Hegels Philosophie (eBook)
431 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-3765-1 (ISBN)
Walter Jaeschke (geboren 1945, gestorben 2022) war Professor für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Deutschen Idealismus an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1998 bis 2016 war er Direktor des dortigen Hegel-Archivs. Er war Leiter und Herausgeber der Ausgabe »G.W.F. Hegel. Gesammelte Werke« (bis 2016 herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften) sowie der Werke- und der Briefwechsel-Ausgaben Friedrich Heinrich Jacobis.
II. Ein Rundblick – das Corpus der Frankfurter Schriften Hegels
Durch die Vordatierung eines wichtigen Teils der vermeintlichen ‚Frankfurter Schriften‘ wird die bisher so schroff erscheinende Zäsur zwischen Hegels Berner und Frankfurter Arbeiten zwar nicht eingeebnet, aber doch geglättet, und hierdurch werden die ‚religionsphilosophischen‘ Arbeiten Hegels aus der Frankfurter Zeit etwas ‚ausgedünnt‘. Doch damit scheint mir nichts verloren – im Gegenteil: Diesem kleinen ‚Verlust‘ steht ein beträchtlicher Gewinn gegenüber.
Vor gut einhundert Jahren hat Nohl mit Hegel’s theologischen Jugendschriften gleichsam die Textbasis zur Jugendgeschichte Hegels8 Wilhelm Diltheys, seines „verehrten Lehrers“, nachgeliefert – diesen Zusammenhang betont Nohl ja gleich im ersten Satz seiner Vorrede. Und er sagt dort noch mehr, nämlich: Seine Ausgabe enthalte „alles, was uns von Hegels Niederschriften aus der ersten, größeren Hälfte seiner Entwicklungszeit, von 1790 – 1800, erhalten ist. Es fehlen“ – abgesehen von ein paar Kleinigkeiten – „nur die politischen Arbeiten, die ihn schon damals neben den philosophischen beschäftigten“ – denn Rosenkranz, Haym und Mollat hätten davon schon „das Nöthigste“ gegeben. Mit diesen dürren und auch nicht ganz zutreffenden Worten hat Nohl Diltheys Bild des jungen Hegel für die Hegel-Rezeption des 20. Jahrhunderts kanonisiert. Einwände dagegen sind nur spärlich vorgetragen worden, und sie konnten sich nicht gegen die kompakte Masse und die inhaltliche Attraktivität der Edition Nohls behaupten. Er schreibt deshalb auch – recht zuversichtlich –, daß selbst das „Auftauchen“ der von Rosenkranz noch erwähnten, seitdem aber verschollenen Arbeiten Hegels über Kants Metaphysik der Sitten und über Stewarts Staatswirtschaft seine Darstellung nicht „wesentlich umwerfen könnte“.
Nun gibt es leider keine Möglichkeit, diese Prognose zu überprüfen – denn diese Texte sind weiterhin verschollen, wahrscheinlich sogar willentlich vernichtet. Doch trotz des Fehlens vieler wichtiger Texte bietet die neue Edition ein sehr viel reicheres, farbigeres Gesamtbild. Sie hat ja tendenziell sämtliche Texte aus Hegels Frankfurter Zeit zu präsentieren – ohne inhaltliche Vorauswahl –, und dadurch verschieben sich die Akzente: weg von dem durch Diltheys Interpretation wie auch durch Nohls Edition vermittelten Eindruck, Hegel sei in Frankfurt ausschließlich mit religionsphilosophischen Arbeiten befaßt gewesen – ohnehin nicht mit „theologischen“, wie es in Nohls Titel heißt, obwohl er in seinem Vorwort von „philosophischen“ Arbeiten spricht. Es ist wichtig, daß unser Blick auf den Frankfurter Hegel nicht, wie bisher, von seinen religionsphilosophischen Arbeiten absorbiert wird – er hat eben nicht nur Abraham und Jesus im Blick gehabt.
Die kritische Edition gibt auch Hegels politischen Studien Raum – schon dadurch, daß sie den im Manuskript vorliegenden Anfang seiner Flugschrift über die staatsrechtlichen Verhältnisse seines Heimatlandes Württemberg und auch die von Rudolf Haym überlieferten Fragmente dieses Textes aufnimmt. Hegels Heimat, das Herzogtum Württemberg, ist damals ja politisch recht unruhig gewesen – politisch eingezwängt zwischen dem konservativen Österreich (und dem österreichischen Baden) und dem revolutionären Frankreich. Und es scheint, daß gerade Frankfurt in diesen Spannungen eine nicht unwichtige Rolle zugefallen sei: Man war nicht so weit entfernt von Stuttgart, in der Freien Reichsstadt jedoch sicher vor dem Zugriff der Württembergischen Häscher, und zudem nahe bei Homburg, wo sich ja auch bekannte revolutionär gesinnte Köpfe aufhielten (Franz Wilhelm Jung, Isaac von Sinclair), und vor allem: nahe bei dem damals mehrfach französisch besetzten Mainz. Aus Protokollen von Verhören wissen wir jetzt, daß Hegel aus Frankfurt zumindest einen Brief von Württembergischen Revolutionären an den Französischen Außenminister und an Abbé Sieyès weitergeleitet hat, und Hegel wäre wohl nicht mit einer solchen Mission betraut worden, wenn er sich nicht auch sonst in diesem Bereich engagiert hätte. So hat er wohl auch die Frau eines aus politischen Gründen in Württemberg Inhaftierten von Frankfurt aus ins französische Mainz begleitet.
