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Die Realität des Risikos (eBook)

Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99897-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Realität des Risikos -  Julian Nida-Rümelin,  Nathalie Weidenfeld
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Es gibt kein Leben ohne Risiko Spannend und hochaktuell: Lesen Sie dieses Buch, wenn Sie verstehen wollen, wie das Risiko unsere Welt beherrscht!? Risiko als Realität - Nehmen wir das Risiko ernst genug oder zu ernst? Die Wissenschaftler?Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld liefern eine scharfsinnige Analyse unserer Gegenwart.??  Nicht zuletzt Corona hat uns gezeigt, dass das Risiko keine bloße Theorie ist, sondern brutale Wirklichkeit. Nida-Rümelin und Weidenfeld zeigen nicht nur auf, wie Gefahren unseren Alltag bestimmen. Sie gehen auch der Frage nach, wie wir uns dazu verhalten sollten. Welches Risiko rechtfertigt welche Handlungen? 'Die Realität des Risikos' plädiert für einen vernünftigen Umgang mit Gefahren, der Risiken ernst nimmt, aber sich nicht von ihnen beherrschen lässt.??  Unbedingte philosophische Leseempfehlung nicht nur für Fans von Denkern wie Hartmut Rosa oder Ulrich Beck.??  'Die Realität des Risikos' ist das Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit: Julian Nida-Rümelin, ehemals Professor der Philosophie, ist stellvertretender Vorsitzender des Ethikrats. Seine Frau Nathalie Weidenfeld ist Film- und Kulturwissenschaftlerin. Die philosophischen Thesen Nida-Rümelins werden durch Beispiele von Risikoszenarien in Kultur und Film von Nathalie Weidenfeld anschaulich gemacht.??  Risiko, Autonomie oder beides? Die Coronakrise aus der Perspektive der Risikoethik?  Lockdown für alle oder Risikogruppen schützen, Masken oder künstliche Beatmung: Die Coronakrise erweist sich geradezu als Lehrstück der Risikoanalyse. Jeden Tag gilt es, neue Risiken abzuwägen. Nida-Rümelin und Weidenfeld widmen der Pandemie einen Teil ihres Buches und geben eine Antwort auf die spannende Frage: Wie viel Freiheit verträgt sich mit dem Risiko?? 

Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und Public Intellectuals. Er ist Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin und Direktor am bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation. Bis 2020 hatte er den Lehrstuhl für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München inne. Er lehrte in Tübingen, Göttingen, München und Berlin sowie als Gastprofessor in den USA, Italien und China. Er war Kulturstaatsminister in der ersten rot-grünen Bundesregierung, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates.

Julian Nida-Rümelin zählt zu den "einflussreichsten Intellektuellen Deutschlands" (Focus). Er lehrt Philosophie in München. Nathalie Weidenfeld studierte amerikanische Kulturwissenschaft. Sie ist Autorin verschiedener Romane und Sachbücher.

1 Gefahren und Wahrscheinlichkeiten


oder: »Wir waren den Risiken entkommen, die Gefahren blieben am Berg zurück«

Der Schwefelgeruch nach Steinschlag, das Dröhnen der Wasserfälle bei Gewitterregen mit Blitz und Donner, Schneefall mitten im Sommer ließen mich ahnen, wie der Eingang zur Hölle aussieht: Mitten in einer vereisten schwarzen Felswand konnte alles passieren! Als der Wolkenbruch, der über die westlichen Dolomiten niedergegangen war, aufhörte, stand die Westwand des Peitlerkofel ganz in Weiß da. Heini Holzer und ich kauerten wie verzagte Schulbuben in einer Nische zweihundert Meter unter dem Gipfel und zitterten am ganzen Körper. Schnee auf jeder Leiste, Eis in den Ritzen. Der kalte Wind von Westen schlug gegen die vereiste Felsmauer, die sich hoch über uns im schwarzen Himmel verlor. An Schussüberhängen herabtropfendes Wasser gegen unsere Körper und an den Fels, wo es sofort gefror. Blitzeis! Unsere Hoffnung, aus der Schliessler-Route, in die wir am Vormittag eingestiegen waren, herauszukommen, bevor es Nacht wurde, lag unter einem Eispanzer begraben. Und nachts konnten wir nicht klettern. Mir war klar, dass es ums Überleben ging: Wenn wir nicht hinaufkommen, erfrieren wir!

