Individuation (eBook)
272 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43656-4 (ISBN)
Christina Berndt studierte Biochemie, promovierte mit Auszeichnung in Immunologie, ist Autorin, Rednerin zu Themen aus Psychologie, Medizin, Wissenschaft und Wissenschaftsredakteurin der >SZ<. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. 2013 Wächterpreis der deutschen Tagespresse, 2019 Ehrenpreis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie wurde mehrfach unter die Wissenschaftsjournalisten des Jahres gewählt.
Christina Berndt studierte Biochemie, promovierte mit Auszeichnung in Immunologie, ist Autorin, Rednerin zu Themen aus Psychologie, Medizin, Wissenschaft und Wissenschaftsredakteurin der ›SZ‹. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. 2013 Wächterpreis der deutschen Tagespresse, 2019 Ehrenpreis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Sie wurde mehrfach unter die Wissenschaftsjournalisten des Jahres gewählt.
Einleitung
»In jedem von uns ist auch ein anderer,
den wir nicht kennen.«
Carl Gustav Jung
Am Anfang war da nur Ähnlichkeit. Als Paul und Jan Holst* 1982 geboren werden, ist die ganze Familie entzückt. Zwillinge! Kaum auseinanderhalten lassen sich die beiden Jungen, auch in ihrem Wesen nicht. Zupackend sind sie und lebensfroh. Die gehen schon ihren Weg, denkt die Mutter, da muss man sich keine Sorgen machen. Doch in der Pubertät werden die Unterschiede zwischen den beiden größer. Paul entwickelt Ehrgeiz, macht Abitur, studiert. Jan aber lässt sich mit zwielichtigen Typen ein, wird kriminell, schlägt auch mal zu. Vorläufiger Höhepunkt seiner Karriere: eine zweijährige Haftstrafe.
Wie nur kommt es, dass die beiden jungen Männer mit ihren so ähnlichen Startbedingungen dann doch so unterschiedliche Lebensgeschichten haben? Was macht aus dem einen den strebsamen, gesellschaftlich tragfähigen und die Gesellschaft mittragenden jungen Mann und aus dem anderen einen rücksichtslosen Egoisten, der sich zur Befriedigung seiner eigenen Interessen über Eigentum und Rechte der anderen hinwegsetzt? Reicht ein falscher Freund zur falschen Zeit, um unsere Zukunft einschlägig zu bestimmen, oder müssen schon viele Faktoren zusammenkommen, damit der Lebensweg eine andere Biegung nimmt?
Wie wir werden, wer wir sind: Die Frage beschäftigt fast jeden Menschen – spätestens an den großen Wendepunkten im Leben oder wenn er in eine Krise gerät. Was hat mich zu dem gemacht, der ich bin? Wäre ich ein anderer geworden, wenn die Bedingungen bessere gewesen wären? Weshalb reagiere ich so sentimental, aggressiv oder verletzt, wenn mir jemand Vorwürfe macht? Wie könnte ich ein besseres, glücklicheres Leben führen? Und wie kann ich mich gegen die negativen Einflüsse schützen, die mich in einer Weise verändern, die mir selbst nicht gefällt?
Auch Wissenschaftler beschäftigen sich mit diesen Fragen derzeit besonders intensiv. Psychologen, Hirnforscher und Soziologen fahnden danach, wie das Wesen eines Menschen Gestalt annimmt. Dabei müssen die Experten einräumen: Sie sind viele Jahre lang von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Lange glaubten sie, dass die Persönlichkeit jedes Menschen im Kern festgelegt sei. Dass er – in seinen jungen Jahren womöglich verformt und aus dem Tritt gebracht – später nach sich selbst suchen und sich dann auch selbst verwirklichen könne. Ob Psychoanalytiker, Kommunisten, Existenzialisten oder Hippies: Sie alle waren fasziniert von der Idee der Selbstverwirklichung. Doch mittlerweile müssen die Experten einräumen: Sie sind viele Jahre lang von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen.
Zweifelsohne kommen wir mit einem ausgeprägten Charakter zur Welt, der schon bald nach der Geburt für andere zu erkennen ist. Aber wie sich dieser entwickelt, wird erheblich von dem beeinflusst, was wir erleben und wem wir begegnen. An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit oder von einer anderen Familie aufgezogen, wären wir ein ziemlich anderer Mensch geworden.
