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»Ausschaltung der Juden und des jüdischen Geistes« (eBook)

Nationalsozialistische Kulturpolitik 1920-1945
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
644 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44269-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Ausschaltung der Juden und des jüdischen Geistes« -  Jörg Osterloh
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Bereits im Februar 1920 forderte die NSDAP den Kampf gegen eine »zersetzende« Kunst und Literatur und den Ausschluss von Juden aus dem Journalistenberuf. Das grundsätzliche Ziel lautete: Alle Juden und alles »Jüdische« sollten aus dem deutschen Kulturleben entfernt werden. Dieses Buch untersucht erstmals systematisch die Ausschaltung der Juden aus Kunst, Musik, Literatur, Theater und Film - von der Gründung der NSDAP bis zur Ermordung jüdischer Künstler im Holocaust. Jörg Osterloh spannt den Bogen von der frühen antijüdischen Propaganda und den ersten Allianzen der NSDAP mit bürgerlich-konservativen Parteien in Stadträten bis zur Umsetzung der kulturpolitischen Ziele der NSDAP in der Regierungsverantwortung, zunächst ab 1930 auf Länder-, schließlich ab 1933 auf Reichsebene. Neben den Institutionen des NS-Staates gilt der Blick auch dem Jüdischen Kulturbund, der arbeitslosen jüdischen Künstlern Auftritts- und Verdienstmöglichkeiten und Darbietungen für ein jüdisches Publikum bot.

Jörg Osterloh, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main.

Jörg Osterloh, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main.

Inhalt
Einleitung 9
I. Wurzeln: Der Kampf gegen die »Verjudung«
der Kultur im Kaiserreich 41
Die rechtliche Gleichstellung der Juden und ihre Folgen 42
Antisemitische Angriffe auf erfolgreiche Künstler 49
Von der »Verjudung« zur »Entartung« 52
Organisierter Antisemitismus: Neue Parteien und Verbände 60
Der »deutsch-jüdische Parnaß« 64
Die Zeit des Ersten Weltkriegs 70
II. Revolution und Republikgründung: Der Hass auf die »Judenherrschaft« 75
Kulturpolitische Zäsuren 76
»Jüdische Literaten« und die Münchner Räterepublik 78
Grundmuster antisemitischer Agitation 83
Antisemitisch und republikfeindlich: Der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund 87
Die Thule-Gesellschaft und die Gründung der Deutschen Arbeiterpartei 91
Theaterbühnen als Schauplätze des kulturpolitischen
Kampfes von rechts 94
III. Parteigründung: Die NSDAP und der Angriff
auf die junge Republik der Moderne 103
Eine rechtsradikale Partei unter vielen 104
Die Theaterskandale um Ernst Tollers »Masse Mensch« und Arthur Schnitzlers »Reigen« 109
Standortbestimmung der NSDAP 117
Nationalsozialistische Angriffe auf Presse und Kulturleben 124
Der Dresdner »Hinkemann«-Skandal 133
Abwehrstrategien der Angegriffenen 141
IV. Kulturkämpfe: Von der Neugründung der NSDAP bis
zur ersten nationalsozialistischen Stadtregierung in Coburg 147
Hitlers Mein Kampf149
Der Kampf gegen »Schund und Schmutz« im Reichstag 1925/26 153
Schmähungen und Krawall: NS-Kulturpolitik in Kommunen und Ländern 158
»Sündenbabel« Berlin: Nationalsozialistischer Angriff auf die Reichshauptstadt und auf Preußen 168
Aus der Niederlage geboren: Der Kampfbund für deutsche Kultur 181
Die Agitation der NSDAP gegen ein Engagement Max Reinhardts in München 185
Sinnbilder der »verjudeten« Kultur im »roten Berlin«: Kroll-Oper und Piscator-Bühne 191
Wachsender Einfluss der NSDAP in der Provinz 198
V. Kampf um die Macht: NS-Kulturpolitik zwischen
Straße und Parlament 203
Die Baum-Frick-Regierung in Thüringen 1930/31 203
