12 Tage und ein halbes Jahrhundert (eBook)
687 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75570-5 (ISBN)
Versailles, 18. Januar 1871: Im Spiegelsaal des berühmten Schlosses der französischen Könige wird das deutsche Kaiserreich ausgerufen. Seine Entwicklung war geprägt von immenser wirtschaftlicher Dynamik bei weitgehendem politischem Stillstand, demokratischen Lernprozessen und autoritärer Verkrustung, bahnbrechenden Sozialreformen und heftigsten sozialen Konflikten. In zwölf Kapiteln, die jeweils von den Ereignissen eines bestimmten Tages ausgehen, beleuchtet Christoph Nonn diese faszinierend bunte Epoche und lässt die Menschen lebendig werden, die sie gestalteten und durchlebten. So etwa der Künstler Anton von Werner, der die Kaiserproklamation gleich mehrfach malte, Julie Bebel, die selbstbewusst in der Politik wie in der gemeinsamen Drechslerwerkstatt an die Stelle ihres Manns August trat, wenn der wieder einmal im Gefängnis saß, oder der Schuster Wilhelm Voigt, der als «Hauptmann von Köpenick» eine Stadt zum Narren hielt und damit eine Nation zum Lachen brachte.
Christoph Nonn lehrt Neueste Geschichte an der Heinrich- Heine-Universität Düsseldorf.
MARPINGEN, 3. JULI 1876
Margaretha Kunz (sitzend links), Susanna Leist (sitzend rechts) und Katharina Hubertus (stehend) 1876
Gretchen Kunz sieht die Muttergottes
Es war ein heißer Tag, aber im kühlenden Schatten der Bäume ließ es sich aushalten. Unten im Tal schwitzten die Kuhbauern bei der Heuernte. Wer von den Dorfbewohnern kräftig genug dazu war, schwang eine Sichel. Die anderen sammelten das geschnittene Heu oder versorgten die Tiere. Anfang Juli wurde jede Arbeitskraft gebraucht in Marpingen, einem Dorf dreißig Kilometer nördlich von Saarbrücken. Nur die Kinder, die zu klein waren, um bei der Arbeit zu helfen, schickte man in den oberhalb des Dorfes gelegenen Härtelwald. Dort sollten sie Heidelbeeren sammeln.
Auf der Suche nach Beeren streiften am späten Nachmittag des 3. Juli drei acht Jahre alte Mädchen durch den Härtelwald. Susanna Leist, Katharina Hubertus und Margaretha Kunz, genannt Gretchen, waren Freundinnen. Die drei hatten einander beim Beerensammeln aus den Augen verloren, als Glockengeläut sie aufschreckte: das abendliche Angelusläuten, das der Westwind von der Dorfkirche aus in den Wald hinaufwehte. Höchste Zeit, nach Hause zu kommen. Eilig griffen die drei ihre Körbe mit den gepflückten Heidelbeeren und machten sich auf den Heimweg.
Zwischen Marpingen und dem Härtelwald lag eine Wiese mit hochaufgeschossenem Gras und Wildblumen, umwuchert von dichten Büschen. Hinter dem Tal stand die Sonne schon tief am Abendhimmel und schien den Mädchen ins Gesicht, als sie getrennt voneinander aus dem Wald traten. Immer noch begleitet vom Läuten der Glocken aus dem Dorf, machten sie sich daran, die verwilderte Wiese zu durchqueren. Da durchbrach ein lauter Ruf von Susanna das Glockengeläut. Gretchen und Katharina liefen zu der Freundin.
Als die drei einige Minuten später vor Susanna Leists Elternhaus eine Gruppe von Dorfbewohnern trafen, wirkten sie verängstigt und aufgeregt. «Wir mussten schrecklich ausgesehen haben», erinnerte Gretchen sich später. Die Kinder erzählten, zuerst Susanna und dann auch die beiden anderen hätten eine in Weiß gekleidete weibliche Gestalt gesehen, die ein Kind auf dem Arm trug. Susanna war so aufgeregt, dass sie nicht ins Bett gehen wollte. Gretchen betete viel und schlief schlecht. Katharina träumte von der weiß gekleideten Frau.
