Naturphilosophie (eBook)
386 Seiten
UTB GmbH (Verlag)
978-3-8463-5382-0 (ISBN)
Abkürzungsverzeichnis VII
Zur Einführung (Thomas Kirchhoff / Nicole C. Karafyllis)XI
Sektion I: Geschichte und Systematik 1
0. Einleitung (Myriam Gerhard / Nicole C. Karafyllis / Gerald Hartung / Kristian Köchy)3
1. Kosmos und Universum
A. Chaos, Logos, Kosmos (Nicole C. Karafyllis / Stefan Lobenhofer) 5
B. Universum, Raum, Unendlichkeit (Angelika Bönker-Vallon) 19
2. Natur als Schöpfung (Dirk Evers) 23
3. Mathematisierung der Natur und ihre Grenzen (Brigitte Falkenburg)32
4. Natur und Recht (Michael Städtler) 42
5. Natur und Geschichte (Tobias Cheung)51
6. ‚Kampf‘ um die Naturphilosophie (Kristian Köchy)57
7. Streit um die Deutungshoheit der Natur: Materialismus-, Darwinismus- und Ignorabimus-Streit (Myriam Gerhard) 66
8. Gegenwärtige Strömungen der Naturphilosophie (Gregor Schiemann) 73
9. Möglichkeiten und Grenzen einer disziplinären Bestimmung der Naturphilosophie (Myriam Gerhard / Gerald Hartung / Nicole C. Karafyllis).82
Sektion II: Grundbegriffe der Naturphilosophie 91
0. Einleitung (Gregor Schiemann / Brigitte Falkenburg / Ulrich Krohs) 93
1. Natur (Brigitte Falkenburg) 96
2. Schöpfung (Frank Vogelsang) 103
3. Kosmos und Welt (Manfred Stöckler) 110
4. Raum und Zeit (Kim Joris Boström / Ulrich Krohs) 116
5. Quanten und Felder (Brigitte Falkenburg) 123
6. Materie, Kraft, Energie (Myriam Gerhard) 131
7. Naturgesetz, Kausalität, Determinismus (Brigitte Falkenburg) 138
8. Struktur, System, Information (Nicole C. Karafyllis / Suzana Alpsancar) 145
9. Landschaft (Thomas Kirchhoff) 152
10. Leben (Georg Toepfer)159
11. Mensch (Ralf Becker) 165
Sektion III: Naturverhältnisse 171
0. Einleitung (Otto Schäfer / Thomas Potthast / Magnus Schlette) 173
1. Leibliche Naturverhältnisse (Nicole C. Karafyllis) 176
2. Ästhetische Naturverhältnisse (Magnus Schlette) 186
3. Theoretische Naturverhältnisse (Ulrich Krohs) 196
4. Experimentelle Naturverhältnisse (Reinhard Schulz) 203
5. Haushaltende Naturverhältnisse (Thomas Potthast) 210
6. Verstehende Naturverhältnisse (Reinhard Schulz)217
7. Erzählende Naturverhältnisse (Otto Schäfer) 224
8. Religiöse Naturverhältnisse (Dirk Evers) 232
9. Geschlechtliche Naturverhältnisse (Nicole C. Karafyllis / Thomas Potthast) 239
10. Jenseits der Naturverhältnisse: Natur ohne Menschen (Gregor Schiemann) 248
Sektion IV: Naturphilosophie in der Praxis 255
0. Einleitung (Nicole C. Karafyllis / Thomas Kirchhoff / Thomas Potthast) 257
1. Natur in Bildung und Erziehung (Ulrich Gebhard) 261
2. Natur essen (Hans Werner Ingensiep / Heike Baranzke) 271
3. Grüne Gentechnik: Pflanzen im Kontext von Biotechnologie und Bioökonomie (Nicole C. Karafyllis) 281
4. Kein Honigschlecken: Bienen als ‚Ökosystemdienstleister‘ und natürliche Mitwelt (Nicole C. Karafyllis / Günter Friedmann) 292
5. Von Wölfen, Hunden und Menschen. Zur Rolle der Naturphilosophie in der Tierethik (Kristian Köchy) 303
6. Von der Sehnsucht nach Wildnis (Thomas Kirchhoff / Vera Vicenzotti) 313
7. Faszination Kosmologie (Claus Beisbart / Brigitte Falkenburg) 323
Autorinnen und Autoren 333
Personenregister 335
Sachregister 341
|XI|Zur Einführung
Natur ist im Trend, Natur ist überwunden, Natur ist elementar, Natur ist bedroht, Natur ist lebenswichtig, Natur ist ideologisch – diese aktuellen Aussagen zeigen exemplarisch, wie vielfältig Auffassungen von Natur sein können und wie wichtig es ist, sich über Natur und Naturbegriffe zu verständigen. Hierzu möchte dieses naturphilosophische Lehr- und Studienbuch einen integrativen Beitrag leisten. Im Zuge dessen wird die selbstreflektierende Frage gestellt, welchen Bereich die Naturphilosophie innerhalb der Philosophie, aber auch in interdisziplinären wie lebensweltlichen Kontexten umfasst und umfassen könnte.
