Alles an seinem Platz (eBook)
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05771-5 (ISBN)
Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City. Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings - Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move».
Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City. Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings – Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move». Hainer Kober, geboren 1942, lebt in Soltau. Er hat u.a. Werke von Stephen Hawking, Steven Pinker, Jonathan Littell, Georges Simenon und Oliver Sacks übersetzt.
Erinnerungen an South Kensington
Solange ich zurückdenken kann, habe ich Museen geliebt. Immer haben sie eine zentrale Rolle in meinem Leben gespielt, indem sie meine Phantasie anregten und mir die Ordnung der Welt in lebhafter, konkreter Weise vor Augen führten, wenn auch in verkleinertem Maßstab, en miniature. Aus dem gleichen Grund schätze ich Botanische Gärten und Zoos: Sie zeigen einem die Natur, aber eine klassifizierte Natur, die Taxonomie des Lebens. Bücher sind nicht real in diesem Sinn, sie sind nur Wörter. Museen präsentieren reale Exemplare der Natur in sinnreicher Anordnung.
Die vier großen South-Kensington-Museen – alle auf demselben Stück Land gelegen und im gleichen hochviktorianischen Barock erbaut – wurden als eine Einheit mit vielen Aspekten konzipiert, als Versuch, Naturgeschichte, Naturwissenschaft und Kulturgeschichte öffentlich und für jedermann zugänglich zu machen.
Die South-Ken-Museen waren (zusammen mit der Royal Institution und ihren beliebten Weihnachtsvorträgen) eine einzigartige viktorianische Bildungseinrichtung, die für mich heute noch, wie in meiner Kindheit, der Inbegriff des Museums sind.
Es gab das Natural History Museum, das Geology Museum, das Science Museum und das Victoria and Albert Museum, das der Kulturgeschichte gewidmet war. Da ich der naturwissenschaftliche Typ war, ging ich nie ins V&A, aber die anderen drei waren für mich ein einziges Museum, das ich ständig aufsuchte, an freien Nachmittagen, an Wochenenden, in den Ferien, wann immer ich konnte. Ich litt darunter, dass ich ausgesperrt war, wenn sie geschlossen wurden, und eines Nachts gelang es mir, im Natural History Museum zu bleiben, indem ich mich in dem Saal der fossilen Wirbellosen versteckte (der nicht ganz so gut bewacht war wie der Dinosauriersaal oder die Wale). Ich verbrachte eine verzauberte Nacht ganz allein in dem Museum und wanderte mit einer Taschenlampe von Saal zu Saal. Während ich so in der Nacht herumstreifte, wurden vertraute Tiere plötzlich schrecklich und unheimlich, wenn ihre Gesichter plötzlich aus der Dunkelheit auftauchten oder wie Geister an der Peripherie des Lichtkegels schwebten. So ganz ohne Licht hatte das Museum etwas von einem Fiebertraum, und ich war nicht wirklich traurig, als der Morgen dämmerte.
Ich hatte viele Freunde im Natural History Museum – Cacops und Eryops, riesige fossile Amphibien, in deren Schädel sich ein Loch für ein drittes Auge befand, das Scheitelauge; die Würfelqualle Charybdea, die niederste Tierart mit Nervenganglien und Augen; die herrlichen Braunglasmodelle von Strahlentierchen und Sonnentierchen – aber meine tiefste Liebe, meine besondere Leidenschaft gehörte den Kopffüßern, von denen es dort eine prachtvolle Sammlung gab.
Stundenlang konnte ich mich in den Anblick der Tintenfische vertiefen: von Sthenoteuthis caroli, 1925 an der Küste Yorkshires gestrandet, oder des exotischen pechschwarzen Vampirtintenfischs (leider nur als Wachsmodell vertreten), eine seltene Tiefseeart mit schirmartigen Häuten zwischen den Armen, in deren Falten glänzende Sterne leuchteten. Und natürlich: Architeuthis, der Riesenkalamar, der Herrscher aller Tintenfische, in tödlicher Umarmung mit einem Wal.
