Die grüne Macht (eBook)
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00902-8 (ISBN)
Ulrich Schulte, geboren 1974, hat einen einzigartigen Zugang zu den Grünen: Schulte leitet das Parlamentsbüro der Berliner taz und hat den Aufstieg von Robert Habeck und Annalena Baerbock eng begleitet. Er berichtet seit 2011 über die Partei Bündnis 90 / Die Grünen, hat viele Parteitage besucht und kennt fast alle ihre Spitzenpolitiker persönlich. Vor seiner Zeit im Parlamentsbüro leitete Schulte drei Jahre lang das Innenpolitik-Ressort der taz. 2010 erhielt er das renommierte Arthur F. Burns-Stipendium und arbeitete zwei Monate lang bei der Chicago Tribune. Schulte gibt gelegentlich Lehrveranstaltungen am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster. Er wurde an der Deutschen Journalistenschule in München ausgebildet und lebt mit seiner Familie in Berlin.
Ulrich Schulte, geboren 1974, hat einen einzigartigen Zugang zu den Grünen: Schulte leitet das Parlamentsbüro der Berliner taz und hat den Aufstieg von Robert Habeck und Annalena Baerbock eng begleitet. Er berichtet seit 2011 über die Partei Bündnis 90 / Die Grünen, hat viele Parteitage besucht und kennt fast alle ihre Spitzenpolitiker persönlich. Vor seiner Zeit im Parlamentsbüro leitete Schulte drei Jahre lang das Innenpolitik-Ressort der taz. 2010 erhielt er das renommierte Arthur F. Burns-Stipendium und arbeitete zwei Monate lang bei der Chicago Tribune. Schulte gibt gelegentlich Lehrveranstaltungen am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster. Er wurde an der Deutschen Journalistenschule in München ausgebildet und lebt mit seiner Familie in Berlin.
Geschichte
Von der Latzhose zum Einreiher: Wie die Grünen wurden, was sie sind
«Guten Morgen!» Reinhard Bütikofer winkt kurz mit der Rechten, während er gemächlich auf mich zu schlendert. Ein Straßencafé in Berlin-Moabit, direkt neben dem U-Bahnhof Birkenstraße, weißes U auf blauem Grund. Ein Bücherschrank lädt zum Tauschen ein («Nimm 1, bring 1»), mehrere Spatzen fliegen Attacken auf Krümel neben Tellern, mit an Todesverachtung grenzendem Wagemut. Bütikofer, schwarzer Übergangsmantel, darunter Sakko und weinrotes Poloshirt, besorgt am Tresen Cappuccino und Croissants. Wir haben uns verabredet, um eine Frage zu besprechen: Wie wurden die Grünen, was sie sind?
Ein Frühstück mit ihm ist nicht die schlechteste Idee, um Antworten zu bekommen. Bütikofer, der in der Partei wegen seiner Belesenheit geschätzt wird, war schon fast alles bei den Grünen. Mitglied im Stadtrat von Heidelberg, Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg, Parteivorsitzender in Berlin, Europaabgeordneter und sieben Jahre lang Chef der europäischen Partei.
Der erfahrene Stratege sieht in der Geschichte der Grünen drei Phasen. Erst Protestpartei, dagegen und in Vollopposition. Dann, mit ersten Landeskoalitionen ab 1985 und Rot-Grün im Bund, Projektpartei, darauf fokussiert, einige Ideen in Regierungsverantwortung durchzusetzen. Und nun, als dritte Phase, Orientierungspartei für das große Ganze, mit dem Anspruch, hegemoniefähig zu sein. In Baden-Württemberg ist das bereits gelungen: mit Winfried Kretschmann als erstem grünem Ministerpräsidenten der bundesdeutschen Geschichte.
Protestpartei also. Bütikofer lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. «Hätten es die Grünen anfangs nicht verstanden, gehörig aufs Blech zu schlagen, hätte niemand zugehört.» Es sei in der ersten Phase darum gegangen, Themen Respekt zu verschaffen, die bis dahin als irrelevant, ja: inakzeptabel und abstoßend galten. «Wir mussten einen Diskursraum erkämpfen.» In der Tat, die Gründungsgeschichte der Grünen spielt in einer anderen Zeit. Der Bundeskanzler heißt Helmut Schmidt und hält Ökologie für «eine Marotte gelangweilter Mittelstandsdamen». Der Kalte Krieg ist sehr lebendig. Deutschland ist in Ost und West geteilt, in alternativen Bürgerbewegungen herrscht Angst vor dem Atomtod, ausgelöst entweder durch Raketen oder ein havariertes Kernkraftwerk.