Die Naturphilosophie gehört zweifellos zu den ältesten Denkrichtungen der Philosophie. Entsprechend groß ist ihr theoretisches wie praktisches Potenzial – nicht zuletzt wegen der zentralen Bedeutung, die der Begriff ‚Natur‘ in zahlreichen Diskursen und Debatten hat. Sich naturphilosophisch zu bilden ist deshalb in fast jedem Fach relevant. Für Studierende und Lehrende bietet die Naturphilosophie einen reichen Schatz an Analysewerkzeugen für das Naturdenken wie -handeln. Naturphilosophische Kenntnisse helfen aber auch beim Verständnis gesellschafts- und wissenschaftspolitischer Entwicklungen: von Naturschutzprojekten und Tourismuskonzepten bis hin zu Debatten um die Relevanz von Teilchenbeschleunigern angesichts deren hoher Kosten.
Hinweise auf Natur können Probleme, aber auch Problemlösungen markieren. Abhängig von der Verwendung kann ‚Natur‘ auf argumentative Differenz oder Einheit abzielen. Natur ist gleichsam überall, war vor uns da und wird es womöglich auch nach uns sein; sie ist Innen und Außen und „hat weder Kern noch Schale“. (Auf jene allgemeineren Deutungen kommen wir unten noch zurück.) Aber theoretisch wird Natur – und dies nicht nur in den Naturwissenschaften – immer mehr vereinzelt, verdinglicht und fachspezifisch bearbeitet und rückt dadurch letztlich in ein Nirgendwo. Vielleicht ist so das immer häufiger beklagte Desinteresse junger Menschen am Studium der Naturwissenschaften mitverursacht worden. Denn Natur wird eher dann als langweilig erachtet, wenn man sie – aus guten Gründen – als etwas immer schon Gesetzmäßiges oder Bekanntes darstellt. Man mag sich hier an Heraklit erinnern: „Die Natur liebt es, sich zu verbergen“ (DK 22 B123). Um wieder Lust an der Entdeckung und Erforschung der Natur zu haben, sollte sie immer auch als plural, vielfältig situiert, rätselhaft und spannend verstanden werden können. Nicht nur darin haben Naturphilosophie und Naturwissenschaft ein gemeinsames Anliegen.
In dieser Situation hat die gegenwärtige Naturphilosophie die Aufgabe, die Pluralität von Naturwahrnehmungen und Naturdeutungen mit ihren historischen Fundierungen im Spiel zu halten und zugleich, im Sinne von Orientierungswissen, Strukturen und Relationen des Naturwissens und Naturdenkens aufzuzeigen. Die Naturphilosophie markiert wirkmächtige Spuren, von denen in diesem Buch fast ausschließlich die sog. westlichen verfolgt werden konnten. Jene Spuren leiten die philosophische Suche nach |XII|Einheit in der Vielheit der Naturzugänge an – bei gleichzeitigem Wissen und Wollen, dass das Streben nach Einheit nur als Aufgabe verstanden werden kann und nicht als absolut zu erreichendes Ziel.
