Deutsche Krieger (eBook)
816 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2370-1 (ISBN)
Sönke Neitzel, geboren 1968, war nach Lehrtätigkeiten in Mainz, Karlsruhe, Bern und Saarbrücken Professor für Modern History an der University of Glasgow und Professor für International History an der London School of Economics (LSE). Seit 2015 hat er den deutschlandweit einzigen Lehrstuhl für Militärgeschichte/ Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam inne. Zusammen mit Harald Welzer verfasste Neitzel den Bestseller Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Zuletzt erschien von ihm und Bastian Matteo Scianna Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkrieg (2021).
Sönke Neitzel, geboren 1968, war nach Lehrtätigkeiten in Mainz, Karlsruhe, Bern und Saarbrücken Professor für Modern History an der University of Glasgow und Professor für International History an der London School of Economics (LSE). Seit 2015 hat er den deutschlandweit einzigen Lehrstuhl für Militärgeschichte/ Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam inne. Zuletzt erschien von ihm und Harald Welzer der Bestseller "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben" (2011).
Einleitung
»Die Wehrmacht ist in keiner Form traditionsstiftend für die Bundeswehr. Einzige Ausnahme sind einige herausragende Einzeltaten im Widerstand. […] Das ist eine Selbstverständlichkeit, die von allen getragen werden muss« – diese deutlichen Sätze sprach Ursula von der Leyen am 3. Mai 2017. In der Krise um den unter Terrorverdacht stehenden Oberleutnant Franco Albrecht galt es, rasch klare Worte zu finden. Jedwede Verdächtigungen, dass der Geist längst vergangener Tage hinter den Kasernenmauern geduldet würde, sollten im Keim erstickt werden. Doch wer sich jenseits der beschwichtigenden Ministerialrhetorik ernsthaft mit den Streitkräften beschäftigte, konnte die Spuren der Vergangenheit kaum übersehen. Die Wehrmacht steckte von Anfang an in der DNA der Bundeswehr, und man kam auch im 21. Jahrhundert nicht ganz von ihr los. Das musste auch die Ministerin zur Kenntnis nehmen, als sie mit ihrer Entourage die Kaserne des Jägerbataillons 291 im elsässischen Illkirch besuchte, wo Franco Albrecht zuletzt Dienst getan hatte. Für die Bundeswehr war es peinlich genug, dass er trotz seiner offensichtlich rechtsextremen Gesinnung nicht vom Dienst suspendiert worden war. Doch damit nicht genug. Von der Leyen registrierte empört, dass ein Aufenthaltsraum der Kaserne mit allerlei Zeichnungen, Sinnsprüchen, Waffen und Ausrüstungsgegenständen aus den Zeiten der Befreiungskriege und der Wehrmacht ausgeschmückt war. Mit der lieb gewordenen Vorstellung vom deutschen Soldaten als global social worker, der als Retter, Vermittler und Beschützer weltweit hilft, Konflikte friedlich beizulegen, hatte diese Raumgestaltung herzlich wenig zu tun. Hier ging es um eine ganz andere Berufsidentität: jene des Kämpfers, der sich in eine weit zurückreichende Ahnenreihe von Kriegern stellt.
Manche halten diejenigen, die Bilder von heldenhaften Landsern in ihre Dienstzimmer hängen, schlicht für Nazis. In der Tat gehen Rechtsradikalismus und Verherrlichung der Wehrmacht fast immer miteinander einher. Doch zur Erklärung soldatischer Identitäten trägt dieser Befund wenig bei. Untersuchungen von Verfassungsschutz und MAD zeigen, dass vielleicht drei Prozent der Soldaten einem rechtsradikalen Milieu zuzuordnen sind und damit ungefähr so viele wie in der Gesamtgesellschaft.1 Weit mehr Bundeswehrsoldaten dürften die Wehrmacht aber nach wie vor für einen legitimen Teil ihrer Tradition halten; wohl auch jene, die in Illkirch den Raum ausschmückten. Das mag man empörend finden, aber warum ist das überhaupt so?
