Kurswechsel im Kopf (eBook)
496 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86552-6 (ISBN)
Prof. Dr. Steven C. Hayes, geb. 1948, ist Professor für Psychologie an der University of Nevada in Reno. Er blickt auf über 35 Jahre Forschung in der Psychologie zurück. Mit mehr als 45 Büchern und 625 veröffentlichten Fachartikeln zählt er zu den einflussreichsten Psychologen der Welt. Er ist der Vater der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) und wichtiger Impulsgeber für die Prozessorientierte Therapie.
Kapitel zwei
Der innere Diktator
Die Entwicklung der ACT nahm Fahrt auf, nachdem ich mitten in einer grauenvollen Nacht am Tiefpunkt meines Kampfes gegen die Panikattacken angekommen war. Viele Menschen mit Angststörungen, Suchterkrankungen, Depressionen und anderen psychischen Problemen kennen Aspekte dieser Erfahrung. Ich erzähle diese Geschichte nicht nur, weil sie zeigt, wie beeinträchtigend das psychisch starre Vermeidungsverhalten werden kann, sondern weil ich in jener Nacht auch einige wichtige Schritte auf dem Weg der Genesung machte. Ich vollzog drei der sechs Kursänderungen, obwohl mir das erst später bewusst wurde, als ich die Ereignisse Revue passieren ließ und zu ergründen versuchte, was an diesem Tiefpunkt mit mir geschehen war. Die Geschichte verdeutlicht, wie sich eine Kursänderung anfühlt, wie schnell wir sie vollziehen können – oft mehrere gleichzeitig – und wie die Überzeugung entsteht, dass wir jederzeit fähig sind, neue Wege im Leben einzuschlagen. Meine Erfahrung in besagter Nacht führte zu der Überzeugung, dass die Psychologie nach neuen Methoden Ausschau halten musste, um Menschen beizubringen, wie sie, ohne auf Grund zu laufen, Kursänderungen bewerkstelligen und sich aus eigener Kraft aus ihrer misslichen Situation befreien können, um ein gesundes, erfüllendes Leben zu führen.
Die Studien, die ich mit meinem Team in den Jahren nach dieser furchtbaren, aber lebensverändernden Nacht durchführte, bestätigten die Kernhypothese, die das Herzstück der ACT bildet: Dass nicht die Veränderung des Inhalts von Gedanken und Gefühlen den Schlüssel zur Heilung und zur Entdeckung unseres wahren Potenzials darstellt, sondern die Veränderung der Art und Weise, wie wir auf solche Reize reagieren. Wären meine persönlichen Erfahrungen in jener Nacht nicht gewesen, hätte ich vermutlich länger gebraucht, um die Zusammenhänge so umfassend zu erkennen. Denn damals steckte ich noch in der Affenfalle fest.
Vor Erfahrungen davonlaufen
Meine Ängste wurden immer intensiver. Der schwelende Groll in meiner Abteilung, der bei mir erste Panikattacken ausgelöst hatte, hatte sich zu einem ausgewachsenen Bürgerkrieg ausgeweitet, den meine Kollegen auf eine Weise austrugen, zu der nur Tiere in freier Wildbahn und wild gewordene Lehrstuhlinhaber fähig sind. Der Stress wurde noch durch meine bevorstehende Scheidung erhöht, die kurz vor meiner ersten Panikattacke in die Wege geleitet worden war und sich nun in der Endphase befand. Obwohl es nach außen hin den Anschein hatte, als hätte ich mein Berufs- und Arbeitsleben im Griff, war die Panik allmählich zum zentralen Dreh- und Angelpunkt meines Daseins geworden.
Ich bemühte mich, mithilfe aller nur erdenklichen Methoden Kontrolle über die Panikattacken zu bekommen, ohne zu erkennen, dass sie alle auf derselben Fehlannahme beruhten: All diese Strategien sollten dazu dienen, meinen Ängsten zu entkommen, sie zu vermeiden oder zumindest zu mildern. Ich wollte dieses Ziel um jeden Preis erreichen, gleich ob durch situative, chemische, kognitive, emotionale oder verhaltenstechnische Interventionen. Zu den spezifischen Taktiken, die zu nutzen ich für zweckmäßig hielt, gehörten:
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Der Versuch, mich bewusst Situationen auszusetzen, die Angst auslösen, weil sie dadurch angeblich schwindet.
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Entspannungstechniken lernen und praktizieren.
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Der Versuch, rationaler zu denken.
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In Nähe der Tür Platz nehmen, um den Raum schneller verlassen zu können.
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Sich vor Besprechungen nicht abhetzen – um zu verhindern, dass die Herzfrequenz steigt.
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Für den Notfall immer eine Entschuldigung parat haben, um mich der Situation zu entziehen.
