Du bist schuld! (Leben Lernen, Bd. 315) (eBook)
182 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12056-1 (ISBN)
Wolfgang Schmidbauer, Dr. phil., Psychoanalytiker, Psychotherapeut für Einzel- und Paartherapie, lebt in München und Dießen am Ammersee und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Neben Fach- und Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, ist er auch Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften. Er ist Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.
Wolfgang Schmidbauer, Dr. phil., Psychoanalytiker, Psychotherapeut für Einzel- und Paartherapie, lebt in München und Dießen am Ammersee und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Neben Fach- und Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, ist er auch Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften. Er ist Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.
Kapitel 3
Du schließt mich aus deinem Leben aus!
Zu Beginn ihrer Liebschaft waren Max und Anna damit beschäftigt, sich aus Beziehungen zu befreien, die nicht mehr funktionierten. Zum Teil wuchs daran sogar ihre Verbindung, denn sowohl Max als auch Anna waren enttäuscht, dass sich ihre bisherigen Partner so wenig für Sex interessiert und keinerlei Initiative entfaltet hatten. So waren die beiden füreinander etwas wie erotische Erlöser und entsprechend begeistert von ihrer Beziehung.
Jetzt sind sie zusammengezogen. Anna hat auf ihrem PC Porno-Dateien gefunden. Sie können nicht von ihr, sie müssen von Max sein, der manchmal ihr Gerät nutzt, das den besseren Bildschirm hat. »Warum hast du nicht mit mir gesprochen? Ich dachte, seit wir zusammen sind, brauchst du keine Geheimfrauen mehr!«, sagt sie wütend. »Das ist etwas ganz anderes«, wehrt sich Max. Er will nicht darüber reden, warum er sich das alleine anschauen möchte.
Anna wirft Max vor, dass er mit ihr nicht über alle seine Wünsche gesprochen hat. Für sie ist die Nähe der neuen Liebe mit dem Wunsch identisch, alles zu besprechen, keine Geheimnisse zu haben. Ihr Vorwurf signalisiert, dass sie einen Makel in dieser Verschmelzung entdeckt hat. Er stört sie, weil er sie ängstigt. Sie würde angesichts der neu gewonnenen sexuellen Intensität gar nicht auf die Idee kommen, an einen anderen Mann zu denken. Max hingegen beschäftigt sich mit anderen Frauen, schaut Bilder an, genießt die Erregung, befriedigt sich und schließt sie aus.
Der Partner sollte so sein, dass mich nichts an ihm unangenehm überrascht. Er sollte (nur) tun, was ich erwarten kann. In dieser Sehnsucht wurzelt ein Teufelskreis, der neue Vorwürfe aus den alten generiert. Denn da Vorwürfe uns blockieren, die Realität eines Gegenübers zu erkennen, hindern sie uns auch daran, uns genauer auf diesen Menschen einzustellen, realistische Erwartungen zu entwickeln, nicht immer wieder Ansprüchen zu folgen, die erneut enttäuscht werden.
Die Wiederholung des eigenen Irrtums kann zum Stoff für eine Steigerung des Vorwurfs werden: Jetzt habe ich dir schon so oft gesagt, dass mich diese Heimlichtuerei kränkt, und du hast immer noch nicht damit aufgehört! Aus der Verzerrung, welche den ersten Vorwurf ausgelöst hat, wächst eine zweite, weil der erste Vorwurf das Gegenüber nicht zu verändern vermochte. Wenn dann noch Gegenvorwürfe dazukommen: »Du willst mich kontrollieren, du verdirbst mir eine Freude, die doch nichts mit dir zu tun hat«, kesselt sich das Liebespaar bald in einer Vorwurfswelt ein und schneidet sich von angemessener Versorgung mit Anerkennung und Zärtlichkeit ab.
Die Fähigkeit, auch im Schatten unerledigter, nicht geklärter, nicht ausgeräumter Vorwürfe (und damit Unterschiedlichkeiten) zärtlich zu sein und Sex zu genießen, ist als Bindemittel in menschlichen Paaren fast unersetzlich. Liebespaare finden wortlos zueinander. Vorwurfspaare leben oft unbewusst in einer Sprachwelt, die in den Kämpfen der Mutter gegen die kindliche Unbefangenheit wurzelt. Dadurch entstehen gute und schlechte Körperteile und Körperzustände. Die sprechende Mutter bedroht den stummen Genuss.
Max kann nicht mit Anna über seine Porno-Seite sprechen, solange er ihr Bild nicht von dem der strengen Mutter unterscheiden kann, die ihn zur Sauberkeit erzieht. Anna läuft Gefahr, bei Max Erinnerungen an eine Mama zu wecken, die den Kindern verbietet, außerhalb der Mahlzeiten zu essen. Erst wenn er ihr glaubt, dass sie anders ist, wird er mit ihr über seine geheimeren Wünsche reden.
Als sie sich kennenlernten, lebten Achim und Marga in verschiedenen Wohngemeinschaften. Als bei Achim ein Zimmer frei wurde, zog Marga zu ihm in seine Vierer-WG. Solange sie studierten, fanden sie das beide sehr praktisch. Jetzt wollen sie in etwas Eigenes ziehen, die Eltern zahlen einen Zuschuss, sie finden eine günstige Eigentumswohnung mit drei Zimmern, Küche und Bad. Achim will alle Räume mit Marga teilen – Schlafzimmer, Wohnzimmer, ein gemeinsames Arbeitszimmer, aus dem später vielleicht ein Kinderzimmer wird. Marga besteht auf einem eigenen Raum, der nur ihr gehört. Sie braucht es einfach, eine Tür hinter sich zu schließen, sagt sie. Achim findet das abweisend, ja fast lieblos. »Wenn du so viel Druck machst, nimmst du mir die Luft«, sagt Marga.
