Passagen, Durchgänge, Übergänge. Eine Auswahl. [Was bedeutet das alles?] (eBook)
120 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961775-6 (ISBN)
Walter Benjamin (15.7.1892 Berlin - 26. 9. 1940 Port Bou, Spanien) entstammte einer jüdisch-großbürgerlichen Familie und war ein deutscher Philosoph, Kulturkritiker und Übersetzer. Die Philosophie Walter Benjamins ist geprägt durch seine Beschäftigung mit der marxistischen Geschichtstheorie sowie durch den Kontakt zu Bertolt Brecht, Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer. Ein Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Freiburg, Berlin, München und Bern beendet Benjamin 1919 mit einer Promotion über den 'Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik'. Seine Habilitationsschrift wird zurückgewiesen, woraufhin er journalistisch für Zeitungen und Radioanstalten tätig wird. Mithilfe eines Stipendiums emigriert Benjamin 1933 nach Paris. 1940 geht er nach Marseille und versucht, vor dem Nationalsozialismus über die spanische Grenze zu flüchten, wo er zurückgewiesen wird. Benjamin nimmt sich daraufhin das Leben. Benjamin verknüpft in seinem im Pariser Exil entstandenen Aufsatz 'Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit' Marxismus und Kunsttheorie. In der Rolle als philosophisch-literarischer ?Flaneur? skizziert Benjamin in seinem Fragment gebliebenen und als 'Passagen-Werk' (eine Auswahl trägt den Namen 'Passagen, Durchgänge, Übergänge') bekannten Werk ein von Kapitalismus geprägtes Paris anhand einer Collage aus Notizen, Zitaten und Exzerpten. Ähnlich skizzenhaft und prosaisch ist die 1950 posthum von Adorno veröffentlichte Textsammlung 'Berliner Kindheit um neunzehnhundert', in der Benjamin im bruchstückhaften Nebeneinander der einzelnen Textabschnitte seine Kindheit in Westberlin Revue passieren lässt. Als gefragter Kulturkritiker veröffentlicht Benjamin etwa über Wolfgang Goethe, Franz Kafka, Marcel Proust, Charles-Pierre Baudelaire oder den Surrealismus. Weitere bekannte wissenschaftliche Abhandlungen sind 'Zur Kritik der Gewalt' und 'Über den Begriff der Geschichte'.Johanna Sprondel, geb. 1980, ist Professorin für Medien und Marketing in Stuttgart.
Walter Benjamin (15.7.1892 Berlin – 26. 9. 1940 Port Bou, Spanien) entstammte einer jüdisch-großbürgerlichen Familie und war ein deutscher Philosoph, Kulturkritiker und Übersetzer. Die Philosophie Walter Benjamins ist geprägt durch seine Beschäftigung mit der marxistischen Geschichtstheorie sowie durch den Kontakt zu Bertolt Brecht, Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer. Ein Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Freiburg, Berlin, München und Bern beendet Benjamin 1919 mit einer Promotion über den "Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik". Seine Habilitationsschrift wird zurückgewiesen, woraufhin er journalistisch für Zeitungen und Radioanstalten tätig wird. Mithilfe eines Stipendiums emigriert Benjamin 1933 nach Paris. 1940 geht er nach Marseille und versucht, vor dem Nationalsozialismus über die spanische Grenze zu flüchten, wo er zurückgewiesen wird. Benjamin nimmt sich daraufhin das Leben. Benjamin verknüpft in seinem im Pariser Exil entstandenen Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" Marxismus und Kunsttheorie. In der Rolle als philosophisch-literarischer ›Flaneur‹ skizziert Benjamin in seinem Fragment gebliebenen und als "Passagen-Werk" (eine Auswahl trägt den Namen "Passagen, Durchgänge, Übergänge") bekannten Werk ein von Kapitalismus geprägtes Paris anhand einer Collage aus Notizen, Zitaten und Exzerpten. Ähnlich skizzenhaft und prosaisch ist die 1950 posthum von Adorno veröffentlichte Textsammlung "Berliner Kindheit um neunzehnhundert", in der Benjamin im bruchstückhaften Nebeneinander der einzelnen Textabschnitte seine Kindheit in Westberlin Revue passieren lässt. Als gefragter Kulturkritiker veröffentlicht Benjamin etwa über Wolfgang Goethe, Franz Kafka, Marcel Proust, Charles-Pierre Baudelaire oder den Surrealismus. Weitere bekannte wissenschaftliche Abhandlungen sind "Zur Kritik der Gewalt" und "Über den Begriff der Geschichte".Johanna Sprondel, geb. 1980, ist Professorin für Medien und Marketing in Stuttgart.
Passagen, Durchgänge, Übergänge. Eine Auswahl
Fluchtlinien 1
Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts
I. Fourier oder die Passagen
II. Daguerre oder die Panoramen
III. Grandville oder die Weltausstellungen
IV. Louis-Philippe oder das Interieur
V. Baudelaire oder die Straßen von Paris
VI. Haussmann oder die Barrikaden
Fluchtlinien 2
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Walter Benjamin – Ein Kind der Reformzeit
I. Fourier oder die Passagen
»De ces palais les colonnes magiques
A l’amateur montrent de toutes parts,
Dans les objets qu’étalent leurs portiques,
Que l’industrie est rivale des arts.«3
Nouveaux tableaux de Paris. Paris 1828. I, p. 27.