Leider reichen die Quellen nicht aus, um das Ausmaß von Hegels politischem Engagement, von seiner Verstrickung in konspirative Tätigkeiten zu erkennen; dies sind ja Dinge, die damals mit gutem Grund nicht an die große Glocke gehängt worden sind – und so bleibt abzuwarten, ob weitere Recherchen noch weitere Einsichten zutage fördern. Hierzu bedarf es noch weiterer Recherchen – und vor allem: glücklicher Funde. Aber wenn sogar Hegels Schwester Christiane innerhalb des gemeinsamen Freundeskreises in konspirative Tätigkeiten verwickelt gewesen ist,9 so wird er selber keine Nebenrolle gespielt haben. Freilich kann die Aufnahme der wenigen überlieferten Fragmente hier nur als ein ‚Pfahl im Fleisch‘ wirken – und doch: Man liest auch die staatskirchenrechtlichen Partien der religionsphilosophischen Texte genauer, wenn man sie vor dem Hintergrund seines politischen Interesses liest.
Eine gravierende Akzentverschiebung gegenüber dem von Nohl vermittelten Bild ergibt sich sodann aus der Aufnahme von Hegels Übersetzung der Flugschrift Jean Jaques Carts: der Vertraulichen Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältniß des Waadtlandes zur Stadt Bern.10 Diese Schrift ist erst zwei Jahre nach Nohls Edition wiederentdeckt worden – und auch wenn es sich bei ihr „nur“ um eine Übersetzung handelt, so weiß doch jeder, der sich einer solchen Aufgabe einmal unterzogen hat, daß das Engagement, das derartige Übersetzungen erfordern, schwerlich hinter der Ausarbeitung eigener Entwürfe zurückbleibt. Und ohnehin handelt es sich hier auch nicht um eine ‚bloße‘ Übersetzung: Hegel wählt aus, er läßt weg oder akzentuiert durch eigene Kommentare – und dabei verschärft er den keineswegs zaghaften, sondern bitter anklagenden Ton des Originals noch um etliches: Die Berner Aristokratie – weit entfernt davon, als Beispiel eines demokratischen Staatswesens zu dienen! – wird hier geradezu an den Pranger gestellt. Auch wenn Hegel sich ohne den persönlichen Hintergrund seiner Berner Zeit wohl nie zu dieser kommentierten Übersetzung entschlossen hätte: Mit ihrer Publikation – seiner ersten Publikation überhaupt! – befreit er sich nicht nur von dem psychischen Druck früherer Erlebnisse, sondern er stellt sein politisches Interesse und sein geschichtlich-politisches Wissen unter Beweis.
Man kann nicht darüber hinwegsehen, daß Hegel die Möglichkeit „zum Eingreifen in das Leben der Menschen“ (um das bekannte Wort aus seinem Brief an Schelling aufzugreifen) vornehmlich auf dem politischen Gebiet gesucht und auch genutzt hat. Daß er sie – nach der Cart-Schrift und der Württemberg-Schrift – gegen Ende der Frankfurter Jahre noch ein drittes Mal gesucht hat, mit seiner Schrift über die Verfassung Deutschlands, ist leider nicht Gegenstand der neuen Edition. Denn die frühen, noch aus Frankfurt stammenden Partien der Verfassungsschrift sind eng in das Ganze der erst in Jena (nahezu) vollendeten Schrift verwoben und deshalb in Band 5 der Hegel-Ausgabe veröffentlicht. Somit ist also der Anteil, den die politische oder staatsrechtliche Philosophie wie auch die politische Agitation in Hegels Frankfurter Arbeiten einnimmt, auch über den Rahmen der neuen Edition hinaus noch erheblich auszuweiten.
Aber auch die Hinzufügung der politisch-rechtsphilosophischen Arbeiten dieser Jahre zu den im weiten Sinne religionsphilosophischen erschöpft Hegels damaliges Interessenspektrum noch keineswegs. Ein weiteres, wenn auch wohl deutlich schmaleres Gebiet bilden seine „Geometrischen Studien“. Auch sie sind Nohl noch nicht bekannt gewesen; sie sind erst drei Jahrzehnte nach seiner Edition von Johannes Hoffmeister in den Dokumenten zu Hegels Entwicklung veröffentlicht worden.11 Sie nehmen zwar in der neuen Edition nur einen schmalen Raum ein, doch belegen sie Hegels intensive Auseinandersetzung mit der Geometrie Euklids – und die geringe Zahl der überlieferten Bogen erlaubt keinen sicheren Rückschluß auf den Umfang der Beschäftigung Hegels mit ihr. Überraschend ist zudem, daß er den Beginn seiner Reinschrift der „Geometrischen Studien“ auf „Mainz, den 23. September 1800“ datiert – denn genau einen Tag später, am 24. September 1800, beginnt er die Niederschrift der überarbeiteten Einleitung zu seinen Studien über die Positivität der Religion. – Dies ist übrigens ein sprechender Beleg dafür, daß Hegel seine Arbeiten auf so unterschiedlichen Gebieten wie dem Positivitätsproblem und der Geometrie nicht in markanter zeitlicher Trennung durchgeführt hat, sondern im unmittelbaren Nacheinander, ja sogar zeitlich...
Erscheint lt. Verlag | 20.11.2019 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe | Blaue Reihe |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Anthropologie • Ästhetik • Geschichtsphilosophie • Klassische Deutsche Philosophie • Politische Philosophie • Rechtsphilosophie |
ISBN-10 | 3-7873-3765-2 / 3787337652 |
ISBN-13 | 978-3-7873-3765-1 / 9783787337651 |
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