Am 12. Januar 1980 ist die Lehrerin Eva Quistorp mit einer Freundin in einem Citroën 2CV aus Westberlin in Karlsruhe angekommen, nach 700 Kilometern Fahrt. In der Stadthalle findet sie jede Menge Strickpullis und Typen mit langen Wuschelhaaren vor. Fritz Kuhn, Student in grün gebatikten Latzhosen, ist da. Joseph Beuys, der weltberühmte Künstler, der die Idee einer ökologischen Partei unterstützt. Und natürlich Petra Kelly, die eloquente junge Frau, die zur Ikone der Gründungsjahre wurde.
«Es war unglaublich voll», erinnert sich Quistorp im Schwarzen Café, einem Treffpunkt für Student*innen und Alt-68er neben dem Berliner Savignyplatz. Quistorp, eine schmale Dame mit langen, roten Haaren, redet schnell und ohne Pause, die Bilder von damals hat sie noch lebhaft vor Augen: Zigarettenrauch hängt in der Luft, Wortfetzen schwirren umher, Gedrängel in den Gängen zwischen den Sitzreihen. «Alle redeten durcheinander und wollten irgendeinen Antrag einbringen, den sie für superwichtig hielten.» Beim Gründungsparteitag in der Karlsruher Stadthalle haben sich diejenigen versammelt, die eine andere Welt wollen. Eine friedlichere und ökologischere Welt, mit klaren Flüssen, sauberer Luft, mehr Rechten für Frauen und, natürlich, ohne Atomstrom.
Mit dem Namen, den sie sich gibt, beweist die junge Partei ihren Riecher für Selbstvermarktung: Die Grünen. Grün steht seit jeher für Hoffnung. Grün sind frische Triebe im Frühling, grün sind die Wälder, die die Deutschen so lieben, grün wird die Ampel, wenn es losgeht. Goethe ließ sein Arbeitszimmer grün streichen, weil er sich mit Farbenlehre befasst hatte und um die wohltuende Wirkung fürs Auge wusste. Der Liedermacher Wolf Biermann schrieb in den 1960ern das Gedicht «Ermutigung», einen Hit der alternativen Szene, in dem er dazu aufruft, sich nicht verhärten zu lassen. «Das Grün bricht aus den Zweigen / Wir wolln das allen zeigen / Dann wissen sie Bescheid.» Der Name «Die Grünen» beschreibt nicht nur den Markenkern der Partei – er öffnet Assoziationsräume einer besseren Welt. Genau so ist er gedacht. Selbst die Redensart «Grün hinter den Ohren» passt wunderbar zu den Anfängen, an die sich Kuhn, heute Oberbürgermeister in Stuttgart, so erinnert: «Man kann die Geschichte der Grünen nicht nur als Erfolgsstory erzählen, es war auch verdammt zäh und anstrengend.» Grabenkämpfe und erbitterte Auseinandersetzungen gehörten von Anfang an dazu. Der Gründungsparteitag wurde von einer knochentrockenen Organisationsdebatte dominiert, die mit Visionen einer besseren Welt nichts zu tun hatte. Es ging darum, welche Gruppen und Listen wie mitmachen durften. Der ideologische Humus, auf dem die Grünen wuchsen, sind die Diskussionen der 1970er. 1972 erscheint die vom Club of Rome in Auftrag gegebene Studie «Die Grenzen des Wachstums». Die Kernthese: Der Mensch kann nicht immer mehr verbrauchen, konsumieren und zerstören, ohne die Erde unbewohnbar zu machen. Ein 1975 veröffentlichtes Buch des CDU-Politikers Herbert Gruhl wird zum Bestseller. Titel: «Ein Planet wird geplündert». Es stellt das bisherige politische Denken auf den Kopf. Der Mensch dürfe sich nicht mehr am eigenen Standpunkt orientieren, fordert Gruhl – sondern an den Grenzen des Planeten. Das Buch trifft den Zeitgeist. Das ökologische Bewusstsein wächst. Überall in der Republik protestieren Bürgerinitiativen gegen Umweltzerstörung und den Bau von Atomkraftwerken. Die Bewegung manifestiert sich zunehmend im politischen Betrieb. Ende 1977 beteiligt sich eine Grüne Liste Umweltschutz an den Kommunalwahlen in Niedersachsen, im Mai 1978 folgt eine Grüne Liste in Schleswig-Holstein. Im Oktober kandidiert eine Grüne Liste bei den Landtagswahlen in Hessen. Zum Anlass für die bundesweite Parteigründung wird dann aber die Wahl zum Europaparlament 1979, die eigentlich kein grünes Kernanliegen darstellt.
