Alfred Adler, Gesammelte Werke (eBook)
928 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-27635-5 (ISBN)
II. Psychischer Hermaphroditismus und männlicher Protest – ein Kernproblem der nervösen Erkrankungen
Es war ein gewaltiger Schritt vorwärts, als sich in der Lehre von den nervösen Erkrankungen die einheitliche Anschauung Bahn brach, die nervösen Störungen seien durch seelische Alterationen hervorgerufen und müßten durch Einwirkungen auf die Psyche behandelt werden. Eine endgültige Entscheidung brachte das Eingreifen berufener Forscher, wie Charcot, Janet, Dubois, Dejerine, Breuer, Freud u.a. Dazu kamen von Frankreich die Erfahrungen des hypnotischen Experimentes und der hypnotischen Behandlung, welche die Wandelbarkeit nervöser Symptome und ihre Beeinflußbarkeit auf den Wegen der Psyche erwiesen. Die Heilerfolge blieben trotz dieses Fortschrittes unsicher, so daß sich namhafte Autoren, unbeeinflußt durch ihre theoretischen Erwägungen, Neurasthenie, Hysterie, Zwangs- und Angstneurosen mit den althergebrachten Arzneien, mittels Elektrizität und Hydrotherapie zu heilen versuchten. Die ganze Frucht der erweiterten Kenntnisse war auf Jahre hinaus eine Anhäufung von Schlagworten, die den Sinn und das Wesen der komplizierten neurotischen Mechanismen erschöpfen und erschließen sollten. Für die einen lag der Schlüssel zum Verständnis in der »reizbaren Schwäche«, »sinkenden Spannung«, für die anderen in der »Suggestibilität«. »Erschütterbarkeit«, »hereditäre Belastung«, »Degeneration«, »krankhafte Reaktion«, »Labilität des psychischen Gleichgewichts« und andere ähnliche Begriffe sollten das Geheimnis der nervösen Erkrankungen ausmachen. Zugunsten des Patienten ergab sich daraus im wesentlichen bloß eine etwas dürre Suggestivtherapie, meist fruchtlose Versuche, die Krankheit »auszureden«, »eingeklemmte Affekte abzureagieren« und der nicht weniger fruchtlose Versuch psychische Schädigungen dauernd fernzuhalten. Immerhin entwickelte sich dieses therapeutische Verfahren zu einem öfters nützlichen »traitement moral«, wenn der Patient unter der Leitung weltkundiger, mit Intuition begabter Ärzte stand. Aber unter den Laien wurde ein Vorurteil wach, genährt durch voreilige Schlüsse aus der Beobachtung der rasch sich vermehrenden Unfallneurosen, als ob der Nervöse an »Einbildungen« leide und sich willkürlicher Übertreibungen schuldig mache, und als ob es ihm möglich wäre, durch Kräftigung seiner Energie seine Krankheitserscheinungen zu überwinden.