Zu dieser Aufgabe gehören auch kritische Hinweise auf sog. naturalistische Tendenzen. Damit sind Vereinheitlichungen von Naturbegriffen gemeint, etwa die Aufhebung von individuell, gesellschaftlich und kulturell unterschiedlichen Naturbegriffen durch Termini der Physik und der Biologie. Nicht selten werden derartige Homogenisierungen mit weitreichenden Deutungsansprüchen verbunden, die ganze Gesellschaften oder sogar die Menschheit an sich betreffen. Zwei theoretische Sollbruchstellen fallen dabei besonders ins Auge: erstens die Gleichsetzung des Begriffs ‚Geschichte‘ mit dem Begriff der (z.B. kosmo-, geo- oder biologischen) ‚Vergangenheit‘. Denn ‚Geschichte‘ bedeutet mehr als nur den Anfang eines abstrakten Zeitpfeils, der in die Zukunft gerichtet ist. „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur Rechenschaft über ihre Vergangenheit gibt“ (Johan Huizinga). Diese Aussage gilt nicht nur für die Philosophie und die Geschichtswissenschaft, sondern für alle Geisteswissenschaften, insofern sie sich immer auch als historische Wissenschaften verstehen. Die Naturphilosophie hat entsprechend die vordringliche Aufgabe, Natur in Form von Kategorien des Geistes abzuhandeln, d.h. als Idee, Begriff, Objekt, experimentell erzeugte Tatsache usw. Damit legt sie immer auch Rechenschaft über ihre eigene Vergangenheit ab und schreibt an ihrer Geschichte. Für das Nachdenken über Natur bleibt die Naturphilosophie auf überlieferte und aktuelle Texte ebenso angewiesen wie sie dafür sorgt, geschärfte Naturbegriffe und strukturierte Argumente zum Naturwissen für die Texte und das Nachdenken anderer Disziplinen zur Verfügung zu stellen; zuvorderst für die Naturwissenschaften, von deren Erkenntnissen sich die Naturphilosophie wiederum bewusst begeistern wie herausfordern lässt. – Die zweite theoretische Sollbruchstelle ist die Gleichsetzung des Menschen und seiner Existenz mit der biologischen Art Homo sapiens – einer Spezies, die ggf. sogar technisch überwunden werden könnte (Trans- bzw. Posthumanismus). Durch diese Verkürzung wird der Mensch, den vom Tier maßgeblich unterscheidet, dass ihm sein Menschsein zu verwirklichen wesentlich als Aufgabe gestellt ist, letztlich nur noch als oberstes der Säugetiere verstehbar. Er teilt dann mit den Tieren eine ‚natürliche‘ Vergangenheit, aber noch keine Geschichte/n mit anderen Menschen. So wird nicht zur Sprache gebracht, wie unterschiedlich der Mensch sich – qua Geist und Vernunft, qua Denken, Fühlen und Handeln – in ein Verhältnis zur Natur gesetzt hat, dies heute tut und auch in Zukunft zu tun gedenkt. Wichtig ist: Erst in Kombination jener beiden reduktionistischen Vorannahmen zu ‚Mensch‘ und ‚Natur‘ und damit auch zur Konstitution von ‚Welt‘ würde es vielleicht möglich zu denken, dass Natur auch nach uns da sein wird – weshalb wir im betreffenden Satz oben das vorsichtige „womöglich“ hinzu gesetzt haben. Die so zum Ausdruck gebrachte Vorsicht ist auch eine Anspielung auf den Titel desjenigen Buches, das in jüngster Zeit wie kein anderes zur internationalen philosophischen Debatte um den Naturbegriff und das dominierende Weltbild der Naturwissenschaften beigetragen hat: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist (engl. 2012, dt. 2013) von Thomas Nagel. Die beiden o.g. theoretischen Sollbruchstellen stehen dort im Fokus.