»Heißer Herbst« 1930: Die Septemberwahlen zum Reichstag und ihre Folgen 218
Inszenierte Bühnenkrawalle 230
Eine »auf kulturell frisierte SA«: Die Tätigkeit des Kampfbundes für deutsche Kultur 239
Weiterer Vormarsch in der Provinz 245
Der Kampf um Preußen 255
VI. An der Macht: Terror und Neuordnung des Kulturlebens 275
Politische Weichenstellungen und erste »Säuberungen« 276
Die Märzwahlen und ihre Folgen 285
Das »Berufsbeamtengesetz« und die Entlassung jüdischer Künstlerinnen und Künstler 299
Erste »Säuberungen« der bildenden Kunst 320
Die Bücherverbrennungen im Mai 1933 327
Die »Entjudung« der Presse 336
Die Gründung der Reichskulturkammer 346
Der Jüdische Kulturbund in Berlin 353
VII. Unter Hinkels Kontrolle: Die »Entjudung«
der Reichskulturkammer 369
Die ersten Schritte der Einzelkammern zur »Berufsbereinigung« 372
Neue Konflikte um eine nationalsozialistische
Kulturpolitik 379
1936: »Trügerische Ruhe« in der staatlichen Judenpolitik 405
Der Weg zur Gründung des Reichsverbandes Jüdischer Kulturbünde 418
VIII. Radikalisierung: Die forcierte »Säuberung« der Reichskulturkammer und des Kulturlebens 441
Bestandsaufnahme in der Reichskulturkammer 442
Propaganda- und »Schandausstellungen« 450
Der SD und die Ausschaltung der Juden aus dem Kulturleben 457
1938: Vom »Anschluss« Österreichs zum Novemberpogrom 470
Neue »Richtlinien« für die »Entjudung« der Reichskulturkammer 477
Zunehmende Repressionen und Verbote: Die Arbeit der Jüdischen Kulturbünde 486
IX.

Einleitung Am 15. November 1935 erklärte Joseph Goebbels pathetisch, es sei »im Kulturleben unseres Volkes kein Jude mehr tätig«. Man habe aber, so fuhr der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und Präsident der Reichskulturkammer fort, »den aus dem Kulturleben ausgeschiedenen Juden in großzügigster Weise Möglichkeiten zur Pflege ihres kulturellen Eigenlebens gegeben«. Der Kampf gegen die angebliche »Verjudung« des deutschen Kulturlebens war seit der Gründung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) im Februar 1920 eines ihrer erklärten Ziele. Mit ihren Forderungen standen die Nationalsozialisten aber keineswegs allein, die »Entjudung« der Kultur war eine im deutschvölkischen Milieu gängige Forderung. Das Kulturleben war nach Einschätzung Saul Friedländers »möglicherweise der sensibelste Bereich« der 1871 mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs erlangten rechtlichen Gleichstellung der Juden: Denn die Kultur - vor allem die Musik, die Literatur, das Theater und die bildende Kunst - galt seit dem späten 18. Jahrhundert als das einigende Band der in Einzelstaaten zersplitterten deutschen Nation und als wichtiger Ausdruck von Deutschlands Größe. Den deutschen Juden wurde vorgehalten, dass sie nicht nur in Handel und Bankwesen, sondern auch in den Kulturberufen - etwa als Schriftsteller und Journalisten oder als Schauspieler und Musiker -, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, überproportional vertreten seien und verderblichen Einfluss ausübten. Als ein besonders gravierendes Problem machten Antisemiten die vermeintliche »Verjudung« der deutschen Presse aus, die aus ihrer Sicht die Grundlage für die vollständige »Verjudung« des politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens schuf. Die Forderung, endlich wieder »Herr im eigenen Haus« zu werden, war seit dem späten 19. Jahrhundert im Bürgertum weit verbreitet. Diese Situation wurde dadurch weiter verschärft, dass zur gleichen Zeit neue Ausdrucksformen in den Künsten an die Öffentlichkeit traten. Der Begriff der »Moderne« kam um die Jahrhundertwende auf. Er beschrieb nicht nur einen universalgeschichtlichen