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Den Puls unmerklich überprüfen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist.
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Ein Bier zum Abschalten trinken.
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Witze machen.
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Sich gründlicher vorbereiten als nötig.
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Vorlesungen aus dem Weg gehen – den graduierten Studenten überlassen.
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Beruhigungsmittel einnehmen.
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Während einer Vorlesung einen Freund im Blickfeld haben.
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Sich mit Entspannungsmusik ablenken.
Viele dieser Strategien waren kurzfristig harmlos – es war nichts dagegen einzuwenden, Witze zu machen, sich zu entspannen oder mithilfe eines Biers abzuschalten. Einige, beispielsweise der Versuch, rationaler zu denken oder mich den Angst auslösenden Situationen bewusst auszusetzen, hätten sogar hilfreich sein können – unter anderen Umständen. Das Problem war, dass die grundlegende Botschaft, die mir mein Verstand übermittelte, toxisch war: Angst ist ein Gegner, den ich bekämpfen muss. Ich musste ständig auf der Hut vor ihr sein, sie in den Griff bekommen, sie unterdrücken. Meine Angst wurde zur primären Ursache der Angst.
Als ich meine Angst als Todfeind betrachtete, nahmen die Intensität und die Häufigkeit meiner Panikattacken zu. Einmal überkam es mich während einer Laborbesprechung so stark, dass ich Hals über Kopf den Raum verließ, ohne Erklärung. Eine Panikattacke während eines Fluges zu einer Tagung veranlasste mich, den Sitzplatz mehrmals zu wechseln, damit meine Freunde nichts merkten. In einem Kaufhaus hatte ich eine so schlimme Panikattacke, dass ich nicht mal mehr den Ausgang fand. Ich hockte mich hinter einem Bettdeckenstapel auf den Boden und ließ meinen Tränen freien Lauf. In meinen Seminaren beraumte ich Filme statt Vorlesungen an, doch selbst dann brach die Angst mit solcher Wucht über mich herein, dass es mir kaum gelang, den Film in den Projektor einzulegen. Schon bald gab es keine Situation mehr, in der mich sicher fühlte. Nach zwei Jahren waren 80 bis 90 Prozent meines Wachzustands auf den verzweifelten Versuch fixiert, nicht in Panik zu geraten. Nach außen hin lächelte und lachte ich, wirkte völlig normal, vielleicht ein wenig in mich gekehrt oder gedankenverloren. Innerlich suchte ich meinen mentalen Horizont fortwährend nach Anzeichen einer bevorstehenden Attacke ab.
Ich glich einem Tierpfleger, der ein Tigerbaby aufzieht, das ihm schon einmal in den Fuß gebissen hatte, als es Hunger verspürte; meine Reaktion war, es zu besänftigen, indem ich es mit Fleischbrocken fütterte. Das klappte eine Weile recht gut, aber mit jedem Tag wurde der Tiger größer und stärker, brauchte mehr Nahrung, um Ruhe zu geben. Das Futter, das ich ihm vorwarf, waren Teile meiner Freiheit, meines Lebens. Während der Tiger wuchs, richtete sich meine Aufmerksamkeit zunehmend auf die Planung von Maßnahmen, die ich ergreifen könnte, wenn eine Panikattacke einsetzte. Eine Sisyphusarbeit. Am Ende stellte nicht einmal mehr mein Zuhause ein Refugium dar, bot der Schlaf mir keine Zuflucht. Ich wachte mitten in der Nacht völlig panisch auf – ein augenfälliger Beleg dafür, dass sich unsere starren, auf Ausweichmanöver fixierten Denkprozesse verselbstständigen. Ich musste nicht einmal hellwach sein, um mich mit einem externen Auslösereiz konfrontiert zu sehen, der den mentalen Teufelskreis in Gang setzte.
Ich befand mich vollständig im eisernen Griff des inneren Diktators. Die Stimme in meinem Kopf riet mir immer dringlicher, mein Angstgefühl entweder zu meiden oder zu besiegen. Wir kennen alle diese innere Stimme, die uns mit Kritik überhäuft, tyrannisiert. Man könnte sie als inneren Berater, Richter oder Kritiker betrachten. Wenn wir lernen, sie zu bändigen, kann sie durchaus nützlich sein. Doch wenn wir ihr freien Lauf lassen, verdient sie den Namen »Diktator«, weil sie nach uneingeschränkter Macht strebt. Genau wie ein Diktator aus Fleisch und Blut kann sie uns in ihren Bann ziehen, indem sie uns...
Erscheint lt. Verlag | 19.8.2020 |
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Übersetzer | Ursula Bischoff |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
ISBN-10 | 3-407-86552-X / 340786552X |
ISBN-13 | 978-3-407-86552-6 / 9783407865526 |
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