Josef Breuer kaut auf den Gedanken, dem Patienten Sinn und Entwicklung seines Krankheitssymptoms, etwa einer hysterischen Lähmung, abzufragen. Er, und mit ihm S. Freud, taten dies anfangs ohne jedwedes Vorurteil und bestätigten dabei die auffällige Tatsache von Erinnerungslücken, die dem Patienten sowohl als dem Arzt die Einsicht in die Ursache und den Verlauf der Erkrankung verwehrten. Die Versuche, aus der Kenntnis der Psyche, der krankhaften Charakterzüge, der Phantasien und des Traumlebens der Patienten auf das vergessene Material zu schließen, hatten Erfolg und führten zur Begründung der psychoanalytischen Methode und Anschauungsweise. Dank dieser Methode gelang es Freud, die Wurzeln der nervösen Erkrankung bis in die früheste Kindheit zurückzuverfolgen und eine Anzahl ständiger psychischer Mechanismen aufzudecken, wie die der Verdrängung und der Verschiebung. Bei der Behandlung wurden regelmäßig früher unbewußte Regungen und Wünsche des Patienten erschlossen, in gleicher Weise bei den verschiedenartigsten nervösen Formen, von verschiedenen Autoren, die sich der psychoanalytischen Methode bedienten und oft unabhängig voneinander arbeiteten. Freud selbst hat die Ursachen der nervösen Erkrankungen in den Verwandlungen des Sexualtriebes und in einer besonderen Konstitution des Sexualtriebs gesucht, eine Theorie, die viel angefeindet wurde, aber nicht untrennbar mit der psychologischen Methode verbunden ist. –
Als Grundsatz für die Ausübung der individual-psychologischen Methode möchte ich geltend machen die Zurückführung aller bei einem einzelnen bestehenden nervösen Symptome auf ein »größtes gemeinschaftliches Maß«. Die Richtigkeit der so gemeinschaftlich mit dem Patienten durchgeführten Reduktion wird dadurch festgestellt, daß das in jedem Falle gewonnene psychische Bild mit einer wirklichen psychischen Situation aus der frühesten Kindheit des Patienten übereinstimmt, d. h. die psychische Grundlage, die Schablone der nervösen Erkrankung und des Symptoms ist aus der Kindheit unverändert übernommen, über dieser Grundlage aber hat sich im Laufe der Jahre ein vielverzweigter Überbau erhoben, die individuelle Neurose, die der Behandlung unzugänglich ist, sofern man nicht die Grundlage ändert. In diesen Überbau sind auch alle Entwicklungstendenzen, Charakterzüge und persönlichen Erlebnisse eingegangen, unter denen besonders hervorzuheben sind: Stimmungsreste eines einmaligen oder wiederholten Mißerfolges auf der Hauptlinie menschlichen Strebens – der unmittelbare Anlaß zum Ausbruch der nervösen Erkrankung. Nunmehr geht das Sinnen und Trachten des Patienten dahin, den Mißerfolg wett zu machen, anderen, meist untauglichen Triumphen gierig nachzujagen, vor allem aber, sich vor neuen Mißerfolgen und Schicksalsprüfungen zu sichern. Und dies ermöglicht ihm seine ausgebrochene Neurose, die ihm so zur Stütze wird. Die nervöse Angst, Schmerzen, Lähmungen und der nervöse Zweifel hindern ihn an aktiven Eingreifen ins Leben, der nervöse Zwang leiht ihm – im Zwangsdenken und Zwangshandeln – den Schein der verlorengegangenen Aktivität auf der unnützlichen Seite des Lebens, gibt ihm andererseits den Vorwand zur Passivität auf Grund der Krankheitslegitimation. –
Ich selbst sah mich gezwungen, bei Ausübung der individualpsychologischen Methode die krankmachende kindliche Situation weiter aufzulösen, und stieß dabei auf Quellen, die sich aus nachteiligen Einflüssen des Organismus und des Familienlebens herschrieben. Darüber hinaus aber kamen Ursachen zutage, die zum Teil dieses schädliche Milieu formen halfen – die familiäre organische Konstitution. Ich wurde regelmäßig und unerbittlich auf den Umstand hingewiesen, daß der Besitz hereditär minderwertiger Organe, Organsysteme und Drüsen mit innerer Sekretion für das Kind in den Anfängen seiner Entwicklung eine Position schaffe, in der das sonst normale Gefühl der Schwäche und Unselbständigkeit ganz ungeheuer vertieft wird und sich zu einem tief empfundenen Gefühl der Minderwertigkeit auswächst.1 Aus der verlangsamten oder fehlerhaften inadäquaten Einrichtung der minderwertigen Organe ergeben sich nämlich anfangs Zustände von Schwäche, Kränklichkeit, Plumpheit, Häßlichkeit (oft infolge von äußeren Degenerationszeichen), Ungeschicklichkeit und eine große Anzahl von Kinderfehlern wie Augenblinzeln, Schielen, Linkshändigkeit, Hörstummheit, Stottern, Sprachfehler, Erbrechen, Bettnässen und Stuhlanomalien, derentwegen das Kind recht häufig Zurücksetzungen erfährt oder dem allgemeinen Spotte und der Strafe verfällt und gesellschaftsunfähig wird. Das psychische Bild dieser Kinder weist bald auffallende Verstärkungen sonst normaler Züge von kindlicher Unselbständigkeit, von Anlehnungs- und Zärtlichkeitsbedürfnis auf und artet aus in Ängstlichkeit, Furcht vor dem Alleinsein, Schüchternheit, Scheu, Furcht vor allem Fremden und Unbekannten, in übergroße Schmerzempfindlichkeit, Prüderie und dauernde Furcht vor Strafe und vor Folgen jedes Handelns – Charakterzüge, die insbesondere den Knaben einen scheinbar weiblichen Einschlag geben.
