Hitlers Wähler (eBook)
494 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44539-7 (ISBN)
Jürgen W. Falter war von 1993 bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Innenpolitik und Empirische Politikforschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Von 2012 bis 2019 hatte er dort eine Forschungsprofessur am Institut für Politikwissenschaft inne. Seit 2001 ist er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.
Jürgen W. Falter ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Mainz. Er war dort von 1993 bis 2012 Inhaber des Lehrstuhls für Innenpolitik und Empirische Politikforschung. Seit 2001 ist er Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.
Vorwort
Als ich mich Ende der 1970er Jahre mit dem Thema dieses Buches zu beschäftigen begann, wusste ich nicht, wie wenig gesichert damals unsere Kenntnisse über die NSDAP-Wähler1 waren und welch unendliche Mühe es kosten würde, die für eine fundierte Untersuchung notwendigen Daten zusammenzutragen, in eine auswertungsfähige Form zu bringen, und welche enormen methodischen und forschungspraktischen Probleme sich auftürmen würden. Mit der Eingabe und Korrektur möglichst vieler Wahl- und Sozialdaten über die Weimarer Republik war es nicht getan. Da gab es zwischen 1920 und 1933 eine nicht abreißende Kette von Verwaltungs-, Gebiets- und Grenzreformen, die zeitraubende Anpassungen der Untersuchungseinheiten notwendig machten, um diesen Zeitraum wahlanalytisch überhaupt in den Griff zu bekommen. Auch waren wichtige Informationen nicht für die Ebene der Stadt- und Landkreise, sondern allein für jene der Finanzamts- und Arbeitsamtsbezirke oder der Dekanate verfügbar. Überdies hatte das Statistische Reichsamt auf eine Ausweisung der Wahlergebnisse von 1932 auf Gemeindeebene verzichtet, was wiederum eine Auswertung der Reichstagswahlen auf einer feineren Analyseebene als der Stadt- und Landkreise erschwerte. Dennoch war die Faszination des Gegenstandes so groß, dass es mich nach Ausflügen in andere Forschungsbereiche immer wieder zum Thema zurücktrieb und schließlich auch zur Abfassung dieser Studie motivierte.
Denn gesicherte Erkenntnisse über die Wähler des Nationalsozialismus zu gewinnen, ist auch heute noch aus mindestens zwei Gründen von Bedeutung: zum einen aus historischer »Neugier«, um zu erfahren, welchen sozialen Schichten und politischen Lagern die 17 Millionen Wähler der NSDAP entstammten und was so viele Deutsche dazu getrieben hatte, für die bis dahin unmenschlichste aller totalitären Parteien zu stimmen; zum anderen aus demokratietheoretischen Erwägungen, um Informationen über die Anfälligkeit und Resistenz bestimmter Wählergruppen gegenüber extremistischen Bewegungen und die Bedingungen politischer Stabilität und Instabilität von demokratischen Systemen in Krisenzeiten zu erlangen.
Ziel dieses Buches ist es darzustellen, wer die NSDAP wählte, wo und unter welchen Umständen sie besonders erfolgreich war und wie ihre enormen Wahlerfolge zwischen 1928 und 1933 am besten erklärt werden können. Sein Aufbau ist daher eher systematisch als chronologisch, seine Fragestellung richtet sich weniger auf eine Ablaufgeschichte der letzten Weimarer Reichstagswahlen als auf eine möglichst umfangreiche und exakte Rekonstruktion der Wählerbasis des Nationalsozialismus. Die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur und dem bisherigen Forschungsstand, die ich intensiv in vielen Aufsätzen zum Thema geleistet habe, erfolgt aus diesem Grunde nur insoweit, als sie unmittelbar diesem Erkenntnisziel dient.
Adressat ist nicht der wahlhistorische Fachmann, sondern in erster Linie der gebildete, historisch interessierte Leser. Dies bedingt eine bestimmte Darstellungs- und Argumentationsweise. Dass der Wahlhistoriker eine komplexe Realität nur unter Einsatz komplizierter Auswertungsverfahren adäquat erfassen kann, ist einleuchtend. Nur diese sind dem heutigen Forschungsstand angemessen. Um jedoch die Wählerbewegungen zur NSDAP in einer auch für »Nichtspezialisten« nachvollziehbaren Weise darzustellen, bietet das Buch in seinen Tabellen und Übersichten fast ausschließlich leicht verständliche Prozentverteilungen statt Korrelationskoeffizienten und (ebenfalls mit Prozentwerten arbeitende) Kontrastgruppenvergleiche statt multipler Regressionsanalysen. Für den wahlhistorischen Spezialisten findet sich die unumgängliche Statistik in einem gesonderten Tabellenanhang, der die Ergebnisse der multiplen Regressionsanalysen enthält. Um schließlich die Nachprüfung älterer Hypothesen und Forschungsergebnisse zu ermöglichen, ist es nötig, auch die Resultate einfacherer Zusammenhangsanalysen darzustellen. In den einzelnen Kapiteln soll daher stets vom Einfachen zum Komplexen, von der Untersuchung der Beziehung zweier Merkmale zur Analyse vielschichtiger Einflusskonstellationen geschritten werden.