Die Aussagen über die ersten Reaktionen der erwachsenen Zuhörer auf die Geschichte der Mädchen sind widersprüchlich. In späteren Verhören unterstellten preußische Staatsbeamte den Eltern, sie hätten ihre Kinder angeregt, die Vision von der Frau in Weiß auszuschmücken, wenn nicht diese den drei ganz eingeflüstert, und damit ungesetzliche «Zusammenrottungen» der Marpinger Dorfbevölkerung provoziert. Dass die Eltern bestritten, sich auf diese Weise strafbar gemacht zu haben, ist wenig überraschend. Gretchens verwitwete Mutter und Susannas Vater erklärten in den Verhören, die Geschichte von der Erscheinung der weiß gekleideten Frau anfänglich für «dummes Zeug» gehalten zu haben. Die Eltern von Katharina sagten ebenfalls aus, sie hätten ihrer Tochter das Erzählen solcher «Märchen» zunächst verboten.
Andere Quellen zeichnen jedoch ein abweichendes Bild. Gretchen Kunz widersprach in einer späteren Erklärung den Angaben der Erwachsenen deutlich: «Anstatt uns zu beruhigen, glaubte man sofort.» Insbesondere Susanna Leists Mutter tat danach noch mehr als das. Frau Leist gehörte zu der Gruppe von Dorfbewohnern, die den drei Kindern vor Susannas Elternhaus am Abend des 3. Juli zuerst begegneten. Gretchen zufolge soll sie den Mädchen, nachdem diese von der weiß gekleideten Frau mit dem Kind erzählt hatten, dort gesagt haben: «Geht morgen wieder in den Wald, betet, und wenn ihr sie dann wieder seht, fragt wer sie sei. Gibt sie euch die Antwort: Ich bin die unbefleckt Empfangene, dann ist es die Muttergottes.»[1]
Am nächsten Tag taten die drei Mädchen genau das. Sie kehrten zurück an die Stelle, wo ihnen die Vision angeblich erschienen war. Diesmal folgten ihnen zwanzig andere Kinder, darunter Geschwister der drei. Sechs Erwachsene begleiteten die Mädchen ebenfalls. Einige davon, unter ihnen auch der einzige Mann in der Gruppe, waren mit Susanna Leists Mutter verwandt, eine Frau mit Katharina Hubertus. Die Mädchen knieten nieder und beteten dreimal das Vaterunser. Nach dem dritten Mal erschien die Frau in Weiß Gretchen und Katharina erneut. Von diesen befragt, wer sie sei, erklärte die Erscheinung: «Ich bin die unbefleckt Empfangene.» Auf die Frage der beiden Mädchen, was sie wünsche, bat die Vision um eine Fortsetzung der Gebete. Dann verschwand sie.[2]
Während Gretchen und Katharina mit der Erscheinung der Muttergottes sprachen, blieb die ursprüngliche Seherin, Susanna Leist, stumm. Den Begleitern sagte Susanna, sie habe weder etwas gesehen noch gehört. Erst Wochen später berichtete auch sie wieder von Visionen. Das änderte allerdings nichts mehr daran, dass Gretchen seit dem 4. Juli als die Sprecherin der drei wahrgenommen wurde.