Die Mehrzahl der pariser Passagen entsteht in den anderthalb Jahrzehnten nach 1822. Die erste Bedingung ihres Aufkommens ist die Hochkonjunktur des Textilhandels. Die magasins de nouveautés4, die ersten Etablissements, die größere Warenlager im Hause unterhalten, beginnen sich zu zeigen. Sie sind die Vorläufer der Warenhäuser.
Wenn die Passage die klassische Form des Interieurs ist, als das die Straße sich dem Flaneur5 darstellt, so ist dessen Verfallsform das Warenhaus. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs. War ihm anfangs die Straße zum Interieur geworden, so wurde ihm dieses Interieur nun zur Straße, und er irrte durchs Labyrinth der Ware wie vordem durch das städtische.
Was in den Passagen verkauft wird, sind Andenken. Das »Andenken« ist die Form der Ware in den Passagen. Man kauft immer nur Andenken an die und die Passage. Entstehung der Andenkenindustrie.
Es war die Zeit, von der Balzac6 schrieb: »Le grand poème de l’étalage chante ses strophes de couleurs depuis la Madeleine jusqu’à la porte Saint-Denis7.« Die Passagen sind ein Zentrum des Handels in Luxuswaren. In ihrer Ausstattung tritt die Kunst in den Dienst des Kaufmanns. Die Zeitgenossen werden nicht müde, sie zu bewundern. Noch lange bleiben sie ein Anziehungspunkt für die Fremden. Ein »Illustrierter Pariser Führer« sagt: »Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, ja eine Welt im kleinen ist.« Die Passagen sind der Schauplatz der ersten Gasbeleuchtung.
Das erhöhte die Sicherheit in der Stadt; es machte die Menge auf offener Straße auch des Nachts bei sich selber heimisch; es verdrängte den Sternenhimmel aus dem Bilde der großen Stadt zuverlässiger als das durch ihre hohen Häuser geschah. »Ich ziehe den Vorhang hinter der Sonne zu; nun ist sie zu Bett gebracht wie es sich gehört; ich sehe fortan kein anderes Licht als das der Gasflamme.« […] Mond und Sterne sind nicht mehr erwähnenswert.
Solange in ihr die Gas- ja die Öllampen gebrannt haben, waren sie Feenpaläste. Aber wenn wir auf dem Höhepunkt ihres Zaubers sie denken wollen, so stellen wir die Passage des Panoramas uns 1870 vor, als sie: auf der einen Seite hing das Gaslicht, auf der andern flackerten noch die Öllampen. Der Niedergang beginnt mit der elektrischen Beleuchtung. Aber ein Niedergang war es im Grunde nicht, sondern genau genommen ein Umschlag. Wie Meuterer nach tagelanger Verschwörung einen befestigten Platz sich zu eigen machen, so riß mit einem Handstreich die Ware die Herrschaft über die Passagen an sich. Nun erst kam die Epoche der Firmen und Ziffern. Der innere Glanz der Passagen erlosch mit dem Aufflammen der elektrischen Lichter und verzog sich in ihre Namen. Aber nun wurde ihr Name wie ein Filter, der nur das innerste, die bittere Essenz des Gewesnen hindurchließ.
Die zweite Bedingung des Entstehens der Passagen bilden die Anfänge des Eisenbaus. Das Empire sah in dieser Technik einen Beitrag zur Erneuerung der Baukunst im altgriechischen Sinne.
Es geht aber mit den Erfahrungen der Menschheit – und die Antike ist eine Menschheitserfahrung – nicht anders wie mit denen des einzelnen. Ihr Formgesetz ist ein Gesetz der Schrumpfung, ihr Lakonismus nicht der des Scharfsinns sondern der eingezogenen Trockenheit alter Früchte […].
Der Architekturtheoretiker Boetticher8 spricht die allgemeine Überzeugung aus, wenn er sagt, daß »hinsichtlich der Kunstformen des neuen Systemes das Formenprinzip der hellenischen Weise« in kraft treten müsse. Das Empire ist der Stil des revolutionären Terrorismus, dem der Staat Selbstzweck ist. So wenig Napoleon die funktionelle Natur des Staates als Herrschaftsinstrument der Bürgerklasse erkannte, so wenig erkannten die Baumeister seiner Zeit die funktionelle Natur des Eisens, mit dem das konstruktive Prinzip seine Herrschaft in der Architektur antritt. Diese Baumeister bilden Träger der pompejanischen Säule, Fabriken den Wohnhäusern nach, wie später die ersten Bahnhöfe an Chalets9 sich anlehnen. »Die Konstruktion nimmt die Rolle des Unterbewußtsein ein.«
Merkantilismus10, Antike und mystisches Naturexperiment: Vollendung des Staates durch das Geldwesen, der Kunst durch die Antike, der Natur durch das Experiment sind die Signatur der Epoche […].