Viele Resultate dürften den Leser überraschen, andere bestätigen nur längst Bekanntes. Es ist unausweichlich, dass durch Untersuchungen wie die vorliegende eine Reihe älterer Annahmen durch angemessenere Auswertungsverfahren und Daten lediglich untermauert wird, so die Erkenntnis, dass vom Katholizismus oder dem sozialistischen Arbeitermilieu gegenüber der »Ansteckung« durch den Nationalsozialismus eine gleichsam immunisierende Wirkung ausging. Andere werden modifiziert. Dies gilt etwa für die vielfach unterstellte überdurchschnittliche Affinität von Frauen, Nichtwählern oder Landbewohnern zur NSDAP oder auch die gerne übersehene Tendenz eines nicht unbedeutenden Anteils von SPD-Wählern, den Nationalsozialisten die Stimme zu geben. Wieder andere werden als Legenden entlarvt. Das trifft beispielsweise für die gängigen Annahmen über die NSDAP-Anfälligkeit von Arbeitern und Angestellten zu, ferner für die vielfach unterstellte Neigung von Arbeitslosen, mehrheitlich für die NSDAP zu stimmen. Dass einige Ergebnisse in scheinbar abgeschwächter Schreibweise dargestellt werden, beruht nicht auf einer allgemeinen Unsicherheit gegenüber diesen Forschungsresultaten. Es wird vielmehr von mir als bewusstes Stilmittel benutzt, um auf Erkenntnisse hinzuweisen, die wegen der methodischen Eigentümlichkeiten der wahlhistorischen Forschung nicht über jeden Zweifel erhaben sein können. Das gilt insbesondere für die Schätzung individuellen Wählerverhaltens aus Daten, die nur für territorial definierte Untersuchungseinheiten zur Verfügung stehen.
Manche als gesicherte Wahrheit gehandelte Hypothese gerät durch die vorgestellten Untersuchungsergebnisse ins Wanken, manche gern gepflegten Narrative und manche wissenschaftlichen oder volkspädagogischen Vorurteile werden erschüttert. Die NSDAP erweist sich so keineswegs als die reine Mittelschichtbewegung, als die sie fast ein halbes Jahrhundert lang gehandelt wurde. Vielmehr repräsentiert sie – stärker als jede andere große Partei jener Jahre – von ihrer Wählerbasis her gesehen eine Art »Volkspartei des Protests« oder, wie man angesichts des relativen Übergewichts vor allem der evangelischen Selbständigen unter ihren Wählern plakativ formulieren könnte, eine »Volkspartei mit Mittelstandsbauch«.2
Neben der Kontrolle der gängigen Annahmen und Theorien über die Wählerbasis des Nationalsozialismus wird auch Aspekten nachgegangen, die bislang von der historischen Wahlforschung noch nicht systematisch untersucht worden sind. Dazu gehören etwa die Einbindung der Volksentscheide und der Reichspräsidentenwahlen, der Verschuldung des Mittelstandes und der Wahlsystemfrage in die Ursachenkette der nationalsozialistischen Wahlerfolge. Ferner werden erstmals einige Hypothesen überprüft, die vor allem von Richard Hamilton als Alternativen zur »klassischen« Mittelschichttheorie entwickelt worden waren. Hierzu zählen (a) die von einem »rechten« Presseklima auf die NSDAP-Erfolge ausgehenden Effekte, (b) der Einfluss der Organisationsentwicklung der Partei, dem durch die Verbindung von Wahl- und Mitgliedschaftsdaten nachgegangen wird, und (c) die Wirkung lokaler und regionaler politischer Traditionen. Vor allem letztere scheinen für den Wahlerfolg der NSDAP von beträchtlicher Bedeutung gewesen zu sein. Dies legt es nahe, die künftige Forschung – nun aber systematisch koordiniert und theoretisch angeleitet – wieder stärker auf die lokalen und regionalen Bedingungen des nationalsozialistischen Aufstiegs auszurichten.
Natürlich kann eine Untersuchung wie die vorliegende nicht ohne vielfache Unterstützung durchgeführt und niedergeschrieben werden. Mein Dank gilt zuallererst den Mitarbeitern und wissenschaftlichen Weggefährten der damaligen Jahre. Besonders nennen möchte ich Hartmut Bömermann, Dirk Hänisch, Andreas Link, Jan-Bernd Lohmöller, Johann de Rijke, Torsten Schneider, Jürgen Winkler und Rainer Zitelmann sowie Manuela Dörnenburg, Bettina Husemann und Achim von Malotki. Sie alle haben in den Jahren vor dem erstmaligen Erscheinen von Hitlers Wähler entweder am NS-Projekt, das von der Stiftung Volkswagenwerk und der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziell gefördert wurde, mitgearbeitet oder, als Beschäftigte an meinem damaligen Berliner Lehrstuhl, mich bei meinen Forschungen durch Rat, Tat und Kritik unterstützt. Ohne sie wäre das Buch in der vorliegenden Form vermutlich nicht fertig geworden. Mein Dank gilt ferner der Stiftung Volkswagenwerk und der Freien Universität Berlin, die mir durch die Gewährung eines großzügigen Akademiestipendiums und zweier regulärer Forschungssemester den nötigen...
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2020 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 |
Schlagworte | Adolf Hitler • Deutschland • Drittes Reich • Nationalsozialismus • NSDAP • Österreich • Reichspräsidentenwahlen • Reichstagswahl • Wahl • Wahlen • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-593-44539-5 / 3593445395 |
ISBN-13 | 978-3-593-44539-7 / 9783593445397 |
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Größe: 5,5 MB
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