(un)documented (eBook)
210 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-069286-0 (ISBN)
Inhaltlich wird neben der theoretischen Annäherung an eine fächerübergreifende Terminologie der Umgang mit unterschiedlichsten Dokumenttypen und die Berücksichtigung dokumentspezifischer Phänomene in der Edition im analogen und digitalen Medium diskutiert. Dabei werden Inschriften, Handschriften, Drucke und auch Tonträger besprochen.
Somit ist der vorliegende Band für ein breites philologisches und kulturwissenschaftliches Fachpublikum mit theoretischem und praktischem editorischen Interesse relevant.
Johnny Kondrup
Materialtext und Textur
Während Uneinigkeit darüber besteht, wie die Phänomene „Text“ und „Werk“ zu verstehen sind, herrscht ein breiter Konsens über den Dokumentbegriff. Das Dokument ist entweder das materielle Medium, das den Text trägt, oder – seit dem Einzug des Computers in den 1990er Jahren – eine Datei. Im Folgenden wird der Begriff „Dokument“, der ersten Bedeutung entsprechend, als gleichbedeutend mit dem materiellen Textträger verwendet.
Innerhalb des modernistischen Editionsparadigmas, das im Großteil des 20. Jahrhunderts vorherrschte, war das alles überschattende Ziel, den Text vom Dokument zu lösen und ihn für künftige Nutzer in eine Ausgabe zu transponieren. Dadurch wurden bestimmte Eigenschaften ausgeblendet, nicht ohne Weiteres unbewusst, sondern ausgehend von der Annahme, sie seien unwesentlich. Ein Beispiel dafür ist die in Abbildung 1 dargestellte Doppelseite einer dänischen Handschrift aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert, Marine Jespersdatters Gebetsbuch.
Abb. 1: Marine Jespersdatters bønnebog (ca. 1514/1517), AM 421 12mo, Bl. 44v–45r. Foto: Suzanne Reitz.Sie zeigt ein Gebet an die Jungfrau Maria, die mit einem Besuch bei ihrer Verwandten, der schwangeren Elisabeth, Johannes den Täufer im Leib seiner Mutter erfreute. Die zwei Frauen befinden sich in der Illustration links vom Text. Die nächste Abbildung zeigt eine Seite aus der Ausgabe Dänische Gebetsbücher des Mittelalters.1
Abb. 2: Karl Martin Nielsen et al. (Hrsg.): Middelalderens danske Bønnebøger. Bd. 4. Kopenhagen 1962, S. 224. Foto: Suzanne Reitz.Hier wird der Eintrag im obersten Abschnitt der Druckseite wiedergegeben und somit alleine durch den Text repräsentiert. Die Illustration ist verschwunden, der Unterschied zwischen schwarzer und roter Tinte im Text wird auf einen typografischen Unterschied reduziert (die roten Rubriken sind in einem kleineren Schriftgrad gesetzt) und aus der ausgeschmückten Initiale der Handschrift, die in ihrer Höhe drei Zeilen füllte, ist eine zweizeilige Unziale geworden. Die ausgegrenzten Eigenschaften sind nicht im Apparat am Fuß der Seite repräsentiert, sondern werden lapidar im Kommentarband erwähnt, jedoch entgegen aller Anschaulichkeit.
Seit den 1980er Jahren hat sich ein postmodernes Editionsparadigma etabliert – unter anderem mit einem Zweifel an der Hegemonie des Textes und einer Verteidigung der bisher ausgegrenzten Eigenschaften, die die Nutzung des Textes über die Zeit hinweg bezeugen (Gebrauchsspuren, Glossen). Die sogenannte New Philology (oder besser: Materialphilologie), die Varianten auf Kosten des Textes feierte, spielte für dieses Paradigma eine wesentliche Rolle. In der Mittelalterphilologie, als dessen Teil die Materialphilologie entstand, sind Varianten und Gebrauchsspuren nicht selten dasselbe.
Der skandinavistische Mediävist Matthew Driscoll hat einen der Kernpunkte in der Materialphilologie folgendermaßen formuliert:
Literary works do not exist independently of their material embodiments, and the physical form of the text is an integral part of its meaning; one needs therefore to look at ‘the whole book’, and the relationships between the text and such features as form and layout, illumination, rubrics and other paratextual features [...].2
Während dies einerseits eine passende Zusammenfassung ist, so ist es doch andererseits eine Ansicht, der man widersprechen kann und die im Mindesten einer Nuancierung bedarf. Dies wird in Kürze deutlich werden.
Vorher möchte ich daran erinnern, dass es bereits in der künstlerisch-literarischen Praxis, die sich im 20. Jahrhundert entwickelte, starke Proteste bzw. Gegenströmungen gegen die Hegemonie des Textes gab. Zwar nicht bewusst gegen die editionsphilologische Methode gewandt, wohl jedoch als spielerischer Protest gegen den Idealismus, der dem Fokus auf den Text zugrunde liegt. Allen voran muss die internationale Avantgarde (ca. 1900–1935) genannt werden – der Futurismus, Expressionismus, Dadaismus, Konstruktivismus und Surrealismus –, deren Parolen über die Revolutionierung der Kunst und die Befreiung der Worte zu einer intensiven Arbeit mit dem Buchmedium selbst und dessen Materialität führten. Der dänische Literatursoziologe Torben Jelsbak3 hat sich mit diesem Thema in seiner Doktorarbeit befasst, in der er sowohl gute Beispiele für die Experimente anführt als auch seine Ansicht zu einem erweiterten Textbegriff deutlich macht.