»Vom Augenblick der Geburt an verändert sich der Mensch in seinem Wesen«, sagt Werner Greve, Professor für Entwicklungspsychologie, »das beginnt schon in der allerersten Sekunde.« Jeder Mensch unterliegt tagtäglich immer neuen Einflüssen. Noch dazu zimmert er sich das, was er für sein Ich hält, im Zusammenspiel mit seinem Umfeld, seinen Lebenserfahrungen, seinen Unterstützern und Widersachern so hin, wie es für ihn passt. Er erfindet sein Ich mehr, als dass er es findet. Das Ergebnis ist ein Ich, das sich in das große Puzzlespiel des Lebens eingefügt hat und das sich spätestens dann wieder verändert, wenn es die umgebenden Teilchen tun.
Das Zauberwort dabei heißt Resonanz: Das Phänomen bezeichnet ursprünglich das Mitschwingen eines Systems in der Akustik. Doch Resonanz findet tagtäglich nicht nur in unserem Innenohr statt, sondern auch in unserem sozialen Miteinander. Zunehmend wird sie daher von den Humanwissenschaften entdeckt. Der Soziologe Hartmut Rosa hat die Bedeutung der Resonanz zuletzt für das Leben in einer Gesellschaft herausgearbeitet. Er beschreibt Resonanz als das Gefühl, das sich einstellt, wenn Menschen eingebunden sind in eine »Weltbeziehung«. Wir erfahren Resonanz, wenn wir eine sinnvolle Aufgabe erfüllen, auf die wir womöglich auch noch positive Rückmeldungen erhalten, wenn uns beim Blick aufs Meer oder oben auf einem Berg das Herz aufgeht, wenn wir uns mit engen Freunden die Ohren heißreden, wenn Musik unsere Seele berührt oder wenn unser Team ein Tor schießt. Und wenn die Resonanz fehlt, werden wir unserer Welt entfremdet.
Mehr und mehr beschäftigt das Thema Resonanz inzwischen die Psychologie. Auch die Seele des Menschen ist schließlich ein mitschwingendes System. Sie entwickelt sich in Reaktion auf äußere Einflüsse weiter. Begegnungen, Erlebnisse und Erfahrungen klingen in ihr nach, verändern sie und werden wieder nach außen getragen. Der Mensch tauscht sich ständig mit seiner Umgebung aus, wird beeinflusst in seinem Sein und seinem Bewusstsein.
Das Phänomen wirkt auf uns weit über den Moment hinaus. Am Ende verankert sich Resonanz sogar in den Genen, wie der neue Forschungszweig der Epigenetik eindrücklich gezeigt hat. Was immer wir erleben, wird als chemisches Signal ins Erbgut geschrieben. Und wenn das Resonanzempfinden besonders groß ist, sind die molekularen Veränderungen an unseren Genen später kaum mehr zu löschen.
Dabei ist Resonanz keineswegs immer positiv. Der Mensch ist eben nicht nur mitschwingfähig im Gespräch mit anderen, wo man sich gegenseitig Bestätigung und Wohlfühlmomente zollt, oder in seinem Konferenzstuhl, wo er dem Chef regelmäßig zunickt und karrierefördernde Zustimmung signalisiert. Der Mensch schwingt auch mit der negativen Umwelt mit. Als soziales Wesen nimmt er auf, was um ihn herum passiert. Ein liebevolles Umfeld kann für ein fröhliches Welterleben sorgen, ein bösartiges dagegen kann bewirken, dass negative Erfahrungen in manchen angstbesetzten Situationen immer wiederkehren. Selbst Fremdenfeindlichkeit und Faschismus sind Resonanzereignisse, und zwar starke.
Im Laufe der Jahrzehnte bekommt ein Mensch jede Menge Schwingungen zu spüren. Manche erschüttern ihn, andere berühren ihn zart. So macht er bereichernde Erfahrungen, erlebt mitreißende Bestätigung und erleidet Verletzungen. Kurz: Er wird zu dem, was wir einen reifen Menschen nennen. Reif ist jemand, der viel erlebt hat und der sich von diesem Erleben verändern ließ. Reif ist nicht der, der darauf beharrt, so zu sein, wie er schon immer war, sondern jemand, der sich entwickelt hat, der durch seine Erfahrungen klüger geworden ist. Reifen ist also ein Prozess. Es bedeutet nicht, sich selbst zu finden, sondern sich im Widerhall auf das Leben zu verändern.
