Leben im Leerlauf (eBook)
240 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-86598-4 (ISBN)
Birgit Langebartels ist Diplom-Psychologin und Leiterin Kids & Family Research beim Kölner Marktforschungsinstitut rheingold. Neben den Bereichen Kinder und Jugend forscht sie in den Gebieten Frauen, Familie, Gesellschaft/Kultur/Trends und Gesundheit. Sie ist zudem Gründerin der medizinisch-psychologischen Beratungsfirma mediccoach. Birgit Langebartels lebt mit ihrer Familie in Köln.
Vorwort
Jede Zeit bringt ihre eigenen Phänomene hervor, ihre eigenen Trends und typischen Ausprägungen. Jede Kultur hat spezifische Entwicklungsbilder, die Menschen als Anreiz und Orientierung nehmen, um ihren Alltag zu leben und zu gestalten. So verhält es sich auch mit Krankheiten. Es gibt so etwas wie Modeerscheinungen selbst bei Krankheiten, manche sprechen auch von Volkskrankheiten. Depression ist eine davon. Warum kann man sie als ein Phänomen unserer Zeit begreifen? Wie erleben Betroffene die depressive Erkrankung?
Fünf Millionen Menschen in Deutschland haben das Gefühl, samt ihrer Welt im Nichts zu versinken. Sie können scheinbar nichts dagegen ausrichten, können sich nicht wehren gegen diesen mächtigen Sog, der alles in sich hineinzieht – wie in ein schwarzes Loch, in dem man einfach verschwindet. Auch in der Physik spricht man von schwarzen Löchern; es gibt sie schon seit undenklichen Zeiten in unserem Universum. Und doch fangen wir erst allmählich an zu verstehen, was sie eigentlich sind und dass sie einen Sinn haben, auch wenn sich dieser dem Großteil der Menschen noch nicht erschließt.
Was wäre nun, wenn wir die Depression, jenes seelische schwarze Loch, das Menschen scheinbar zu verschlingen droht, ebenfalls zu ergründen versuchten und den in ihr verborgenen Sinn begreifbar machen würden? Wie wäre es, wenn wir Depression nicht nur als Geißel unserer Zeit ansähen, sondern ihre innere, verborgene Logik – ohne sie zu bewerten – aufzeigen und sie so verstehbarer machen könnten?
Gelingt uns das, lernen wir nicht nur etwas über die depressive Erkrankung, das Funktionieren unseres Seelenlebens, sondern auch über uns selbst und über die Gesellschaft, in der wir leben. Wenn wir Depression als eine Art Produktion, einen Ausdruck des Seelischen, verstehen und nicht als etwas schicksalhaft Gegebenes, das uns gleichsam »anfällt«, wenn wir begreifen, dass wir die Krankheit unbewusst selbst hergestellt haben und sie einen Sinn für uns hat, dann können wir – anders als beim physikalischen schwarzen Loch – auch Wege finden, die wieder aus ihr herausführen. Dann tun sich neue Möglichkeiten für uns auf und wir sind der Depression nicht ohnmächtig ausgeliefert.
Am rheingold Institut, an dem ich tätig bin, haben wir in den vergangenen Jahren diverse Studien zu ganz unterschiedlichen Themen durchgeführt – darunter auch Studien zur Depression – und dabei eine Vielzahl an Tiefeninterviews – Gesprächen – mit Menschen verschiedenster Personengruppen geführt. Bemerkenswert ist, dass in all diesen Gesprächen – also auch in solchen, die nicht direkt das Thema Depression fokussierten – ein roter Faden ersichtlich war. Die Menschen – und eben nicht nur die von einer depressiven Erkrankung betroffenen – leiden heutzutage unter denselben Nöten, haben die gleichen Sehnsüchte und sehen sich ähnlichen Herausforderungen gegenüber.
Daher möchte ich die Depression in einen Zusammenhang mit unserem derzeitigen gesellschaftlichen Klima stellen. Ich werfe deshalb auch einen Blick auf die übergreifenden kulturpsychologischen Entwicklungen, die das vermehrte Auftreten von Depression überhaupt erst begünstigen. Es wird also in einigen Abschnitten dieses Buches gar nicht um die Depression als solche gehen – denn viele der hier beschriebenen Phänomene betreffen uns alle, auch wenn wir nicht an einer Depression erkrankt sind.
Was aber macht unsere Kultur nun eigentlich aus? Was ermöglicht und verspricht sie uns und warum verlangt sie uns so viel ab? Wie sehen ihre Entwicklungsbilder aus, die Menschen als Orientierung für ihr Tun dienen? Welche Vorbilder dienen heute als Wegweiser?
Nun, wir leben in einer Zeit, in der vielfältigste, nie gekannte Möglichkeiten verheißen werden – nennen wir es »Multioptionalität«. Erziehung, Bildung, Gesellschaft, Medien: Alle rufen einem zu, dass alles machbar und möglich ist. Unsere deutsche Gesellschaft bietet uns heute unbeschreiblich viele Optionen, unser Leben zu gestalten. Wir verfügen über einen großzügigen Spielraum, wir können scheinbar alles erreichen, wenn wir nur wollen und genug dafür tun.