Abb. 3: David Burljuk et al.: Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack. Moskau 1912. Vordere Umschlagsseite. Foto: Wikimedia Commons.Ein Beispiel ist das Gemeinschaftswerk Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack aus dem Jahre 1912 (siehe Abbildung 3). Es handelt sich hierbei um eine Sammlung von David Burljuk und anderen verfasster Gedichte, Prosastücke und Essays, von denen 600 Exemplare verschickt wurden. Das Besondere war, dass der Umschlag aus braunem Sackleinen bestand, der bei einem zeitgenössischen Kritiker Assoziationen an „eine ohnmächtige Laus“ hervorrief.4 Der Umschlag betonte die durch den Titel angekündigte Provokation des verfeinerten Geschmacks der spätsymbolistischen Künstlermilieus und führte einen Duft von Arbeiter- und Bauernrealität mit sich, ebenso wie er einen ironischen Kommentar zu den von Mäzenen bezahlten Luxusausgaben auf Hochglanzpapier darstellte. Das Buch selbst war – wie die meisten Publikationen der Avantgarde – auf grobem, billigem Papier gedruckt, was nicht nur reelle ökonomische Einschränkungen widerspiegelte, sondern auch politische Konnotationen in Richtung von Aktivismus und Revolution beinhaltete.5 – Dem erweiterten Textbegriff wende ich mich in Kürze zu.
An dieser Stelle muss die Frage gestellt werden: Was ist ein Text, und was sind – aus der Perspektive des Textes – Dokumenteigenschaften?
Allgemein wird der Text als eine Sequenz aus Zeichen verstanden, ja, als das Sequenzielle in der Zeichensequenz, also als die Beziehung zwischen den Zeichen. So hat der schwedische Druckforscher Rolf DuRietz es in seinem grundlegenden Werk Die gedruckte Schrift definiert: „Ein Text ist […] das sequentielle Element in einem vollständig oder teilweise sequentiellen Produkt“.6 Entsprechend habe ich den Textbegriff in Editionsphilologie definiert: „Ein Text konstituiert sich aus der Zeichensequenz, die die niedergeschriebene oder gesprochene Nachricht trägt. In der Regel ist diese Sequenz alphanumerisch […]“.7 Es ist die Vorstellung des Formalstrukturalismus, hierunter auch des New Criticism, die beinhaltet, dass der Text sich ändert, wenn ein einziges Zeichen verändert wird, wodurch man Varianten oder variierende Texte erhält.
Aber sowohl die Experimente der Avantgarde als auch das postmoderne Interesse an der Bedeutung des Dokuments und der Materialität identifizieren den sprachwissenschaftlichen Textbegriff als idealistisch.8 Sie unterstreichen das Bedürfnis nach einer Erweiterung oder Differenzierung des Textbegriffs. Diese Differenzierung kann man meiner Ansicht nach mit der Kombination aus Beachtung von grundlegenden editionsphilologischen Vorgehensweisen und einer von der analytischen Druckforschung inspirierten Terminologie erreichen. Indem man von den Herangehensweisen ausgeht, die Editionsphilologen täglich anwenden, sichert man sich die phänomenologische Grundlage für seine Begriffsbildung, und die Terminologie ist genau genug, um präzise und nuancierte Begriffe hervorzubringen.9
Die grundlegendste Herangehensweise der Editionsphilologie, das Identifizieren und Emendieren von Textfehlern, bildet den Ausgangspunkt für die Unterscheidung zwischen „Realtext“ und „Idealtext“. Sobald man bemerkt, dass der Text fehlerhaft ist und geändert werden muss – im Übrigen zwei Aspekte des Verstehens, die oft miteinander einhergehen, da man den Fehler erst dann sieht, wenn man identifizieren kann, was richtig ist –, teilt sich der Text: in den konkreten, fehlerhaften Text, der vor einem auf dem Tisch liegt, und den korrekten Text, wie man ihn vor seinem inneren Auge sieht. Das letzte Niveau, der Idealtext, soll hier nicht Thema sein, aber da dieser oft Grund für Missverständnisse ist, möchte ich kurz erwähnen, dass es sich bei dem Idealtext um eine Art Abstraktion oder Arbeitshypothese handelt. Er ist nicht eigenständig, sondern nur durch Realtexte zugänglich, und wenn man diese berichtigt, erhält man wiederum neue Realtexte, die prinzipiell mit neuen, noch unbemerkten oder neu entstandenen, Fehlern behaftet sind. Dass es den Idealtext dennoch gibt, ist jedem Editionsphilologen bewusst: Er ist die Instanz, der man sich verpflichtet fühlt, wenn man Fehler emendiert, besonders, wenn es um Konjekturen geht, und sich gewissenhaft fragt, ob die Korrekturen das Richtige treffen. Ohne den Idealtext als Richtschnur und Zielpunkt würde der Emendationsprozess zu reiner subjektiver Einschätzung verfallen.
Eine andere fundamentale Herangehensweise, die Transkription,...
Erscheint lt. Verlag | 8.6.2020 |
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Reihe/Serie | editio / Beihefte |
editio / Beihefte | |
ISSN | ISSN |
Zusatzinfo | 4 b/w and 15 col. ill. |
Verlagsort | Berlin/Boston |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft |
Schlagworte | Edition • Text revision • Textrevision • Transmission • Überlieferung • Werkgenese • work genesis |
ISBN-10 | 3-11-069286-4 / 3110692864 |
ISBN-13 | 978-3-11-069286-0 / 9783110692860 |
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