Handlung, Glück, Moral (eBook)
350 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76364-3 (ISBN)
Ist Moralität notwendig für das Glück? Formuliert aus der Sicht des Individuums, das sich mit moralischen Forderungen konfrontiert sieht, verlangt diese Frage eine Erweiterung der Moraltheorie zu einer Theorie des guten Lebens. Diese setzt wiederum eine Klärung der Struktur menschlichen Handelns und Lebens voraus. In den hier vorliegenden Aufsätzen aus drei Jahrzehnten versucht die Autorin, von unterschiedlichen Problemen wie etwa der Willensschwäche und dem Zusammenhang von Tugend und Glück ausgehend, das antike Bemühen um eine solche Ethik im umfassenden Sinn wiederaufzunehmen und fortzuführen.
<p>Ursula Wolf ist Seniorprofessorin für Philosophie an der Universität Mannheim. Im Suhrkamp Verlag ist erschienen: <em>Eigennamen. Dokumentation einer Kontroverse</em>.</p>
26Alte tote weiße Europäer
Bernard Knox über die aktuelle Bedeutung der Antike
Das Interesse an den alten Sprachen geht immer weiter zurück. Vielleicht hängt es mit 1968 zusammen. Die kritische Hinterfragung überkommener Vorstellungen hat auch die Ideale des Bildungsbürgertums mit ihrem geschönten Vorbild der Griechen zum Einsturz gebracht. Das Griechische und das Lateinische werden zu Lerninhalten wie anderes, und da sie uns eher fern sind, gibt es wenig Motive, sie zu wählen. Daß das nicht notwendig so ist, zeigt die Rolle, die das klassische Bildungsideal nach wie vor in England spielt. Vielleicht hat die stärker empirische und pragmatische Mentalität der Engländer weniger idealisiert, so daß die Antike von vornherein nicht zu einem hohen Vorbild wurde, das bei kritischer Betrachtung um so tiefer stürzen mußte.
Aufschlußreich ist der amerikanische Bildungskrieg. Der Angriff auf die alten Sprachen entspringt dort nicht einer Kritik an unglaubwürdigen Idealisierungen. Vielmehr ist es ein moralischer Angriff, der aus dem feministischen und dem postmodernen Lager kommt. Der Vorwurf lautet: Als selbstverständliches Bildungsgut sind die alten Sprachen zugleich eine Diskriminierung der Frauen und Mißachtung anderer Kulturen. Denn die Alten, deren Schriften wir lesen, waren Männer, sie waren weiß, und sie waren Europäer: eine Subspezies der Menschheit, die »Dead White European Males«, wird bevorzugt. Das verstößt gegen die Prinzipien der Gleichheit und Gerechtigkeit.
Auch wenn diese Auseinandersetzung in Europa wenig virulent ist, sind die Argumente der angegriffenen Seite für uns doch aufschlußreich. Der englische Gräzist Bernard Knox sagt in seiner Essaysammlung »The Oldest Dead White European Males and Other Reflections on the Classics« (New York und London 1993):
Der Primat der Griechen im Kanon der westlichen Literatur ist weder ein Zufall noch das Ergebnis einer von oben auferlegten Verordnung. Er geht schlicht und einfach auf den inneren Wert des Materials zurück, auf seine Originalität und Brillanz. Was das multikulturelle Curriculum betrifft, das Ideal der heutigen radikalen Akademiker, so gibt es sicher keine guten 27Gründe gegen den Versuch, neuen Stoff aufzunehmen, der den Studierenden eine umfassendere Sicht vermittelt. Aber dieser neue Stoff wird sich mit dem alten messen müssen, und wenn er sich nicht auf demselben hohen Niveau bewegt, wird er früher oder später von den Studierenden selbst mit Geringschätzung zurückgewiesen werden. Nur ein totalitäres Regime kann das Studium zweitrangiger Texte oder überlebter Philosophien auf Dauer durchsetzen. Solange die ganz und gar griechische Vorstellung vom Wettkampf freies Spiel hat, muß man sich keine Sorge über die künftige Stellung der Griechen im Lehrplan machen. Selbst wenn sie hier und dort vorübergehend ausrangiert werden, werden sie sich ihren Platz zurückerobern. Sie haben die Probe der Zeit bestanden, länger als zweitausend Jahre, und sie sind ein Element unseres Charakters, unserer Natur geworden.
Diese Verteidigung der klassischen Bildung schätzt ihren Gegenstand realistisch ein. Bernard Knox setzt sich in dem Titel-Essay seines Buches kritisch mit den alten Griechen auseinander, und eine solche kritische Tendenz ist in der gesamten neueren angelsächsischen Literatur verbreitet. Knox verteidigt nicht die politische und gesellschaftliche Rechtlosigkeit der Frau in der Antike, weist aber auf die große Bedeutung der Frauenrollen in Tragödie und in Literatur hin. Er zeigt, daß der Verzicht auf eine Idealisierung der Antike ihre Bedeutung nicht schmälert. Vielmehr wird dadurch ein Dialog möglich, in dem sich erweist, daß die Griechen zwar nicht immer recht behalten, aber standhalten.