Anstatt uns für eine Richtung zu entscheiden oder Schwerpunkte zu setzen, geraten wir in eine besinnungslose Betriebsamkeit nach allen Seiten. Diese Betriebsamkeit spornt uns an, führt aber auch unweigerlich zu Überforderung. Die Vorstellung, uns unbegrenzter Möglichkeiten zu erfreuen, geht einher mit dem Glauben, alles sei realisierbar. Und sie erhebt den Anspruch der Perfektion – inklusive Glücksgarantie: Alles kann und soll gelingen. Uns wird suggeriert, selbstwirksam zu sein, und dadurch bekommen wir das Gefühl, alles unter Kontrolle haben zu können. Zugleich spüren wir große Umbrüche sozialer und auch politischer Natur, die uns die vermeintliche Sicherheit nehmen. Rollenbilder geraten ins Wanken. Systeme erweisen sich als instabil, es fehlt an neuen Orientierungsbildern. All dies führt zu Verunsicherung, Überforderung und Belastung bei vielen Menschen der heutigen Zeit.
Wir versuchen, uns und andere zu optimieren – so gut es geht und vielfach noch darüber hinaus. Wir wagen es nicht mehr, den Grad der Erschöpfung selbst zu markieren, sondern vertrauen eher auf unsere Fitnesstracker und digitalen Gesundheits-Apps, die uns darüber sicherer Auskunft zu geben scheinen als wir selbst. Diese »Machbarkeitskultur« offeriert weit mehr Optionen, als wir leben können. Ein Gefühl von Begrenztheit erlangt heute Seltenheitswert. In dem insbesondere durch die Digitalisierung befeuerten Machbarkeitswahn kennen wir kein Pardon, kein Ausweichen und keinen Müßiggang. Wir blenden aus, wie anstrengend das Erreichen all dieser Ziele, wie beschleunigt unser Leben geworden ist, dass wir kaum noch innehalten können und uns auf der Überholspur selbst abhandengekommen sind. Die schier unendliche Fülle an Möglichkeiten, mit der wir täglich konfrontiert sind, und die daraus resultierenden Ansprüche sind Segen und Fluch unserer fluide gewordenen Wirklichkeit.
Wir Menschen haben sehr unterschiedliche Formen entwickelt, um diesen Herausforderungen unserer Kultur zu begegnen. Eine davon – aber eben nur eine – ist die Depression. Was hat dieses Phänomen nun mit unserer Zeit der hochattraktiven Selbstwirksamkeit und Perfektion zu tun?
Auf den ersten Blick scheinen die Symptome und Kennzeichen einer depressiven Erkrankung doch so gar nicht ins Bild zu passen. Denn in der Depression haben Menschen das Gefühl, nichts mehr selbst in der Hand zu haben. Sie befinden sich im Leerlauf, werden geflutet von Gefühlen der Ohnmacht.
Nun, eine Depression ist mehr als eine Krankheit, die sich – versehen mit einer Diagnose-Nummer – in eine medizinische Klassifizierungsschublade stecken ließe. Depression ist eine Form – wenn auch eine sehr drastische und leidvolle – mit dem Alltag umzugehen, mit den übersteigerten Ansprüchen unserer kulturellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie zwingt uns zum Innehalten.
Wir Menschen verhalten uns nicht immer der rationalen Logik entsprechend, sind oft widersprüchlich und ambivalent in dem, was wir wollen und wie wir leben. Und doch zeigt sich ein »psycho–logischer« Sinn in all unserem Handeln, der sich uns nicht auf den ersten Blick erschließt, sondern erst nach intensiver Analyse.
Ich möchte das Seelenleben daher nicht in einzelne Elemente wie Denken, Fühlen, Wollen aufgliedern. Es ist dem seelischen Geschehen gerechter, wenn wir seinen dramatischen Wendungen, dem Drängen einer Handlung folgen. Wir spüren jeden Tag, wie wir beispielsweise eine Tätigkeit vorantreiben wollen, uns etwas anderes aber mehr in seinen Bann zieht und sich vielleicht dagegenstellt. Mitunter bekommen wir nicht direkt bewusst mit, dass der Alltag uns all unsere Kraft abverlangt und wir uns in dramatische Kämpfe hineinsteigern können, wenn wir beispielsweise beim Putzen einen regelrechten Feldzug antreten gegen alles Dreckige und allen Unrat dieser Welt. Oder wenn der Kleiderkauf eine buchstäbliche Anprobe nicht nur von Kleidung, sondern auch von verschiedenen Lebensentwürfen wird. Wenn uns aus dem Spiegel des Bekleidungsgeschäfts unser Selbst mal als diese, dann wieder als eine andere Persönlichkeit anschaut und wir uns einen Wimpernschlag lang fragen: »Was wäre eigentlich, wenn …?« Oder wenn wir ein wenig traurig gestimmt sind und uns die Suppe, die früher die Mutter uns kochte, auch heute noch Trost spenden kann. Dies alles ist nur ein Bruchteil dessen, was unserem täglichen Tun innewohnt. Das lässt uns auch verstehen, warum Kleidung, Ernährung oder auch Verrichtungen wie das Putzen oder Aufräumen eine so große Bedeutung für uns erlangen können.
Die Dramatik und...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
ISBN-10 | 3-407-86598-8 / 3407865988 |
ISBN-13 | 978-3-407-86598-4 / 9783407865984 |
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