Verständlicher wird diese Haltung, wenn man das Militär als eine Welt mit eigenen Werten und Normen versteht, die zwar von Gesellschaft und Politik mitgeprägt wird, aber doch einen besonderen sozialen Kosmos bildet. Die reale oder potenzielle Erfahrung vom Kämpfen, Töten und Sterben unterscheidet die Streitkräfte fundamental von anderen gesellschaftlichen Gruppen. Aus der Perspektive des Soldaten haben Begriffe wie Tapferkeit, Pflichterfüllung und Kameradschaft eine viel größere Bedeutung als für einen Versicherungskaufmann oder Parlamentarier. Wer das Kämpfen in den Mittelpunkt seiner beruflichen Identität stellt, sucht sich besondere Vorbilder. In der Bundeswehr ist das zwar nur eine Minderheit, weil viele Soldaten aufgrund ihrer Tätigkeiten – als Techniker, Seeleute, Fahrer oder Verwaltungsbeamte – eher zivile Identitäten haben. Aber die Kämpfer sind keineswegs ausgestorben. Im elsässischen Illkirch waren sie 2017 offensichtlich noch zu finden. Hier dienten Männer und Frauen, die sich für den archaischeren Teil des Soldatenberufs entschieden hatten.
Dass sich Soldaten in ihrem Selbstverständnis auf den Krieg ausrichten und dafür die passenden Vorbilder suchen, ist eigentlich eine banale Erkenntnis. Die Deutschen aber haben sich mit ihr nach dem Zweiten Weltkrieg schwergetan. Der Kulturbruch war so tief, die Verbrechen waren so unfassbar, die Niederlage auch moralisch so total, dass sich ihr Verhältnis zum Militär grundlegend änderte. Zu Pazifisten wurden die meisten zwar nicht, aber Gesellschaft und Politik blickten kritischer als zuvor auf ihre Soldaten, suchten sie einzuhegen, ein Stück weit zu zivilisieren und nicht zuletzt von der Vergangenheit abzugrenzen. Freilich sind Wunschbild und Realität zweierlei. Alle deutschen Staaten haben versucht, ihren jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Rahmen möglichst umfassend auf ihre Armeen zu übertragen: das Kaiserreich ebenso wie die Weimarer Republik, die Nationalsozialisten ebenso wie die Kommunisten. Das funktionierte mal mehr, mal weniger gut. Vollständig gelang es nie, auch nicht in der Bundesrepublik. Dafür waren die Deutungsangebote, die die Politik für die jeweilige Rolle des Militärs zu bieten hatte, meist zu abgehoben, zu theoretisch; sie entsprangen einer Vorstellungswelt, mit der die Soldaten nicht viel anzufangen wussten. Das Militär blieb immer auch eine Welt für sich, die über die politischen Brüche hinweg erstaunlich beständig war. Zu einem tieferen Verständnis der Streitkräfte wird man nur kommen, wenn man ihre spezifische Kultur analysiert – jene Normen, Werte, Haltungen und Überzeugungen, die ihr Denken, Sprechen und Handeln bestimmen.2 Die internen Debatten über soldatische Tugenden und Traditionen gehören ebenso dazu wie die Art und Weise, wie über Kriege nachgedacht wird – und wie sie geführt werden.
Für die Männer und Frauen, die den Aufenthaltsraum im elsässischen Illkirch gestaltet hatten, waren die ausgestellten Waffen und Leitsprüche gewiss nicht nur dekorative Artefakte; sie hatten Bedeutung für ihre soldatische Gegenwart. Doch was hatte das 2010 aufgestellte Jägerbataillon mit den Soldaten weit zurückliegender Zeiten zu tun? Gibt es überhaupt Kontinuitäten im militärischen Denken und Handeln, die bis tief ins 19. Jahrhundert zurückreichen? Wie unterscheiden sich die institutionellen Normen und Werte der monarchischen Kontingentarmeen, der Wehrmacht und der Bundeswehr? Gab es trotz denkbar unterschiedlicher Erfahrungen in Krieg und Frieden ähnliche Vorstellungen von den Pflichten und Aufgaben des Soldaten? Und sollte man Armeen nicht auch von ihrem professionellen Selbstverständnis her beurteilen? Was haben, so kann man fragen, ein Leutnant des Kaiserreichs, ein im Nationalsozialismus sozialisierter junger Wehrmachtoffizier und ein Zugführer der Task Force Kunduz des Jahres 2010 gemeinsam?