|XIII|Jener Argumentationskomplex soll wegen seiner Aktualität und gerade mit Blick auf jüngere und/oder mit Science Fiction-Erzählungen vertraute Leserinnen und Leser dieses Buches kurz erläutert werden. Dabei werden die eingangs genannten Aussagen über Natur z.T. kritisch wieder aufgegriffen. Denn wenn Natur „im Trend“ ist, dann stellt sich dabei stets die Frage, in welchen Weisen sie das ist. Angenommen, Teile der bisherigen Menschheit würden die Erde für immer verlassen und extraterrestrisch als Menschen weiterleben, so bliebe Natur zumindest elementar in irgendeiner Form da, z.B. wenn jene Menschen in sog. ‚Life-Support-Systemen‘ mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt würden. Natur wäre auch in dieser reduzierten Form lebenswichtig oder genauer: überlebenswichtig. Den extraterrestrischen Menschen blieben vielleicht auch Naturfotografien, die sie an die Geschichte der irdischen Vergangenheit ihrer Vorfahren erinnerten – wenngleich sich dies etwa so anfühlen würde, wie wenn wir heute Bilder historischer Landschaften betrachten. Wir erkennen sie als Spuren unserer eigenen Geschichte, ohne den zugehörigen Sinnhorizont, der für die Menschen in früheren Zeiten galt, wirklich verstehen zu können. Um sich diesen Sinnhorizont wenigstens annähernd zu erschließen, bedarf es Quellen und zugehöriger Geschichten, die vom Gewesenen Zeugnis ablegen und sinnstiftend für das Verständnis der Gegenwart sind. Im Falle des tiefgründigen Bedeutungshorizonts von Natur und der mit ihr verbundenen Begriffe und Ideen sind dies z.B. historische Quellen zu Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Wetterveränderungen und Überflutungen (inklusive Fossilien), zur vorindustriellen Landwirtschaft, zum japanischen Zen-Garten und Englischen Garten, zur jüdisch-muslimischen Medizin des Mittelalters, zur antiken Legitimation der Sklaverei, zur Entstehung von Albert Einsteins Relativitätstheorien, zur Schönheit von Landschaft und zur Erhabenheit des Himmels.
Aber die These, dass Natur, so wie wir sie bislang in all ihrer Pluralität verstanden haben, auch nach „uns“, d.h. nach der Menschheit, da sein und nicht ‚nur‘ sein würde, widerspricht folgender Annahme: Über Natur kann nur im Rahmen von Mensch-Natur-Verhältnissen und Mensch-Welt-Verhältnissen (wozu auch wissenschaftliche, technische und philosophische Verhältnisse gehören) nachgedacht werden. Dieser naturphilosophische Impetus findet sich von den Vorsokratikern und Aristoteles bis in die Neuzeit, z.B. bei Georg W.F. Hegel, Edmund Husserl, Ludwig Wittgenstein, Hannah Arendt, Paul Feyerabend und Thomas Nagel. Entsprechend kann von Natur in eben dieser gewohnten Weise auch nur von Menschen erzählt und können die Erzählungen auch nur von Menschen hinreichend verstanden werden. Das schließt nicht...
Erscheint lt. Verlag | 20.4.2020 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Artensterben • artgerechte Tierhaltung • Bienen • Biotechnologie • Darwinismus • Ethik • Friday for Future • Gentechnik • Grüne Gentechnik • Klimaerwärmung • Klimaziele • Kosmologie • Kosmos • Lehrbuch • Massentierhaltung • Materialismus • Natur • Naturphilosophie • Naturschutz • Naturverhältnis • Naturwissenschaft • Ökologischer Fußabdruck • Pariser Klimaabkommen • Philosophie • Quanten • Rote Liste • Schöpfung • Tierschutz • Tierwohl |
ISBN-10 | 3-8463-5382-5 / 3846353825 |
ISBN-13 | 978-3-8463-5382-0 / 9783846353820 |
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