Auf dem einzigen zeitgenössischen Foto, das die drei Mädchen zusammen zeigt, dominiert Gretchen die Gruppe. Sie erscheint größer und kräftiger als die anderen beiden. Susanna lehnt sich auf dem Bild an sie an, Katharina stützt sich auf ihren Schultern ab. Gretchen, die auf dem Foto als einziges der Mädchen ein Buch in Händen hält, erschien den Dorfbewohnern und anderen Zeitgenossen auch als die intelligenteste der drei. Ein katholischer Publizist, der Marpingen besuchte, fand sie «im Allgemeinen mehr entwickelt, als die zwei Andern». Die Dorfschullehrerin hielt sie für «sehr geweckt». Susanna sei dagegen nur durchschnittlich intelligent, Katharina für ihr Alter geistig zurückgeblieben. Ein Pädagoge aus Saarbrücken, in dessen Obhut die drei Mädchen im Herbst 1876 vorübergehend kamen, hatte den Eindruck, Gretchen Kunz sei «geweckter als die andern, und scheint sie zu beeinflussen».[3]
Am 5. Juli, dem dritten Tag der Visionen, fand sich aus dem Dorf am Rande des Härtelwaldes auch Gretchens Mutter ein, die nach dem späteren Zeugnis ihrer Tochter zunächst tatsächlich skeptisch gewesen war. Dazu kamen schon nachmittags wieder Dutzende Zuschauer, darunter die Eltern von Katharina Hubertus. Bis zum Abend wuchs die Menge auf über hundert Personen an. Unter ihnen fanden sich erstmals auch einige der männlichen Honoratioren des Dorfes.
Diesmal wagten es die Anwesenden, über die beiden Mädchen Fragen an die Muttergottes zu stellen. Schließlich wollte jemand wissen, ob Kranke herbeigerufen werden sollten. Auf die bejahende Antwort wurde ein Schwager von Katharinas Vater geholt, ein Veteran des deutsch-französischen Krieges von 1870/71, der über Rheumatismus klagte. Auf die Bitte des Mannes führten die Mädchen seine Hand an die Stelle, wo sich nach ihren Angaben der Fuß der Muttergottes befand. Der Mann fühlte sich daraufhin geheilt: Das Rheuma sei auf wunderbare Weise verschwunden. Auch eine Schwester Katharinas behauptete, seit langem anhaltende Schmerzen in ihrem Fuß auf einmal nicht mehr zu verspüren.
Die Nachricht von den wundersamen Heilungen machte einem Lauffeuer gleich die Runde durch das ganze Dorf. Am darauffolgenden Morgen des 6. Juli erschien Marpingen einem zeitgenössischen Beobachter wie ein vor Aufregung brummender Bienenstock, der «schwärmen will». Tatsächlich schwärmten im Lauf des Tages Hunderte Dorfbewohner in Richtung Härtelwald aus. Ihre hochgesteckten Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Am Abend behaupteten zwei Kinder, ein sieben Jahre altes schwindsüchtiges Mädchen und ein über Rückenschmerzen klagender vierjähriger Junge, ebenfalls durch eine Berührung der Muttergottes plötzlich geheilt zu sein. Der Vierjährige erklärte sogar, die «unbefleckt Empfangene» gesehen zu haben. Doch das ging in den sich nun überstürzenden Ereignissen unter. Ein 17 Jahre altes Mädchen rief, sie könne die Erscheinung auch sehen, und wurde ohnmächtig. Vier ältere Männer beanspruchten für sich das Gleiche: Die Muttergottes, sagten sie, strahle «wie das grelle Licht der Mittagssonne» und trage ein Diadem mit Edelsteinen, die «schimmerten wie Sterne». Bis Mitternacht beteten die Anwesenden am Waldrand voller Eifer. Am nächsten Morgen errichteten Dorfbewohner an der Stelle ein Kreuz mit der Aufschrift: «Hier ist der Ort.»[4]
In Marpingen gab es jetzt kaum noch jemanden, der Zweifel an der Echtheit der Erscheinungen hegte – oder jedenfalls kaum jemanden, der sich öffentlich zu solchen Zweifeln bekannt hätte. Nicht nur der Glaube an die Visionen, auch diese selbst...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | 1871 • 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Deutschland • Geschichte • Kaiserproklamation • Kaiserreich • Nationalstaat • Politik • Reichsgründung • Sachbuch • Sozialreform • Versailles |
ISBN-10 | 3-406-75570-4 / 3406755704 |
ISBN-13 | 978-3-406-75570-5 / 9783406755705 |
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