Das vorliegende Buch geht diesen Fragen in einem Längsschnitt nach. Ausgangspunkt ist das Jahr 1871. Die militärischen Traditionen deutscher Armeen reichen zwar noch weiter zurück, zu den preußischen Reformern aus der Zeit der Napoleonischen Kriege und teilweise noch darüber hinaus. Doch die große Zäsur in der modernen deutschen Militärgeschichte stellten zweifellos die Siege in den Einigungskriegen von 1864, 1866 und 1870/71 dar. Sie waren nicht nur eine wichtige Voraussetzung für die Gründung des ersten deutschen Nationalstaats, sondern sie veränderten auch das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Militär grundlegend. Die bürgerlich-liberale Kritik an den Streitkräften wich einer schier grenzenlosen Bewunderung. Die Siege gegen Österreich und Frankreich manifestierten zudem einen German Way of War: Schnelle, blitzartige und risikoreiche Angriffsoperationen waren seit 1866 das Merkmal preußisch-deutscher Kriegführung. In der historischen Forschung wird seit Langem diskutiert, ob die deutsche Militärkultur auch durch eine besondere Gewaltkultur gekennzeichnet sei. Isabel Hull, MacGregor Knox oder Dirk Bönker argumentierten3, Deutschland habe seine Kriege in den Kolonien und in Europa von 1870 bis 1918 radikaler und brutaler geführt als die übrigen europäischen Großmächte. Dadurch seien kulturell tief verankerte Handlungsmuster entstanden, die später der Nationalsozialismus zu nutzen verstand. Der Weg nach Auschwitz begann nach dieser Lesart bereits im Kaiserreich, etwa mit dem Genozid an den Herero. Das Buch wird die deutschen Kriegsverbrechen in eigenen Unterkapiteln behandeln, zur These eines deutschen Sonderwegs eine eigene Position beziehen und auch aufzeigen, wie Bundeswehr und NVA mit dem unrühmlichen Erbe der Wehrmacht-Verbrechen umgegangen sind.
Untersuchungen, die den Kontinuitäten des deutschen Militärs nachspüren, enden zumeist 1945.4 Der heiße Krieg hat stets mehr Aufmerksamkeit gefunden als der Kalte. Dadurch wurden Bundeswehr und NVA in der historischen Forschung auf eigenartige Weise von ihren Vorläufern abgekoppelt. Die vorliegende Darstellung reicht hingegen bis zur Gegenwart. Sollte es so etwas wie eine nationale Militärkultur Deutschlands wirklich gegeben haben, dann ist zu fragen, was mit ihr nach 1945 passierte, was von ihr überdauerte, was geändert oder umgedeutet wurde. Das Trauma zweier verlorener Weltkriege, die Teilung Deutschlands, die Blockkonfrontation und die atomare Bedrohung formten ganz neue und höchst komplexe Rahmenbedingungen. Die Welt der Bundeswehr war eine völlig andere als die ihrer Vorgänger. Sie musste keine Kesselschlachten schlagen, keine Rückzüge organisieren, verübte keine Verbrechen. Dafür musste sie mit einem rasanten gesellschaftlichen Wertewandel5 zurechtkommen und sich fragen lassen, inwieweit sie in Zeiten der potenziellen atomaren Apokalypse überhaupt noch eine Existenzberechtigung hatte. Man probte zwar den Ernstfall, lebte aber im tiefen Frieden. Die Bundeswehr war gewissermaßen in einer doppelten Ambivalenz gefangen: Sollte sie vom Krieg oder vom Frieden her gedacht werden, und sollte sie sich in die lange Tradition deutscher Militärgeschichte stellen oder nicht? Eigentlich schlossen...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2020 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Afghanistan • bundesverteidigungsministerium • Bundeswehr • Hitler • Kaiserreich • Kolonialismus • kramp-karrenbauer • Kriegsverbrechen • Lambrecht • Manöver • Nationalsozialismus • NATO • NVA • Oberbefehl • Preußen • Putin • Rechtsextremismus • Reichswehr • Russland • Soldaten • Tradition • Ukraine • Ukrainekonflikt • Ukraine-Krieg • Vorbild • Wehrmacht |
ISBN-10 | 3-8437-2370-2 / 3843723702 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2370-1 / 9783843723701 |
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