Die Moderne hat die Antike wie einen Alb11, der im Schlaf über sie gekommen ist.
Nichtsdestoweniger beginnt der Begriff des Ingenieurs, der aus den Revolutionskriegen stammt, sich durchzusetzen, und die Kämpfe zwischen Konstrukteur und Dekorateur, Ecole Polytechnique12 und Ecole des Beaux-Arts13 beginnen.
Durch die Ecole des Beaux-Arts wird die Architektur zu den bildenden Künsten geschlagen. »Das wurde ihr Unheil. Im Barock war diese Einheit vollendet und selbstverständlich gewesen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts aber zwiespältig und falsch geworden.« […]14 Das gibt nicht nur eine sehr wichtige Perspektive auf das Barock, das zeigt zugleich, daß die Architektur am frühesten dem Begriffe der Kunst historisch entwachsen ist, oder besser gesagt, daß sie am wenigsten die Betrachtung als »Kunst« vertrug, die das 19te Jahrhundert, im Grunde mit nicht viel größerer Berechtigung in einem vordem ungeahnten Maße den Erzeugnissen geistiger Produktivität aufgezwungen hat.
Erstmals in der Geschichte der Architektur tritt mit dem Eisen ein künstlicher Baustoff auf. Er unterliegt einer Entwicklung, deren Tempo sich im Laufe des Jahrhunderts beschleunigt. Sie erhält den entscheidenden Anstoß als sich herausstellt, daß die Lokomotive, mit der man seit Ende der zwanziger Jahre Versuche anstellte, nur auf eisernen Schienen verwendbar ist. Die Schiene wird der erste montierbare Eisenteil, die Vorgängerin des Trägers. Man vermeidet das Eisen bei Wohnbauten und verwendet es bei Passagen, Ausstellungshallen, Bahnhöfen – Bauten, die transitorischen15 Zwecken dienen. Gleichzeitig erweitert sich das architektonische Anwendungsgebiet des Glases. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für seine gesteigerte Verwendung als Baustoff finden sich aber erst hundert Jahre später. Noch in der »Glasarchitektur« von Scheerbart16 (1914) tritt sie in den Zusammenhängen der Utopie auf.
Scheerbart […] legt darauf den größten Wert, seine Leute – und nach deren Vorbilde seine Mitbürger – in standesgemäßen Quartieren unterzubringen: in verschiebbaren beweglichen Glashäusern wie Loos17 und Le Corbusier18 sie inzwischen aufführten. Glas ist nicht umsonst ein so hartes und glattes Material, an dem sich nichts festsetzt. Auch ein kaltes und nüchternes. Die Dinge aus Glas haben keine »Aura«19. Das Glas ist überhaupt der Feind des Geheimnisses. Es ist auch der Feind des Besitzes. Der große Dichter André Gide20 hat einmal gesagt: Jedes Ding, das ich besitzen will, wird mir undurchsichtig. Träumen Leute wie Scheerbart etwa darum von Glasbauten, weil sie Bekenner einer neuen Armut sind?
Die staubige Fata Morgana des Wintergartens, die trübe Perspektive des Bahnhofs mit dem kleinen Altar des Glücks im Schnittpunkt der Gleise, das alles modert unter falschen Konstruktionen, zu früh gekommenem Glas, zu frühem Eisen. Denn in dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts ahnte noch niemand, wie mit Glas und Eisen gebaut werden muß. Aber längst haben Hangars und Silos das eingelöst.
»Chaque époque rêve la suivante.«
Michelet: Avenir! Avenir!21
Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx), entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären.
[D]as Bild von Glück, das wir hegen, [ist] durch und durch von der Zeit tingiert […], in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat. […] Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index22 mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein...
Erscheint lt. Verlag | 13.11.2020 |
---|---|
Reihe/Serie | Reclams Universal-Bibliothek |
Reclams Universal-Bibliothek – [Was bedeutet das alles?] | [Was bedeutet das alles?] |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Geschichte der Philosophie |
Schlagworte | Analyse • Benjamin Passagen • Bücher Philosophie • Das Passagen-Werk • Denkanstöße • Erklärungen • Erläuterungen • Essay • Ethik • ethik texte • Ethik-Unterricht • gelb • gelbe bücher • Geschichtsphilosophie • gestreiftes buch • historischer Kontext • Historischer Materialismus • Interpretation • Klassenlektüre • Kritisches Denken • Lektüre • Literatur Klassiker • Philosophie • Philosophie Benjamin • philosophie oberstufe • philosophie texte • Philosophie-Unterricht • philosophische Bücher • Reclam Hefte • reclam reihe was bedeutet das alles • Reclams Universal Bibliothek • Reclam Was Bedeutet Das Alles • Schullektüre • Streifen • Überlegungen • Walter Benjamin Flaneur • Walter Benjamin Fragmente • Was bedeutet das alles • was bedeutet das alles reclam • wbda • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-15-961775-0 / 3159617750 |
ISBN-13 | 978-3-15-961775-6 / 9783159617756 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,3 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich