Jenseits von Kohle und Stahl (eBook)
525 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76148-9 (ISBN)
In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde Westeuropa von einem beispiellosen Strukturwandel erfasst: Die Fabriken der alten Industrien verschwanden und vormals boomende Städte gerieten in die Krise. Was aber ist aus dem stolzen Industriebürger geworden? Welche Ideen und Ideologien begleiteten den Wandel? Am Beispiel der Industriearbeit in Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik erzählt Lutz Raphael die außerordentlich vielschichtige und spannende Geschichte der westeuropäischen Deindustrialisierung, die bis heute fortwirkt - als Vorgeschichte unserer postindustriellen Gegenwart. Dieses vieldiskutierte Buch hilft, sie zu verstehen.
<p>Lutz Raphael, geboren 1955, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, Gastprofessuren führten ihn u. a. nach Oxford und Paris. Er ist Mitglied sowohl der Mainzer Akademie der Wissenschaft und Literatur als auch der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 2013 erhielt er den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.</p>
9Einleitung:
Perspektiven einer Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom
Dieses Buch beschäftigt sich mit den Umständen und Folgen eines tiefgreifenden und krisenbeschleunigten Strukturwandels, der alle westeuropäischen Länder zwischen 1970 und 2000 erfasst hat. Hauptcharakteristikum dieses Wandels ist der vielgestaltige Rückgang des industriellen Sektors der jeweiligen Volkswirtschaften beziehungsweise Wirtschaftsräume, weshalb er gern als »Deindustrialisierung« bezeichnet und als Übergang von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft beschrieben wird. Vor allem die Fabriken der »alten« Industrien – Stahlwerke, Kohlezechen, Schiffswerften und Textilfabriken –, die in den Boom-Jahren des Wirtschaftswunders das Rückgrat dieser Volkswirtschaften gebildet hatten, verschwanden im Zuge dieses Transformationsprozesses und mit ihnen Millionen von Arbeitsplätzen; zugleich und mit der Schrumpfung industrieller Beschäftigung aufs Engste verknüpft kam es zu einer signifikanten Steigerung der Arbeitsproduktivität in diesem Sektor. Technologisch waren diese Jahrzehnte geprägt durch die Ausbreitung der elektronischen, das heißt computergestützten Datenverarbeitung in allen Bereichen der Industrieunternehmen, von der Produktion bis hin zum Kundenkontakt, was weitreichende Veränderungen nach sich zog. Insgesamt handelt es sich bei dem in diesem Buch beschriebenen Strukturwandel um einen langfristigen Trend, an den wir uns in Westeuropa wie an ein Naturgeschehen gewöhnt haben. Aus der Sicht des Historikers ist er einer jener Basisprozesse, vergleichbar mit der Zunahme der Lebenserwartung oder der Pluralisierung von Lebensformen.
Die sozialen Folgen dieses Prozesses waren zahlreich und gravierend. Mitte der 1970er Jahre bildeten Industriearbeiterinnen und 10Industriearbeiter in den meisten Ländern Westeuropas die mit Abstand größte Berufs- beziehungsweise Statusgruppe, während heute die meisten Menschen in den verschiedensten Dienstleistungsberufen arbeiten. Dies hat die westeuropäischen Gesellschaften tiefgreifend verändert, und die Turbulenzen dieser Umbrüche, die sich in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vollzogen haben, hallen bis heute nach. In allen drei Ländern, die ich in diesem Buch einer vergleichenden Untersuchung unterziehe – Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland –, begann der bis Anfang der 1970er Jahre rundlaufende Motor industriebasierter Vollbeschäftigung zu stottern und es kam zu einer Rückkehr von Massen-, insbesondere von Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit. Darüber hinaus wurde Fachwissen entwertet oder ganz neu definiert, mussten Berufskarrieren neu erfunden und Lebenspläne revidiert werden. Flexibilität wurde zum Zauberwort der Epoche.
Der »Abschied vom Malocher« war zugleich ein Abschied von jenen industriellen Zukünften, die noch um 1970 die kollektiven Fantasien in den westeuropäischen Gesellschaften beflügelt hatten. Diese entwarfen sich nun neu als »postindustrielle« oder »Dienstleistungsgesellschaften«, und zwar unter kräftiger Mitwirkung von Sozialwissenschaftlern, Politikberatern und Journalisten. Prompt setzte eine Selbsthistorisierung der Industriegesellschaft als eine abgeschlossene Phase der westeuropäischen Moderne ein: Die Einrichtung oder der Ausbau von Museen und Denkmälern der ersten Industrialisierung, ja mitunter die Musealisierung ganzer Regionen begleiteten den Strukturwandel.