Nun haben auch Shakespeare und andere den Zeittest bestanden: Steht dies alles also auf einer Ebene mit den Griechen, oder haben sie darüber hinaus ein Gewicht? Knox antwortet, die humanistische Bildung sei eine Erziehung zur Demokratie. Die Sophisten haben eine intellektuelle Revolution angefacht und bildeten ihre Schüler darin aus, skeptische Fragen zu stellen, die keine definitive Antwort erlauben, sondern subversive Kraft entfalten und die Freiheit des Redens und Denkens offenhalten.
Knox zeigt damit allerdings nicht mehr, als daß eine Beschäftigung mit der Antike eine Möglichkeit bleibt, zu einer demokratischen Einstellung zu gelangen. Der Verweis auf die politische Verfassung der Griechen ist im übrigen ein zweischneidiges Argument. Denn auf die Griechen berufen sich auch diejenigen, die der liberalen Demokratie gegenüber kritisch eingestellt sind. Der von MacIntyre und anderen propagierte Rückgang auf die politische Gemeinschaft antiker Art, der unter dem Schlagwort »Kommu28nitarismus« verhandelt wird, ist inzwischen auch hierzulande zur Kenntnis genommen worden.
Dem Liberalismus, der nur formale Bedingungen vorgibt, nach denen die Personen ihren Vorstellungen gemäß leben können, werfen die Kommunitaristen vor, er sei unfähig, Bindung an das Gemeinwesen und Erfahrung von Lebenssinn zu erzeugen. Sie verweisen auf die Polis, in der das individuelle Leben wesentlich in das Gedeihen der Gemeinschaft integriert war. Daß die Demokratie im Athen der klassischen Zeit eine Quelle für starke Gemeinschaftsvorstellungen ebenso wie für Ideale freien Redens und Denkens ist, ist richtig, aber damit ist es noch nicht selbstverständlich, daß sie die beste Quelle für eine Erziehung zur Demokratie ist.
Ein stärkeres Argument enthält die Bemerkung von Knox, daß die Griechen ein Element unseres Charakters geworden seien. Das heißt nämlich, daß wir uns selbst nur verstehen können, wenn uns die antiken Hintergründe unserer Denk- und Handlungsweisen bekannt sind. Der englische Philosoph Bernard Williams vertritt in seinem Buch »Shame and Necessity« (Berkeley, Los Angeles, Oxford 1993) die noch stärkere These, daß die klassischen Vorstellungen nicht nur als ein wichtiger Teil unseres Selbstverständnisses präsent bleiben müssen, sondern daß sie noch heute in vieler Hinsicht die bessere und richtigere Sicht der Dinge enthalten.
Auch Williams, der inzwischen in Kalifornien lehrt, setzt sich in seinem Buch mit den Angriffen auf die Kategorie der »Dead White European Males« auseinander:
Es ist unzureichend anzunehmen, daß die griechische Vergangenheit interessant sein muß, nur weil sie »unsere« ist. Wir brauchen einen Grund, nicht so sehr um zu sagen, daß das historische Studium der Griechen in einer besonderen Beziehung dazu steht, wie die modernen Gesellschaften sich selbst verstehen können – denn so viel ist offenkundig –, sondern um zu sagen, daß diese Dimension des Selbstverständnisses wichtig ist. Ich denke, daß es einen solchen Grund gibt […]. Die grundlegenden ethischen Vorstellungen der Griechen waren in mancher Hinsicht von den unsrigen verschieden, in manch anderer aber folgen wir ganz ähnlichen Auffassungen wie die Griechen, ohne daß wir uns jedoch über das Ausmaß im klaren sind.
Die griechischen Begriffe des Handelns, der Verantwortung, der Scham und der Freiheit sind, so zeigt Williams in seinem Buch, 29in unserem Selbstverständnis nach wie vor zentral, und ihm zufolge könnten wir ein klareres und sinnvolleres Selbstverständnis gewinnen, wenn wir uns auf sie besinnen und von den aus jüdisch-christlichem Gedankengut stammenden Zutaten, etwa dem metaphysischen Willensbegriff, absehen würden. Die griechischen Vorstellungen enthalten Sichtweisen, die bis heute nicht ausgeschöpft sind. Cornelius Castoriadis hat dies so ausgedrückt, daß die Vorstellungen der Griechen weder ein Ideal noch ein beliebiger Teil von uns seien, sondern der Keim unserer Denk- und Handlungsweisen. Dadurch besäßen sie immer noch produktive Kraft (»The Greek Polis and the Creation of Democracy«, New School Graduate Faculty Philosophy Journal, Bd. 9, 1983).
Auch Castoriadis vergleicht die griechische und die jüdisch-christliche Weltsicht und ihre säkularen Nachfolger, indem er...
Erscheint lt. Verlag | 20.1.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Ethik |
Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit | |
Schlagworte | Aufsatzsammlung • Ethik • Praktische Philosophie • STW 2295 • STW2295 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2295 |
ISBN-10 | 3-518-76364-4 / 3518763644 |
ISBN-13 | 978-3-518-76364-3 / 9783518763643 |
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