Es gibt animalische und vegetative Naturen, Menschen, die von ihresgleichen gar nicht genug haben können, und andere, die besser gedeihen, wenn sie sich zurückziehen dürfen. Sie finden nur in einem geschützten Raum zu ihren Bedürfnissen und fühlen sich manchmal schon durch die Anwesenheit eines anderen bedrängt. Je mehr dieser Wunsch respektiert wird, desto leichter wird Marga auf Achim zugehen können.
Der Einwand liegt nahe, dass sich doch auch Marga an Achim anpassen könnte. Er scheint mir so logisch wie das Abschaffen von Gartenzäunen, um dem Salatkopf die gleiche Freiheit zu schenken wie der Ziege.
Durch einen sich wechselseitig stimulierenden Zyklus von Vorwürfen kann eine Situation entstehen, in der die Beteiligten gefangen sind. Weil Marga behauptet, ihren Raum für sich, ihre Ruhe, ihren Abstand dringend zu benötigen, fühlt sich Achim draußen stehen gelassen und drängt auf mehr Nähe. »Ich würde dich niemals so bedrängen, wenn du dich nicht so zurückziehen würdest«, steht dann gegen den Vorwurf: »Ich würde mich nie so zurückziehen, wenn du mich nicht so bedrängen würdest!«
Der Vergleich mit dem Zaun, dem Salatkopf und der Ziege ist nicht unparteiisch. Er schreibt der Pflanze die schützenswerte Unschuld zu, dem Tier die aggressive Gefräßigkeit. Ist das eine Parteinahme zugunsten des Schwächeren? Das ist schwer zu sagen. Natürlich ist es dem Salat nicht möglich, sich einen Happen Ziege zu holen, aber warum soll es nicht möglich sein, dass Marga von Achim lernt, sich mehr Nähe zu wünschen, Achim von Marga, Distanz besser zu ertragen?
Die paaranalytische Erfahrung zeigt, dass es ganz und gar nicht einfach ist, solchen Teufelskreisen zu entrinnen. Das hängt damit zusammen, dass das Verhalten der Beteiligten auf einem existenziellen Gefühl beruht: der Angst. Menschen unterscheiden sich sehr in ihren Fähigkeiten, Ängste zu zähmen und so mit ihnen umzugehen, dass sie ihr Leben nicht behindern, sondern fördern. Fast jeder Schauspieler oder Sänger weiß, dass eine milde Angstspannung vor dem Auftritt die Qualität seiner Leistung steigert. Wer alle Ängste verdrängt, ist schlecht für das Leben gerüstet, ähnlich einem Menschen, dem die Fähigkeit fehlt, Schmerz zu empfinden.
Marga empfindet einen Raum als angstlindernd, in den niemand eindringen und Forderungen an sie stellen kann. Achim hingegen fürchtet sich vor dem Verlust seiner Geliebten und kann nicht genug davon haben, sich ihrer Anwesenheit zu versichern. Vermutlich sexualisiert er einen Teil dieser Bedürfnisse und fühlt sich in möglichst enger Umschlingung besonders wohl.
Beide Verhaltensweisen, die Suche nach zärtlichem Körperkontakt und den Wunsch nach sicherem Abstand, können wir in den frühen Beziehungen von Kindern beobachten. Wie sich diese Kinder zwischen den Polen von Nähesuche und Näheangst entwickeln, hängt von Identifizierungen ab, die ihr Erleben gestalten. Diese Entwürfe werden im erwachsenen Leben vom urteilenden Ich des Erwachsenen noch einmal bearbeitet und anhand der Erfahrungen in Liebesbeziehungen modifiziert.
Um die Erfahrungen der Kindheit neu zu gestalten, reicht die rationale Erkenntnis nicht aus. Marga kann durchaus erkennen, dass sie Achim kränkt, obwohl sie ihn nicht kränken will, wenn sie seine Nähe als zudringlich empfindet. Achim kann intellektuell einsehen, dass es klüger wäre, Marga nicht zu bedrängen. Aber die frühen Prägungen sind sehr mächtig, und sie passen hier nun einmal nicht zusammen.
Marga hat Abstand als sicher und Nähe als überwältigend erlebt; Achim Abstand als Kälte und Einsamkeit, Nähe als Trost. Die romantische Liebe mit ihrer Idealisierung des Liebesobjekts ist die beste Chance, solche frühen Bilder zu korrigieren, die unsere Gefühle und Wahrnehmungen prägten. Verliebte lernen in einer Geschwindigkeit Tiefe und Intensität voneinander, die unvergleichlich ist. Aber wir dürfen diese Möglichkeiten einer Korrektur nicht überschätzen.
Wenn Marga und Achim den jetzt eingeschlagenen Teufelskreis nicht verlassen können, wird dieser Lernprozess gestört. Marga wird resigniert feststellen, dass Männer Grenzen einfach nicht respektieren. Und Achim wird zu dem Schluss kommen, dass ihn keine Frau wirklich liebt. ...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2020 |
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Reihe/Serie | Hilfe aus eigener Kraft |
Leben lernen | |
Leben Lernen | Leben Lernen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Allgemeine Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Analyse • Fallgeschichten • Liebesbeziehung • Paarberatung • Paartherapie • Schuldzuweisung |
ISBN-10 | 3-608-12056-4 / 3608120564 |
ISBN-13 | 978-3-608-12056-1 / 9783608120561 |
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