11Eine Geschichte »von unten«
Wenn man den Spuren eines solchen langfristigen und umfassenden wirtschaftlichen Basisprozesses folgt, besteht die Gefahr, in ein Erzählmuster zu geraten, das sich der Rhetorik vom quasi naturhaften Sachzwang bedient, die Politiker und Zeitdiagnostiker – damals wie heute – bevorzugt verwenden, um ihre aktuellen pragmatischen Ziele mit geschichtsphilosophischem Blattgold zu ummanteln. Um dieser Gefahr zu entgehen, wähle ich in diesem Buch eine andere Erzählperspektive, die die Lebenslagen und Erfahrungswelten von Industriearbeiterinnen und -arbeitern in den Mittelpunkt stellt. Die Protagonisten meiner Gesellschaftsgeschichte industrieller Arbeit sind die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Meister und die Vorarbeiter, die sich in der öffentlichen Wahrnehmung immer mehr an den Rand gedrängt sahen und gewissermaßen aus dem Blickfeld gerieten, wenn über Zukunftschancen und Zukunftsrisiken diskutiert wurde. Der Vorteil einer solchen Perspektive für eine kritische Geschichtsschreibung liegt auf der Hand: Die »Kosten des Fortschritts«, also Prozesse sozialen Abstiegs, wachsende soziale Ungleichheit und Marginalisierung, kommen auf diese Weise leichter in den Blick, als wenn man die Perspektive derjenigen einnimmt, die als »Gewinner« aus dieser Umbruchphase hervorgegangen sind, beispielweise die Unternehmer und Beschäftigten in der IT-Branche und im Finanzsektor, in den Bereichen Marketing und Beratung sowie in Forschung und Entwicklung. Eine Sozialgeschichte aus der Perspektive dieser Gruppen würde zweifellos stärker, als dies hier geschieht, die durchaus eindrucksvollen Chancen und Potentiale einer neuen »postindustriellen« Ordnung Westeuropas herausstellen, böte aber wenig Einsichten in die Dynamik wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit, die mit den Umbrüchen verbunden waren und die seit der Jahrtausendwende immer deutlicher sichtbar geworden sind.
War das Thema der sozialen Ungleichheit Mitte der 1990er Jahre 12noch weitgehend aus den gesellschaftspolitischen Debatten in Westeuropa verschwunden, so kehrte es knapp 20 Jahre später und nicht zuletzt aufgrund der vielbeachteten Studien von Thomas Piketty mit Macht zurück1 – und mit ihm die allgemeine Aufmerksamkeit für die negativen sozialen Begleiterscheinungen der postindustriellen Ordnung. Plötzlich wurde sichtbar, wie gering die Teilhabechancen der vielen Vermögenslosen und Einkommensschwachen waren (und sind) und wie schlecht es um die soziale Anerkennung in ihren Berufen und Jobs, in der medialen Öffentlichkeit und im alltäglichen gesellschaftlichen Umgang stand (und steht). Nachzuzeichnen, wie sich dieser Aufwuchs an ökonomischer, politischer und sozialer Ungleichheit aus Sicht der »kleinen Leute« und ihrer Lebenswirklichkeit darstellte, ohne dabei die Gegenkräfte und institutionellen Schranken zu vernachlässigen, die mobilisiert und errichtet wurden, um den sozialen Folgen dieser Tendenz entgegenzuwirken, ist ein Ziel dieses Buches. Ein weiteres besteht darin, zum Verständnis der aktuellen Krise der liberalen Demokratie beizutragen. Heute sehen wir klarer, dass die Vorgeschichte dieser Krise in die Jahrzehnte jenes Umbruchs der westlichen Industriegesellschaften zurückführt, der mein Thema ist. Mit dem Strukturwandel veränderten sich auch die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen der westlichen Demokratien,2 und ich werde – wiederum aus der Perspektive »von unten« – untersuchen, ob sich diese Rahmenbedingungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter in einer Weise gewandelt haben, dass elementare Formen sozialer »Beziehungsgleichheit«3 erodierten.
13Eine Geschichte »von gestern aus«
Als die 1948 beginnenden »fetten Jahre« des Booms ein Vierteljahrhundert später in ganz Westeuropa endgültig vorbei waren, ereilte Teile der Industriearbeiterschaft dasselbe Schicksal wie einige Jahrzehnte zuvor die Handwerker und Bauern: Sie wurden noch zu ihren Lebzeiten Bestandteil einer zukünftigen Vergangenheit, ohne Perspektiven in der Gegenwart, geschweige denn in der Zukunft. Nur selten nehmen wir Historiker die Sichtweise solcher Akteure, die gewissermaßen von den Ereignissen überrollt wurden, ernst, wenn wir strukturelle Veränderungsprozesse verstehen wollen. Ich werde in diesem Buch die zuvor beschriebene Perspektive »von unten« mit einer weniger vertrauten Perspektive »von gestern aus« verknüpfen und in diesem Sinne versuchen, gegen eine Berufskrankheit anzuschreiben, welche insbesondere die gegenwartsnahe Sozialgeschichte immer wieder befällt: dem soziologischen Blick auf zukunftsweisende Trends zu folgen und auf diese Weise vor allem die Anfänge des Neuen in den sozialen...
Erscheint lt. Verlag | 13.5.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
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ISBN-10 | 3-518-76148-X / 351876148X |
ISBN-13 | 978-3-518-76148-9 / 9783518761489 |
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