Epochenbegriff, sondern stand vor allem für »Aktualität, Beschleunigung und Wechsel« in Kunst und Literatur und ihre zunehmende Internationalisierung. Durch den sich daraus ergebenden »Stil- und Formenpluralismus« wurden die Künste unüberschaubar. Zugleich verschwammen die Grenzen zwischen der traditionellen Hochkultur (wie etwa dem Theater, der Oper und der Musik) und der Massenkultur (etwa durch das Kino, die Schallplatte und den Rundfunk), die mit der rasant voranschreitenden Technisierung des Alltags aufgekommen war. Immer größere Teile der Bevölkerung konnten am Kulturleben teilhaben, sodass viele Bildungsbürger sich um den Verlust ihrer »kulturellen Hegemonie« sorgten und Kulturpessimisten wie Paul de Lagarde oder Julius Langbehn Ende des 19. Jahrhunderts den Niedergang der deutschen Kultur beklagten. In den zunehmend erhitzten Debatten war von »deutscher Kunst«, »deutschen Werten«, »deutschem Geist« oder auch »deutscher Art« die Rede. Alles, was den damit verbundenen Ansprüchen nicht genügte, wurde als »undeutsch«, »artfremd« oder auch »entartet« abqualifiziert. Allerdings waren die Begriffe unscharf: Weder war exakt definiert, was etwa »deutsche Kunst« war, noch was der »(kulturellen) Moderne«, die es monolithisch aufgrund der Vielfalt ja auch nicht geben konnte, zuzuordnen war. Entsprechend fließend waren die Übergänge. Auch Werke der Moderne konnten als »deutsch« gelten. Die Ablehnung der Moderne war jedoch keineswegs eine deutsche Erscheinung; auch in Frankreich, England und anderswo kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. In Deutschland aber setzten die Antisemiten die Moderne schlechthin, die vielfältigen kulturellen Entwicklungen, die sich von den Traditionen etwa in der bildenden Kunst oder in der Musik abgrenzten, in Beziehung zu »den Juden« und, nach dem Ende des Kaiserreichs, zur als »Judenrepu­blik« geschmähten Weimarer Demokratie. Tatsächlich, so Saul Friedländer, war »der ?verderbliche? Einfluß von Juden auf die deutsche Kultur [...] das meistverbreitete Thema des Antisemitismus von Weimar«. Der noch lauter als zuvor erhobene Vorwurf beklagte eine Verschwörung »der Juden«, die die deutsche Kultur angeblich »zersetzen« wollten. Als geeignete Gegenmaßnahme sahen viele, nicht nur die Nationalsozialisten, die Ausschaltung der Juden aus dem Kulturleben. Übergriffe auf missliebige Künstlerinnen und Künstler - vor allem Juden, aber auch politisch Verfemte - waren in der Weimarer Republik häufig und ihre Zahl nahm seit Ende der 1920er Jahre weiter zu. Eine führende Rolle bei der antijüdischen Hetze spielte der 1929 im Auftrag der NSDAP von Alfred Rosenberg, dem Chefideologen der Partei, gegründete Kampfbund für deutsche Kultur. Dass es sich bei den weitreichenden Forderungen zur »Entjudung« des Kulturlebens nicht um Lippenbekenntnisse handelte, machten die Nationalsozialisten zunächst in Thüringen deutlich, wo die NSDAP im Januar 1930 erstmals in eine Landesregierung eintrat. Der thüringische Nationalsozialist Hans Severus Ziegler schrieb in der Rückschau, man solle sich daran erinnern, wie »wir das Weimarer Schloßmuseum schon von den schlimmsten Auswüchsen der entarteten Kunst säuberten«. Angesichts dieser Entwicklung stellte der Schriftsteller Lion Feuchtwanger 1931 fest: »Was also die Intellektuellen und Künstler zu erwarten haben, wenn erst das Dritte Reich sichtbar errichtet wird, ist klar: Ausrottung.« Feuchtwanger hatte also ganz richtig erkannt, dass die Nationalsozialisten eine große Bedrohung für den freien, kritischen Geist in Deutschland waren - und für die deutschen Juden, wie er selbst seit Mitte der 1920er Jahre mehrfach hatte erleben müssen. Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 rangen in der Kulturpolitik zunächst unterschiedliche ideologische Strömungen innerhalb der NSDAP und mehrere Parteigrößen miteinander um Einfluss. Neben Alfred Rosenberg waren dies vor allem der kommissarische Preußische Innenminister Hermann Göring, Reichsbildungsminister Bernhard Rust, der Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF) Robert Ley und Joseph Goebbels. Die kulturpolitisch Verantwortlichen hatten lediglich klare Vorstellungen davon, was und vor allem wen man nicht wollte; in einem Punkt herrschte aber Einigkeit: »Die Juden« sollten »ausgeschaltet« werden. In einem NS-Propagandafilm, der vermutlich im Mai 1933 in die Kinos kam, erklärte Göring: »Ich werde mit eisernem Besen auskehren [...]. Ich werde den Kampf gegen Schmutz führen für die Sauberkeit und die gute deutsche Sitte. Die Städte müssen wieder gesäubert werden von ihren volks- und rassetrennenden Erscheinungen, die durch ihre zersetzende Tätigkeit deutsche Sitten untergraben und das Laster gepredigt« haben. Im selben Film kündigte Goebbels in staatsmännischer Pose an, dass jetzt »der legale Umformungsprozeß des deutschen Volkes in allen Gebieten und in allen Einzelteilen« beginne. »Das, was wir 14 Jahre in der Opposition forderten, das werden und müssen wir nun in der Regierung durchsetzen.« Mehrere Tausend im Kulturleben Tätige gerieten in das Visier der Natio­nalsozialisten, weil sie Juden oder jüdischer Herkunft waren: Schauspieler, Regisseure und Intendanten, Musiker, Sänger und Dirigenten, Schriftsteller und Journalisten. Zu ihnen zählten (teilweise welt-)berühmte Künstler wie der Tenor Richard Tauber, der Dirigent Bruno Walter, der Journalist Kurt Tucholsky, der bereits erwähnte Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der Maler Max Liebermann oder der Theaterregisseur und -intendant Max Reinhardt. Neben diesen Prominenten gab es freilich die - erheblich größere - Gruppe der kaum oder gar nicht bekannten jüdischen Kulturschaffenden. Viele waren Angestellte von Theatern, Orchestern oder Verlagen, die meisten aber waren Freiberufler - und hatten daher bereits in der Weimarer Republik unter oftmals prekären Bedingungen gearbeitet. Zahlreiche prominente und vor allem politisch verfemte jüdische Künstlerinnen und Künstler flohen bereits in den ersten Wochen der NS-Herrschaft oder wurden von den Nationalsozialisten brutal aus dem Reich vertrieben. Die Mehrzahl aber blieb zunächst in Deutschland. Wie Goebbels erklärt hatte, verstanden die Nationalsozialisten die »Säuberung« der Kultur als Teil des nationalsozialistischen »Umformungsprozesses« in Deutschland. Die nationalsozialistische Kulturpolitik war damit aber auch Teil der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten. Auch wenn es in den ersten Jahren der NS-Herrschaft retardierende Momente wie etwa Rücksichtnahmen auf das Ausland gab, radikalisierte diese sich stetig und durchdrang nach und nach alle Bereiche des öffentlichen Lebens: die Politik, die Wirtschaft, das Bildungswesen, den Sport, das Vereinswesen und auch das Kulturleben. Am 13. März 1933 wurde das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVuP) errichtet. Zum Minister ernannte Hitler Joseph Goebbels, der von Anfang an bestrebt war, »Parteiziele im Kulturbereich durch staatliche Institutionen realisieren zu lassen«. Das neue Ressort übernahm de facto auch die Funktion eines Reichskulturministeriums. Zu seinem wichtigsten institutionellen Unterbau wurde die im Herbst 1933 geschaffene