Phänomen, wenn Personen einander explizit als moralische Akteure begegnen und adressieren. Wir alle reagieren natürlich ständig auf das Verhalten anderer, etwa wenn wir der auf uns zu rasenden Radfahrerin ausweichen oder uns mit einem Lächeln für die aufgehaltene Tür 13bedanken. Der Moralismus-Verdacht kommt aber bei einer auf das bloße Verhalten gerichteten Reaktion gar nicht ins Spiel. Er wird erst relevant, wenn sich die Reaktion...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Altruismus • Meinungsfreiheit • Moral • STW 2328 • STW2328 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2328
ISBN-10 3-518-76672-4 / 3518766724
ISBN-13 978-3-518-76672-9 / 9783518766729
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