Bevor die Idee von der Selbstfindung die westliche Welt eroberte, hatten Philosophen bereits eine Ahnung davon, dass sich der Mensch in seinen selbstgewählten oder hingeschubsten Platz in der Welt einfügt. Schon in der Antike sprachen die Stoiker davon, wie sich der Mensch »selbst im Tun entwirft«. Moderner ausgedrückt: Wie man etwas wird. Wie man man selbst wird. Oder wie man sich sein Ich schafft. Es ist ein Prozess der Ich-Werdung, der Individuation.
Häufig geschieht dies passiv und unbewusst. Wir werden geprägt, schwingen mit, übernehmen Ideen anderer Menschen und passen uns an. Aber natürlich nehmen wir auch aktiv Einfluss. Wir sind nicht nur ein Spielball unserer Erlebnisse. Wir steuern schließlich auch, was wir erleben. So entscheiden wir uns gegen Freunde, die uns nicht guttun, oder wählen einen Beruf, der uns den ersehnten sozialen Status gibt, anstatt unseren Begabungen zu folgen. Wir gründen eine Familie oder verbringen viel Zeit im Ausland, wo wir uns ganz neuen, bisher unbekannten Schwingungen aussetzen. »Je nachdem, wie wir die Weichen für unseren Lebensweg stellen, stehen wir vor ganz unterschiedlichen Anforderungen, denen wir uns naturgemäß anpassen – und das hinterlässt Spuren in der Persönlichkeit«, sagt Jule Specht, die Inhaberin des Lehrstuhls für Persönlichkeitspsychologie an der Humboldt-Universität Berlin ist und zu den ausgewiesensten Kennern ihres Fachs gehört.
Jeder etwas in die Jahre gekommene Mensch weiß von sich, dass er sich in einem gewissen Maße verändert hat. Man begeistert sich plötzlich für Dinge, die einem früher egal waren. Und umgekehrt lächelt man nur noch müde über etwas, das einen in seiner Jugend faszinierte. Das muss nicht zwingend einen grundlegenden Wandel der Persönlichkeit bedeuten. Man muss als Mittvierziger nicht mehr auf jede Party gehen, wie man es als Mittzwanziger noch tat, und kann doch weiterhin ein extrovertierter, gesprächiger Zeitgenosse sein. Vielleicht plauscht man jetzt auf dem Weg zum Supermarkt an jedem Gartentor statt bis tief in die Nacht in der Disko. Aber es gibt sie eben auch, die Veränderungen, die aus einer einstmals menschenscheuen Person eine kommunikative Persönlichkeit machen und aus einem ordnungsliebenden, korrekten Menschen jemanden, der Rechnungen verschlampt und seine dreckigen Socken nicht mal dann wegräumt, wenn Besuch kommt.
Menschen ändern sich, und sie können an ihrem Wesen arbeiten. Dabei ist natürlich eine Portion Realismus sinnvoll: »Mit 55 kann man noch tanzen lernen, aber nicht jeder hat in diesem Alter noch das Potenzial zum Flamencotänzer«, sagt der Entwicklungspsychologe Werner Greve. Weniger als...
Erscheint lt. Verlag | 23.12.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Angewandte Psychologie • Ausgabe • Big Five • Charakter • Darmflora • Depression • Entwicklung • Erziehung • Genetik • Ich-Werdung • Identität • Identitätswandel • Joachim Bauer • Kindheit • Lebensentscheidungen • Lesen in Quarantäne • Neurowissenchaften • Neurowissenschaft • Optimierung • Persönlichkeit • Persönlichkeitsentwicklung • Persönlichkeitspsychologie • Persönlichkeitstests • Psychologie • Quarantäne • Quarantäne Sachbuch • Reifung • Resonanz • Sachbuch Bestseller • sachbuch bestseller 2020 • Sachbuch Neuerscheinung 2020 • Schlaf • Selbstbewusstsein • Selbstbild • Selbstfindung • Stress • Studien • Wandel der Persönlichkeit • Wandlung |
ISBN-10 | 3-423-43656-5 / 3423436565 |
ISBN-13 | 978-3-423-43656-4 / 9783423436564 |
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