Reichskulturkammer (RKK) mit ihren Einzelkammern. Sie hatte den Charakter einer berufsständischen Zwangsvereinigung. Nur Mitglieder der Reichskulturkammer durften im NS-Staat künstlerisch tätig sein - und Mitglied durfte nur werden, wem »Eignung« und »Zuverlässigkeit« attestiert wurden. Damit war sie das zentrale Instrument zur Ausschaltung politisch Missliebiger und vor allem aller Juden aus dem Kulturleben. Bereits im Juli 1933 hatten die NS-Behörden die Gründung des Kulturbunds Deutscher Juden in Berlin genehmigt. Er sollte zum einen den zahlreichen arbeitslos gewordenen jüdischen Künstlern ein Auskommen sichern. Er erleichterte zum anderen den NS-Behörden aber auch die Überwachung des jüdischen Kulturlebens. Mitglied des Kulturbunds konnte jede Person werden, die nach den nationalsozialistischen Bestimmungen als Jude galt. Für die Kontrolle des Kulturbunds war Hans Hinkel zuständig, der seit Ende März 1933 »Staatskommissar zur besonderen Verwendung« im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung war. 1935 gab es schon mehr als 35 regionale oder lokale jüdische Kulturbünde mit etwa 70.000 Mitgliedern, die sich im August 1935 zu einem Reichsverband zusammenschließen mussten. Goebbels hatte in seiner eingangs zitierten Rede auf der zweiten Jahrestagung der Reichskulturkammer in der Berliner Philharmonie, wie so oft, gelogen: Weder waren zu diesem Zeitpunkt bereits alle Juden aus der Reichskulturkammer und damit aus dem Kulturleben in Deutschland ausgeschlossen, noch gestattete der NS-Staat den Juden tatsächlich die freie Gestaltung eines Kulturlebens. Vielmehr hatten die Einzelkammern noch sehr lange damit zu tun, ihre »nichtarischen« und »jüdisch versippten« Mitglieder zu erfassen, um die Voraussetzung für die systematische »Säuberung« zu schaffen. Zugleich erhielten zahlreiche »Nichtarier« und vor allem »jüdisch Versippte« aber sogenannte Sondergenehmigungen, die ihnen bis auf Widerruf eine künstlerische Betätigung ermöglichten. Alle mit Berufsverbot belegten »Nichtarier« mussten hingegen darauf hoffen, im Jüdischen Kulturbund ein Auskommen zu finden. Jene, die nicht rechtzeitig ihr Heil in der Emigration gesucht hatten, wurden wie alle anderen Juden in Deutschland nach dem Novemberpogrom entrechtet und die meisten von ihnen später deportiert und ermordet. Dazu zählten zahlreiche Schauspieler und Schriftsteller, die auf ihre Muttersprache angewiesen waren und denen ein beruflicher Neubeginn in einem fremdsprachigen Land schwergefallen oder unmöglich gewesen wäre, aber auch viele, denen es an den finanziellen Möglichkeiten oder einem geeigneten Zufluchtsort gemangelt hatte. Eingrenzung des Themas Die vorliegende Studie untersucht die Ausschaltung aller Juden aus dem Kulturleben in Deutschland durch die Nationalsozialisten. Der Bogen spannt sich zeitlich von der Gründung der NSDAP 1920 bis zum Ende des Dritten Reiches im Mai 1945 und räumlich über das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937. Aus der Entwicklung der NSDAP ergeben sich Schwerpunkte: Auf Ebene der Länder stehen außer Bayern, wo die Partei ihren Ursprung hatte, besonders Thüringen, Braunschweig und Oldenburg im Fokus - und damit die wichtigsten jener Staaten, in denen die Nationalsozialisten vor 1933 in die Regierungsverantwortung eintraten -, und Preußen, das mit Abstand größte und bevölkerungsreichste Land des Reiches; auf Ebene der Städte München, die »Hauptstadt der Bewegung«, und Berlin, die Hauptstadt und das kulturelle Zentrum des Reiches. Ziel ist es, die grundlegenden Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Deshalb werden in