Doch meine Aufmerksamkeit galt nicht in erster Linie den riesigen oder exotischen Exemplaren. Meine besondere Vorliebe gehörte den Ausstellungen der Insekten und Mollusken, der Möglichkeit, die Schubladen unter den Vitrinen zu öffnen und all die verschiedenen Spielarten zu betrachten, die Merkmale einer einzigen Art oder Muschel, und zu erfahren, wo jede Varietät ihren eigenen geographischen Standort hatte. Ich konnte nicht wie Darwin zu den Galápagos reisen und die Finken auf den einzelnen Inseln miteinander vergleichen, aber mir stand im Museum die zweitbeste Möglichkeit offen. Ich konnte ein virtueller Naturforscher, ein imaginärer Reisender sein, mit einer Fahrkarte für die ganze Welt, ohne South Kensington zu verlassen.
Als die Museumsangestellten mich kannten, wurde ich durch eine verschlossene, massive Tür in die der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Räume des neuen Spirit Building gelassen, wo man Exemplare aus der ganzen Welt in Empfang nahm, sie untersuchte, sezierte, neue Arten identifizierte – und sie gelegentlich für Sonderausstellungen präparierte. (Eines war ein Quastenflosser, der gerade entdeckte «letzte noch lebende fossile Fisch» Latimeria, ein Geschöpf, von dem man geglaubt hatte, es sei seit der Kreidezeit ausgestorben.) Bevor ich nach Oxford ging, verbrachte ich endlose Tage im Spirit Building; mein Freund Eric Korn hielt sich dort ein ganzes Jahr lang auf. Damals waren wir alle vernarrt in die Taxonomie – waschechte viktorianische Naturforscher.
Ich liebte das altmodische Glas-und-Mahagoni-Ambiente des Museums und war empört, als man dem Haus während meines Studiums in den 1950er Jahren ein modernes, aufdringliches Outfit verpasste und dort trendige Ausstellungen veranstaltete. (Am Ende wurden sie sogar interaktiv.) Jonathan Miller, ein anderer Freund, teilte meinen Widerwillen und meine Nostalgie. «Ich sehne mich nach dieser sepiafarbenen Epoche zurück», schrieb er mir einmal. «Was gäbe ich drum, wenn dieser Ort plötzlich wieder in die körnige Einfarbigkeit von 1876 getaucht würde.»
Das Natural History Museum lag in einem wunderhübschen Garten, der beherrscht wurde von Sigillaria-Stämmen, einer lange ausgestorbenen fossilen Baumart, und einer Sammlung von Kalamiten. Mein Herz hing mit fast schmerzlicher Intensität an der fossilen Botanik; wenn sich Jonathan nach der körnigen Monochromie von 1876 zurücksehnte, so war ich der grünen Einfarbigkeit der Farn- und Palmwedelwälder des Jura verfallen. Als Jugendlicher träumte ich sogar nachts von riesigen Bärlapp- und Schachtelhalmbäumen, von Urwäldern aus riesigen Nacktsamern, die den Globus umspannten – um dann zornig mit dem Gedanken aufzuwachen, dass sie seit langem verschwunden waren und den bunten, gefälligen Blütenpflanzen unserer Zeit Platz gemacht hatten.
Von dem jurassischen Fossiliengarten des Natural History Museum waren es knapp hundert Meter zum Geology Museum, in das sich, soweit ich sehen konnte, praktisch nie Besucher verirrten. (Leider gibt es das Museum nicht mehr; seine Sammlung ist dem Natural History Museum einverleibt worden.) Für das kundige, geduldige Auge war es voller außergewöhnlicher Schätze und stiller Freuden. Da gab es einen riesigen Kristall, einen Stibnit (Antimonsulfid) aus Japan. Er war einen Meter achtzig hoch, ein kristalliner Phallus, ein Totem, das mich auf eine besondere, fast ehrfurchteinflößende Weise faszinierte. Ein Phonolith, ein Klangstein, stammte vom Devils Tower in Wyoming; als die Museumswärter mich kannten, durfte ich ihn mit der Handfläche anschlagen, er gab einen dumpfen, aber gongartigen, widerhallenden Ton von sich, als hätte man gegen den Resonanzboden eines Klaviers geschlagen.