Bei einem Treffen am 17. und 18. März 1979 in Frankfurt-Sindlingen wird die «Sonstige politische Vereinigung Die Grünen» ins Leben gerufen. Sie ist der Vorläufer der Bundespartei – ein wilder Haufen aus Ökolog*innen jeglicher Couleur. Quistorp erinnert sich in dem Café am Savignyplatz an eine «Mischung aus Pfarrern, Grafen, Bauern, Unternehmern, Feministinnen und Anti-Atom-Aktivist*innen». Sie sagt: «Der Habitus war eindeutig bürgerlich.» Einer der bekanntesten Protagonisten ist Gruhl, der wenige Monate zuvor unter großer Medienaufmerksamkeit aus der CDU ausgeschieden war und die «Grüne Aktion Zukunft» (GAZ) gegründet hatte. Gruhl, ein biederer Familienvater, bringt konservative Umwelt- und Naturschützer mit.
Die Versammlung beschließt ein Programm und stellt eine Liste auf. Sie kürt Petra Kelly zur Spitzenkandidatin, die wie geschaffen ist für die Rolle im Rampenlicht. Kelly wird zur Ikone der grünen Gründungsjahre. Intelligent, eloquent und gut aussehend, hat sie keine Probleme, es in die Medien zu schaffen. Sie ist überzeugte Europäerin und verfügt über Verwaltungserfahrung, weil sie für die Europäische Gemeinschaft arbeitet. Wichtiger aber ist, dass sie um die Macht der Bilder weiß – und um die Macht guter Geschichten. Wenn Kelly in Mutlangen für Frieden demonstriert, trägt sie einen Stahlhelm, den sie mit Blumen geschmückt hat. Ihr Austritt aus der SPD erfolgt nicht still und heimlich, sondern mit einem offenen Brief an den Bundeskanzler. «Petra fiel mir sofort auf», erinnert sich Quistorp. «Eine zarte Frau, die fließend Englisch und Französisch redete und schnell zwischen den Sprachen hin- und herwechselte.» Die charismatische junge Frau, stets elegant gekleidet, entfaltet Strahlkraft weit über das grüne Milieu hinaus, auch, weil sie ganz anders auftritt als ihre Mitkämpfer*innen. Viele Deutsche verbinden Atomkraftgegner*innen damals mit heftigen Schlachten gegen die Polizei, mit wütendem Protest und Revoluzzertum. Petra Kelly begründet ihre Kritik an der Atomkraft anders. Sie redet über ihre kleine Schwester Grace, die an Augenkrebs erkrankte und – wie Kelly glaubt – auch an den Folgen der Strahlenbehandlung starb. Sie gründet eine Stiftung für krebskranke Kinder. «Nicht als Streetfighterin, sondern als helfender Engel zog Petra Kelly in die deutschen Wohnzimmer ein», analysierte taz-Autor Jürgen Gottschlich.
Die Grünen, die 1983 zum ersten Mal in den Bundestag einziehen, wollen anders sein als die anderen Parteien. Sprecherposten und Mandate rotieren, um die Macht Einzelner zu begrenzen. Die Bonner Fraktion tagt öffentlich, vor den Augen der erstaunten Journalist*innen. Und der Sinn für Symbolik und Marketing bleibt: Die Abgeordnete Marieluise Beck überreicht Kanzler Helmut Kohl im Bundestag einen abgestorbenen Tannenzweig als Statement gegen das Waldsterben.
Bütikofer stockt mitten im Erzählfluss. «Hey!» Ein Spatz pickt eine Croissanthälfte von seinem Teller und macht sich davon. Bütikofer springt auf und erobert sein Frühstück auf dem Bürgersteig zurück. Wenn man so will, waren die Grünen in ihren Anfängen so wie der Spatz. Klein, laut, auf Krawall gebürstet. Sie hatten keine Chance, aber...
Erscheint lt. Verlag | 26.1.2021 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Annalena Baerbock • Baerbock • Bundestagswahl • Bündnis 90 • CDU • Deutschland • Die Grünen • Kanzlerwahl • Öko-Partei • Politik • Politiker • Robert Habeck • SPD • Volksparteien • Wahl 2021 • Wahl Baden-Württemberg • Wahljahr • Winfried Kretschmann |
ISBN-10 | 3-644-00902-3 / 3644009023 |
ISBN-13 | 978-3-644-00902-8 / 9783644009028 |
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