manchen Fällen gut bekannte Ereignisse wegen ihrer Bedeutung für die Zuspitzung der NS-Kultur- und Judenpolitik ausführlich diskutiert, in anderen Fällen aber nur kurz oder gar nicht erwähnt. Anders gesagt: Nicht jedes Ereignis, das an einem Ort große Aufmerksamkeit erfuhr, ist bei der Darstellung der reichsweiten Entwicklung notwendigerweise zu erwähnen. Der Kreis der handelnden und der betroffenen Personen bei der NS-Judenverfolgung im Kulturleben war groß. In dieser Studie geht es vor allem um die Täter. Sie lotet aus, welche Institutionen und Personen an der Ausschaltung der Juden beteiligt waren, und beschreibt ihre jeweiligen Motive und Ziele (die sich im Lauf der Zeit durchaus wandeln konnten). Außer der NSDAP mit ihren Parteidienststellen und angeschlossenen Verbänden, allen voran dem Kampfbund für deutsche Kultur, staatlichen Einrichtungen wie dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, der Reichskulturkammer und den zuständigen Länderministerien gilt der Blick auch den Akteuren in den Kultureinrichtungen selbst, etwa in Theatern und Orchestern. In dieser Studie geht es aber auch um eine Geschichte jener, die als »Nichtarier« von Ausgrenzung und Ausschaltung aus dem Kulturleben betroffen waren. Sie bildeten selbstverständlich keine homogene Gruppe; schon allein weil sie, zumindest in den ersten Jahren der NS-Herrschaft, unterschiedliche Handlungsoptionen hatten, je nach Beruf, Bekanntheitsgrad oder Funktion beispielsweise im Gefüge eines Ensembles. Diese Handlungsoptionen änderten sich aber im Laufe der Zeit und wurden schließlich immer geringer. Auch traten »die Juden« keineswegs geschlossen für »die Moderne« ein, wie die Antisemiten behaupteten; vielmehr dürfte ein Großteil der jüdischen Künstlerinnen und Künstler ebenso wie die jüdischen Kunst­interessierten »Traditionalisten« gewesen sein. Viele gingen - wie von Lion Feuchtwanger 1931 düster prophezeit - in die Emigration; wer aber während des Krieges in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten wieder unter die Herrschaft des NS-Regimes geraten bzw. wem die Flucht aus Deutschland nicht gelungen war, wurde schließlich deportiert und im Holocaust ermordet. Zudem betrachtet diese Studie jene Dritten, die weder als Nationalsozialisten oder Angehörige der Verwaltung die Ausschaltung der Juden aus dem Kulturleben ins Werk gesetzt haben, noch Opfer der antijüdischen Kulturpolitik wurden: Zuschauer, Leser, Hörer und vor allem Kollegen. Ihr Verhalten war insbesondere in der Endphase der Weimarer Republik und in der Frühzeit des NS-Regimes sowohl für die Täter wie für die Opfer von großer Tragweite: Im Mikrokosmos einer Bühne beispielsweise, gleich ob ein bedeutendes Staatstheater oder ein kleines Stadttheater, konnte sich auf Dauer niemand dem Eindringen von Politik, Antisemitismus und Verfolgung entziehen. Kollegen mussten ebenso wie Zuschauer schon früh Stellung beziehen. Protestaktionen in Theatern etwa waren immer wieder ein Lackmustest, wie das Publikum reagieren würde, ob es sich gegen diese wenden, diese stillschweigend hinnehmen oder sich diesen sogar anschließen würde. Ihre Wirkung

Erscheint lt. Verlag 22.7.2020
Reihe/Serie Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Antisemitismus • Deutschland • Entartete Kunst • Film • Geschichte • Judenverfolgung • Kino • Kultur • Kulturpolitik • Kunst • Literatur • Musik • Nationalsozialismus • NS-Kulturpolitik • NS-Propaganda • NS-Terror • Theater • Weimarer Republik
ISBN-10 3-593-44269-8 / 3593442698
ISBN-13 978-3-593-44269-3 / 9783593442693
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