Mir gefiel die Atmosphäre dieser unbelebten Welt – die Schönheit der Kristalle, die Vorstellung ihrer Vollkommenheit, ihres Aufbaus aus identischen Atomgittern. Aber auch wenn sie vollkommen waren, gestaltgewordene Mathematik, so erregten sie mich doch mit ihrer sinnlichen Schönheit. Stundenlang starrte ich versunken auf die blassgelben Schwefelkristalle und lilafarbenen Fluoritkristalle – verschachtelt, kostbar, wie eine Meskalin-Vision – und, das andere Extrem, die seltsamen «organischen» Formen des Blutsteins, die so sehr wie die Nieren von Riesentieren aussahen, dass ich mich einen Augenblick lang fragte, ich welchem Museum ich sei.
Aber am Ende ging ich stets zurück ins Science Museum, denn das hatte ich als Erstes kennengelernt. Manchmal war meine Mutter vor dem Krieg mit meinen Brüdern und mir hierhergekommen, als ich noch ein Kind war. Sie führte uns durch die verzauberten Ausstellungsräume – die frühen Flugzeuge, die Maschinen der industriellen Revolution, die riesig wie Dinosaurier waren, die alten optischen Geräte – zu einem kleinen Raum ganz oben, wo sich der Nachbau eines Kohlestollens mit Originalausrüstung befand. «Schaut mal!», sagte sie dann und lenkte unseren Blick auf eine alte Grubenlampe. «Die hat mein Vater, euer Großvater erfunden!», sagte sie, und wir beugten uns vor und lasen: «Die Landau-Lampe. 1869 von Marcus Landau erfunden. Sie hat ihre Vorgängerin, die Humphry-Davy-Lampe, ersetzt.» Immer wenn ich das las, verspürte ich eine eigenartige Erregung und so etwas wie eine Verbindung mit dem Museum und meinem Großvater (1837 geboren und schon lange tot), das Gefühl, dass er und seine Erfindung noch irgendwie real und lebendig seien.
Aber die eigentliche Offenbarung im Science Museum wurde mir zuteil, als ich zehn war: Oben im fünften Stock entdeckte ich das Periodensystem – keine dieser modernen Spiralen, dieser hässlichen, kleinen Dinger, sondern ein stabiles Rechteck, das eine ganze Wand einnahm, mit einem eigenen Kästchen für jedes Element und, wenn möglich, einer Probe des Elements: Chlor, grün-gelb; waberndes braunes Brom; pechschwarze (aber violett verdampfende) Jodkristalle; schwere, sehr schwere Urankugeln und in Öl schwimmende Lithium-Pillen. Sie hatten sogar Proben von den Inertgasen (oder «Edelgasen», zu edel, um sich mit anderen zu verbinden): Helium, Neon, Argon, Krypton, Xenon (aber kein Radon – ich vermute, weil es zu gefährlich war). In ihren versiegelten Glasröhrchen waren sie natürlich unsichtbar, aber man wusste, dass sie da waren.
Die tatsächliche Anwesenheit der Elemente verstärkte den Eindruck, dass es sich tatsächlich um die Bausteine...
Erscheint lt. Verlag | 19.11.2019 |
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Übersetzer | Hainer Kober |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Alzheimer • Biografie • Demenz • Depression • Erinnerungen • Essays • Fallgeschichten • Krebstpatient • Medizin • Memoiren • Naturwissenschaft • Neurobiologie • Neurologie • Neuropsychologie • Psychologie • Tourette-Syndrom |
ISBN-10 | 3-644-05771-0 / 3644057710 |
ISBN-13 | 978-3-644-05771-5 / 9783644057715 |
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