 

»Zurück?«

 

»Unmöglich!«

 

Triefend nass stand ich auf einer abschüssigen Felsleiste und sicherte, während Heini versuchte, mit steifen Bewegungen weiter voranzukommen. Als er senkrecht über mir kletterte – ständige Angst, er könne aus der Wand fallen, stürzen –, konnte ich nur staunen, wie er die Risiken meisterte. Wie nur hielt er sich am kleingriffigen Fels fest? Trotz Eis, Wasser und Schwierigkeiten. Endlich am Standplatz angekommen, rief er mir zu: »Wir müssen biwakieren!«

 

Ich stieg nach, zitternd vor Kälte und Angst. Als ich bei meinem inzwischen völlig ausgekühlten Seilpartner stand – das Warten hatte ihn zur Verzweiflung getrieben –, wusste auch er: Wenn wir biwakieren, werden wir erfrieren. […] Es war nicht allein die Angst, die mich antrieb, es war vielmehr die Hoffnung, alle Risiken hinter uns zu lassen. Es stand fest wie ein Naturgesetz: Nur oben war Rettung – ein Zurück wäre zu riskant gewesen. Nur die Hoffnung hielt uns am Fels, am Leben. Der Schnee zerrann unter klammen Fingern. Erst wenn sich der Fels unter meinen Händen rau anfühlte, konnte ich die nächste Kletterbewegung ausführen. Es war grauenvoll. Das Schmelzwasser lief an uns herab, die Schuhe flossen über. Wenn wir uns frei hätten bewegen können, aufwärtsstürmen, laufen, uns wäre rasch warm geworden. Die extremen Kletterschwierigkeiten aber ließen es nicht zu. […] In der Ferne hörten wir erneut lauten Donner. Ein zweites Unwetter drohte. Wie ein Todesurteil hingen wieder grauschwarze Wolken am Himmel über uns. Weiter! Es war der nackte Instinkt, der uns antrieb. Dazu gehörte die Hoffnung, am Leben zu bleiben. Wie oft haben wir das Risiko, obwohl freiwillig eingegangen, verflucht, jetzt zählte nur noch das Tempo! Wir setzten alles, aber auch alles ein, um vor der Dunkelheit zum Gipfel zu kommen. Beim Abstieg wurde es finster. Am Fuß unserer Wand blieben wir kurz stehen, schauten hinauf. »Wenn wir jetzt noch oben wären, wären wir nicht mehr lange«, bemerkte Heini im Weitergehen ganz nebenbei. Wir waren den Risiken entkommen, die Gefahren blieben am Berg zurück.

 

So beschreibt Reinhold Messner in seinem Buch Über Leben den riskanten Aufstieg auf den Peitlerkofel in seinen Zwanzigern. Wie er selbst zugibt, war er als junger Mann bereit, recht hohe Risiken einzugehen. Risiken so richtig wie möglich einzuschätzen, mit dem Wissen, dass man sich auch geirrt haben könnte, gehört, wie Messner es immer wieder beschrieben hat, zum täglichen Geschäft eines Alpinisten, auch wenn das Risiko, dass man dann dennoch falschliegt, bleibt: »Trotzdem kann ein Sturm mal nicht, wie erwartet, 150 Stundenkilometer, sondern 300 Stundenkilometer Windgeschwindigkeit haben. Dann wird es kritisch, da fliege ich mit dem Zelt weg.«

Auch wenn in der Realität die meisten von uns wahrscheinlich kaum je mit Blitzeis auf 2000 Meter Höhe zu kämpfen haben werden, gibt es andere Gefahrensituationen, in denen es gilt, Risiken richtig einzuschätzen, um vernünftige Entscheidungen zu treffen. Doch genau daran hapert es oft, denn woher kann ich wissen, dass meine Risikoeinschätzung richtig ist?

Die Rolle subjektiver Bewertungen


Man könnte meinen, immer dann, wenn Menschen Ängste haben, seien sie mit einem Risiko konfrontiert. Das setzt aber voraus, dass diese Ängste begründet sind. Es gibt aber auch unbegründete Ängste. Die Psychologie spricht dann von Phobien, die sich zu Krankheiten auswachsen können und Menschen daran hindern, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Eine angemessene Realitätswahrnehmung ist Voraussetzung dafür, dass Menschen ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten können oder, um ein anderes Bild zu verwenden, dass sie Autoren und Autorinnen ihres eigenen Lebens sein können. Risiken beruhen auf Tatsachen, nicht lediglich auf Vorstellungen. Risiken sind mögliche Gefahren, die sich durch Handeln beeinflussen lassen. Agoraphobie ist zum Beispiel die Angst, sich auf freien Plätzen zu bewegen. Sie ist unbegründet, da dort keine größeren Gefahren lauern. Arachnophobie ist in Deutschland irrational, weil von hiesigen Spinnen keine Gefahr ausgeht, und so weiter. Wir können Risiko als einen möglichen Schaden bestimmen. Im Idealfall kennen wir das Schadensausmaß und die Wahrscheinlichkeit, mit der die Schädigung eintreten kann. Wenn wir zum Beispiel wissen, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Ausübung einer bestimmten Risikosportart zum Tode führen kann, dann haben wir beides: die Bestimmung des möglichen Schadens (der Tod des Sportlers) und die Wahrscheinlichkeit, mit der dieser auftritt. Dazu gibt es Statistiken, auch auf die zeitliche Dauer der sportlichen Praxis bezogen.[2]