Bald aber sieht man bei diesen zur Nervosität disponierten Kindern das Gefühl der Zurückgesetztheit auffallend im Vordergrunde. Und damit im Zusammenhange stellt sich eine Überempfindlichkeit ein, welche ein ruhiges Gleichmaß der Psyche ununterbrochen stört. Solche Kinder wollen alles besitzen, alles essen, alles hören, alles sehen, alles wissen. Sie wollen alle anderen übertreffen und alles allein vollbringen. Ihre Phantasie spielt mit allerlei Größenideen: sie wollen die anderen retten, sehen sich als Helden, glauben an eine fürstliche Abkunft, halten sich für verfolgt, bedrängt, für Aschenbrödel. Der Grund zu einem brennenden, unersättlichen Ehrgeiz ist gelegt, dessen Scheitern man mit Sicherheit voraussagen kann. Nun erwachen auch und verstärken sich böse Instinkte. Geiz und Neid wachsen ins Unermeßliche, weil das Kind nicht imstande ist auf die Befriedigung seiner Wünsche zu warten. Gierig und hastig jagt es jedem Triumph nach, wird unerziehbar, jähzornig, gewalttätig gegen die Kleineren, lügenhaft den Großen gegenüber und belauert alle mit zähem Mißtrauen. Es ist klar, wieviel ein guter Erzieher bei solcher keimenden Selbstsucht bessern, ein schlechter verschlimmern kann. Im günstigsten Falle entwickelt sich ein unstillbarer Wissensdurst oder das Treibhausgewächs eines Wunderkindes, ungünstigen Falles erwachen verbrecherische Neigungen oder das Bild eines abgekämpften Menschen, der seinen Rückzug vor den Forderungen des Lebens durch die arrangierte Neurose zu verschleiern sucht.
Als Ergebnis solcher direkter Beobachtungen aus dem Kinderleben ist also anzuführen, daß die kindlichen Züge von Unterwürfigkeit, Unselbständigkeit und Gehorsam, kurz der Passivität des Kindes sehr bald – und zumal bei neurotischer Disposition sehr schroff – durch heimliche Züge von Trotz und Auflehnung, Zeichen des Ressentiments, ergänzt werden. Ein genauer Einblick ergibt ein Gemisch von passiven und aktiven Zügen, aber stets waltet die Tendenz vor, vom mädchenhaften Gehorsam zum knabenhaften Trotz...
Erscheint lt. Verlag | 9.11.2020 |
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Reihe/Serie | Anaconda Gesammelte Werke | Anaconda Gesammelte Werke |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Alfred Adler • dark academia • eBooks • Einführung • Erziehung • Individualpsychologie • Lehre vom Heilen • Medizin • Menschenkenntnis • Österreichischer Arzt • Österreichischer Schriftsteller • Philosophie • Psychologie • Psychotherapeut • Psychotherapie • Sinn des Lebens • Über den nervösen Charakter |
ISBN-10 | 3-641-27635-7 / 3641276357 |
ISBN-13 | 978-3-641-27635-5 / 9783641276355 |
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