Nun gibt es allerdings Aspekte der Risikobewertung, die sich nicht oder nicht vollständig objektivieren lassen. Das gilt selbst für das scheinbar eindeutige Beispiel der Todesgefahr, die das Ausüben einer bestimmten Sportart mit sich bringt. Es gibt Menschen, die sich – nicht nur beim Sport, sondern ganz allgemein – vor dem eigenen Tod weniger fürchten als andere, ja es gibt sogar Menschen, die sich den Tod herbeiwünschen, ohne deswegen zum Suizid zu greifen. Ein prominentes Beispiel ist der Bruder von Ludwig Wittgenstein, in dessen Familie es einige Suizide gegeben hatte und der aus Todessehnsucht bewusst hohe Risiken im Ersten Weltkrieg auf sich nahm. Korrespondenzen legen nahe, dass Todessehnsucht bei vielen jüngeren Männern damals im Spiel war. Eine Haltung, die im Fin de Siècle durchaus en vogue war. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs beeindruckten japanische Kamikaze-Piloten, die unter bewusster Inkaufnahme des eigenen Todes ihre Flugzeuge in feindliche Ziele lenkten. Auch die islamistischen Selbstmordattentäter gehören in diese Kategorie. Es gibt also auch Menschen, die sich in bestimmten Situationen von der hohen Wahrscheinlichkeit oder sogar Sicherheit des eigenen Todes nicht schrecken lassen. Manche von ihnen mögen dafür moralische Motive haben, sie opfern sich selbst, so wichtig ihnen das eigene Leben auch ist, um das Leben anderer zu retten. Gefährliche Berufssparten, etwa die Feuerwehr, setzen auf diese besondere Variante individueller Risikobereitschaft.

Schon an der Bereitschaft, sein eigenes Leben zu riskieren, zeigt sich ein Aspekt der Bewertung durch das handelnde Subjekt. Wenn man die Zahl der Todesfälle kennt, die mit einer bestimmten Praxis in einer bestimmten Population einhergeht, dann kennt man in diesem fundamentaleren Sinne noch nicht das Ausmaß der Gefahr, denn als wie groß dieser Schaden empfunden wird, hängt von den Akteuren und der Kultur ab, in der sie leben. Kulturelle Praktiken, ja selbst die Standards der jeweiligen Berufsausübung lassen sich nur schwer objektivieren.

Ein vielleicht naheliegenderes Beispiel sind materielle Schäden wie etwa Geldverlust. Für Menschen, für die der Verlust von Zahlungsmitteln schon deswegen ein großer Schaden ist, weil sie sorgfältig auf jeden Euro achten müssen, um über die Runden zu kommen, ist der Schaden weit größer als für diejenigen, die mit höheren Summen auf Aktienmärkten spekulieren. Aber auch diejenigen, die materiell weniger gut gestellt sind, unterscheiden sich in hohem Maße hinsichtlich der Wertschätzung materieller Güter. Es gibt auch ärmere Menschen, denen materielle Verluste nicht viel bedeuten, dazu gehören in allen Kulturen etwa Angehörige von Bettelorden oder anderen asketischen religiösen Gemeinschaften. Eine der zentralen Figuren der Spiritualität, Gautama Buddha, selbst aus einer sehr wohlhabenden Fürstenfamilie stammend, verlässt all den Luxus, um ein spirituelles Leben in Armut zu beginnen. Ähnliche Geschichten gehören zu den Gründungsmythen der meisten Religionen, darunter auch das Christentum (der heilige Augustinus zum Beispiel). Der Wert materieller Güter und der Schaden, den ihr Verlust bedeutet, hängt daher von subjektiven Bewertungen ab. Die Monetarisierung von Schäden ist in der Versicherungswirtschaft üblich und notwendig. Auf der Homepage der Münchener Rück, eines der größten Versicherungsunternehmen weltweit, sind Aussagen zu lesen wie »Fachleute aus über 80 Fachgebieten schaffen Risikolösungen für heute und morgen«, »Wir tragen Ihre Katastrophenrisiken« oder »Wir übernehmen Ihre Spitzenrisiken«. Diese Sätze legen den trügerischen Schluss nahe, jede Art von Risiko könne umfassend errechnet und durch monetäre Kompensation kontrolliert werden.

Gesellschaftliche...


Erscheint lt. Verlag 1.4.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Corona • Coronakrise • Coronatest • Coronavirus • Ethik • Infizierte • Künstliche Beatmung • lockdown • Maske • Maskenpflicht • Mund-Nase-Bedeckung • Philosophie • Richard David Precht • Risiko • Risiko abwägen • Risikobereitschaft • Risikogesellschaft • Vernunft
ISBN-10 3-492-99897-6 / 3492998976
ISBN-13 978-3-492-99897-0 / 9783492998970
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